Dezember 2024 | »Reisefreiheit wiederhergestellt«. Zur Lage auf den Migrationsrouten in Tunesien und Niger (Interview)

Erstmalig erschienen in taz-Beilage Afrique-Europe-Interact im Dezember 2024

2014 und 2017 haben sich Mitglieder von Afrique-Europe-Interact an der Gründung des Watch the med Alarm Phone (Mittelmeer) und des Alarme Phone Sahara beteiligt – beides Projekte, die Migrant*innen in Not unterstützen und europäische Migrationspolitik sowohl auf dem Meer als auch in der Wüste kritisch dokumentieren bzw. skandalisieren. Vor diesem Hintergrund hat eine 12-köpfige Delegation von Afrique-Europe-Interact mit Aktivist*innen aus Niger, Mali, Sierra Leone, Deutschland und Österreich im Oktober 2024 am 10-jährigen Jubiläum des Watch The med Alarm Phone in Dakar teilgenommen – mit rund 160 Leuten aus zahlreichen europäischen und afrikanischen Ländern (vgl. Infobox). In diesem Zusammenhang ist auch folgendes Interview mit Rayhan Jlidi, aktiv in der Solidarität mit Migrant*innen im Süden Tunesiens und Azizou Chéhou, tätig als Koordinator des Alarme Phone Sahara, entstanden.

Welche Veränderungen im Migrationsbereich beobachtet ihr in Niger bzw. in Tunesien?
Azizou Chéhou: Im Niger hat die Machtübernahme durch das Militär die Aufhebung des Gesetzes 2015-36 ermöglicht, das migrationsbezogene Tätigkeiten unter Strafe stellte. Wir begreifen das auch als Erfolg unserer zivilgesellschaftlichen Kämpfe. Denn die Aufhebung des Gesetzes durch eine Verordnung im November 2023 bedeutete eine Verbesserung sowohl für die lokale Bevölkerung als auch für die Migrant*innen. Heute können wir sagen, dass die Reisefreiheit wiederhergestellt ist, auch wenn manches noch korrigiert werden muss. So werden an den Kontrollposten nicht selten irreguläre Zahlungen von den Menschen verlangt, die Richtung Norden reisen.

Und wie reagieren die Maghreb-Staaten auf diese neue Dynamik?
Rayhan Jlidi : Nur wenige Migrant*innen wollen in Tunesien bleiben. Die meisten begeben sich direkt nach Sfax, eine Stadt im Süden, die in Tunesien zur wichtigsten Station für die Reise nach Europa geworden ist. Doch darauf wird mit willkürlichen Abschiebungen an den Grenzen reagiert, auch mit Gewalt, sogar auf dem Meer – unter anderem mit Gasgranaten, Knüppeln, Misshandlungen, dem Rammen oder Umkippen von Booten oder der Konfiszierung von Motoren. Kleine zivilgesellschaftliche Vereine, die seit 2011 das Rückgrat für die Unterstützung von Migrant*innen bildeten, wurden in letzter Zeit vom tunesischen Staat kriminalisiert, sodass viele Aktivist*innen im Gefängnis landeten.

Und was passiert mit festgenommenen Menschen?
Rayhan Jlidi : Sie werden an die Grenze gebracht, einige werden auch inhaftiert, oft unter dem Vorwurf, Schlepperei unterstützt oder begünstigt zu haben. Wichtig ist jedoch, dass Abschiebungen nicht nur Personen betreffen, die beim Versuch abgefangen werden, mit Booten über das Meer zu gelangen, sondern auch solche, die in einem Café sitzen oder morgens auf Arbeitssuche gehen und von der Polizei angehalten werden. Manchmal bringen sie die Menschen direkt in die Wüste, manchmal warten sie, bis alle in Sfax und Tunis Festgenommenen eingetroffen sind. Früher wurden sie in ein Haftzentrum in Medenine gebracht, später in ein weiteres in Ben Gardane. Dort müssen sie zwei, drei Tage verbringen, maximal eine Woche, bevor sie in die Wüste abgeschoben werden. Oft nehmen die Sicherheitskräfte den Migrant*innen auch das Telefon weg, damit diese nicht filmen können, oder das Geld, damit sie nicht zurückgehen können. Und einige zwingen sie sogar sich auszuziehen.

Welche Auswirkungen haben solche Abschiebungen auf Niger?
Azizou Chéhou: Durch die regelmäßigen Abschiebungen ist die Einwohner*innenzahl in Assamaka, Arlit, Agadez sowie in der Hauptstadt Niamey enorm angewachsen. Das wirkt sich auch auf die Gesundheitsversorgung sowie die Hygiene- und Sanitärbedingungen aus. Und auch auf das Bildungssystem, denn es gibt viele, die bleiben, sodass ihre Kinder ebenfalls zur Schule gehen. Zudem steigt der Bedarf an Unterkünften und Transportmöglichkeiten. All das macht die Abgeschobenen unweigerlich sehr, sehr verletzlich.

Wie gelangen Abgeschobene überhaupt von Tunesien nach Niger –die Länder haben ja keine gemeinsame Grenze?
Azizou Chéhou: Für Abschiebungen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder schickt Tunesien sie nach Algerien oder Libyen. In Algerien herrscht ein Ausnahmezustand, was Menschenrechtsverletzungen angeht. Wo auch immer die Migrant*innen sich aufhalten, sie werden gesammelt und in großen Städten wie Oran, Algier oder Tamanrasset zusammengepfercht, um sie sodann nach Inguizame zu bringen, dem letzten Ort auf algerischer Seite. An der Grenze selbst werden sie überwiegend zum Point Zéro im Niemandsland zwischen Algerien und Niger transportiert – 15 Kilometer vom ersten Dorf Assamaka entfernt. Wenn sie dann Assamaka erreichen, findet eine Auswahl statt, bei der die Personen nach ihrer Herkunft registriert werden. Die Ausgewählten werden in Aufnahmezentren gebracht, unter anderem von der IOM, der Interational Organisation for Migration. Die anderen bleiben fürs Erste in der Warteschleife und sind dabei jedem erdenklichen Wetter wie Hitzewellen, extremer Kälte oder Wüstenwind ausgesetzt. Manchmal werden von Agadez aus auch Charterflüge nach Nigeria, in den Senegal oder nach Burkina Faso organisiert. Das hängt vom Engagement der Behörden in den Herkunftsländern der Migrant*innen ab.
Rayhan Jlidi : Abschiebungen gab es schon vorher, aber sie haben sich nach der Unterzeichnung des Abkommens zwischen Italien und Tunesien verstärkt. Sie fangen die Menschen nicht nur auf tunesischem Territorium ab. Sie kommen sogar bis auf italienisches Territorium, um Menschen zurückzuholen.

Wie reagieren humanitäre Organisationen?
Rayhan Jlidi : Wir selbst können vor allem zuhören und beraten. Der einzige Dienst, der derzeit gut funktioniert, ist der psychologische Dienst und der Gesundheitsdienst, beides wird gemeinhin von Ärzt*innen geleistet. Demgegenüber sind dem Roten Halbmond und der IOM die Hände weitgehend gebunden.

Und wie hängen die politischen Entwicklungen im Niger und Tunesien zusammen?
Azizou Chéhou: Nach dem Sturz des alten Regimes unter Präsident Mohamed Bazoum am 27. Juli 2023 und der Aussetzung etlicher Abkommen zwischen dem Niger und der Europäischen Union bzw. einzelnen Ländern wie Frankreich, Deutschland, Italien und den USA war es naheliegend, dass die Europäische Union versuchen würde, einen anderen Ansprechpartner für migrationspolitische Maßnahmen in Afrika zu finden. Was in Tunesien unter Präsident Kais Saied Migrant*innen angetan wird, ist also die Umsetzung des Willens der Europäischen Union. Es ist offensichtlich, dass Kais Saied eine Mission hat, eine bestellte Mission.

Welche Initiative fordert Ihr angesichts dieser Situation von uns?
Rayhan Jlidi : Wir fordern alle auf, unsere Botschaft zu verbreiten. Denn wir werden weitermachen, wir werden nicht mehr aufhören mit dem, was wir schon vor Jahren begonnen haben. Ob zwei Wochen oder zwei Jahre, die Menschenrechtsverletzungen werden aufhören. Dessen sind wir uns sicher!

Auf unserer Webseite findet sich u.a. ein Video (15 min) zu abgeschobenen Migrant:innen in Tunesien