20. März 2022 | Stellungnahme zu den transnationalen Folgen des Kriegs in der Ukraine auf die Nahrungsmittelunsicherheit in vielen afrikanischen Ländern
Nein zum Freihandelsregime! Solidarische Praxis für ein Recht auf Ernährungssouveränität! Lokale, kleinbäuerliche Landwirtschaft stärken! Hungerkrisen aktiv vorbeugen! WTO-Waiver 2.0!
Eine solidarische Praxis gegen die Folgen des Krieges in der Ukraine muss über den Tellerrand des eigenen Kontinents hinausschauen und auch beinhalten, die Folgen des Krieges auf Ernährungsunsicherheit und Hunger aktiv abzufedern.
Unser Netzwerk hat sich kürzlich in zwei Presseerklärungen vom 01. und 05. März 2022 Grenzkontrollen und rassistischem Ausschluss bei der Aufnahme von Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine geäußert [1].
Jedoch reichen die Folgen des Kriegs in der Ukraine weit über die Grenzen des europäischen Kontinents hinaus, wie wir mit diesem Statement aufzeigen wollen. Beide Kriegsparteien, Russland und die Ukraine, gehören zu den weltweit größten Weizenexporteuren. Viele Staaten im globalen Süden, einschließlich der Länder, in denen unser Netzwerk aktiv ist, sind von Weizenimporten abhängig, wovon oft erhebliche Teile aus der Ukraine und Russland stammen [2]. Ihre Versorgungslage ist nun akut bedroht. Durch das Wegfallen der ukrainischen und russischen Weizenimporte hat der globale Preis für Weizen bereits jetzt einen Rekordstand erreicht [3].
Dieser Umstand stellt eine Bedrohung insbesondere für ärmere städtische Bevölkerungsschichten dar, die in Ländern leben, in denen viele Weizenprodukte konsumiert, aber nicht im eigenen Land angebaut werden. Beispielsweise in Tunesien werden Weizenprodukte in den Supermärkten bereits jetzt rationiert, weil viele Menschen Produkte aus Weizen in Voraussicht auf eine Knappheit zu horten begonnen haben. Im Vergleich zu den von Weizenimporten stark abhängigen Maghreb-Staaten, muss sich Deutschland, welches einen hohen Anteil an Eigenversorgung aufweist, eher keine Sorgen machen [4]. Dies sollte jedoch kein Grund sein, tatenlos zuzusehen, wie sich Lebensmittel anderswo verknappen, sondern uns stattdessen zu internationaler Solidarität anhalten.
Abhängigkeiten von Nahrungsmittelimporten sind unter anderem eine Folge des globalen Freihandelsregimes. Letzteres hat viele afrikanische Länder nach erfolgreicher Zerstörung oder zumindest Schwächung [5] der lokalen Märkte für Lebensmittel in die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten gedrängt [6]. In Krisenzeiten wie dem Krieg in der Ukraine, der Covid19-Pandemie, der Klimakrise und/oder Wirtschaftskrisen tritt das Risiko einer solchen Nahrungsmittelabhängigkeit zwar besonders drastisch zutage, jedoch weist das Modell ebenso zu scheinbaren „nicht-Krisen-Zeiten“ schwerwiegende Nachteile auf. Denn je mehr (meist hoch subventionierte) Lebensmittel aus dem Ausland importiert werden, desto mehr werden ländlicher Ackerbau und Viehwirtschaft von den lokalen Märkten verdrängt. So wird Landflucht, die nicht selten in städtischer Armut und Perspektivlosigkeit mündet, quasi vorprogrammiert.
Die Entschuldung Anfang der 2000er Jahre war an drakonische Bedingungen gekoppelt – beispielsweise ging sie mit einem Verbot von der Lagerung von Grundnahrungsmitteln in Niger einher oder mit der Auflage, Subventionen für Grundnahrungsmittel abzubauen. Und dies hat Spuren bis heute hinterlassen, denn vieles, was damals zerschlagen wurde, konnte nie wiederaufgebaut werden.
Das Ziel der Ernährungssouveränität wird von vielen bäuerlichen Bündnissen und Bewegungen geteilt. Auch Gruppen aus unserem eigenen Netzwerk verschreiben sich dem Ziel der Ernährungssouveränität, so z.B. das ökologische Künstler*innendorf Faso Kele in Guinea oder die bäuerliche Kooperative Luzolo lua toma unseres langjährigen Mitstreiters Victor Nzuzi in der Demokratischen Republik Kongo [7]
Schon einmal konnte Ernährungssouveränität maßgeblich über eine protektionistische Handelspolitik hergestellt werden, im Burkina Faso der 1980er Jahre unter der nur vierjährigen Präsidentschaft von Thomas Sankara [8]. Dies geschah jedoch vor der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) und unter politischer Ausschlagung von Strukturanpassungsprogrammen, und somit in einem Kontext, indem der Handlungsspielraum für die Anwendung protektionistischer Handelspolitik noch deutlich größer war, als er es heutzutage ist. Eine der unter Sankara angewandten handelspolitischen Maßnahmen war es, einen Mindestanteil an lokalem Getreide festzulegen für die Produktion von Brot und Bier im Land. Nun, wo Weizenimporte einbrechen werden, wäre der Moment günstig, um lokale Mehlalternativen, wie z.B. Mehl aus Hirse, Mais oder Maniok politisch zu fördern.
Um eine solche Ernährungssouveränität (und damit Politik des Widerstands gegen die ökonomische Ausbeutung durch das Freihandelsregime) anzustreben, brauchen wir einen Ausnahmezustand bzw. Waiver von denjenigen Regeln der Welthandelsorganisation (und der sich darauf berufenden multilateralen Freihandelsabkommen wie den EPAs und dem Post-Cotonou Abkommen), die dem Ziel der Ernährungssouveränität diametral entgegenwirken. Einen WTO Waiver, also eine Aufhebung eines bestimmten Paketes an WTO Handelsregeln haben wir zusammen mit vielen anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen im Rahmen der ‚make them sign‘-Kampagne bereits im Kontext von der Aufhebung von Patentrechten auf Corona-Impfstoffe und Medikamente gefordert [9]. Das gleiche Prinzip gerichtet an die gleiche internationale Organisation könnte auch im Kontext der befürchteten, sich aufgrund des Krieges in der Ukraine anbahnenden Hungerkrisen angewandt werden, um das Schlimmste abzuwenden.
Somit ist die Stärkung von lokaler, kleinbäuerlicher Produktion und lokalem Konsum von Lebensmitteln nicht nur in der Klimakrise wegweisend, sondern ebenso ein Instrument für Souveränität und gegen den Hunger. Am nachhaltigsten kann dem Ganzen nicht oder zumindest nicht nur über kurzfristige Nahrungsmittelhilfen, sondern über protektionistische, handelspolitische Maßnahmen begegnet werden. Um solche Maßnahmen ohne Sanktionen durchsetzen zu dürfen, bedarf es jedoch einer Anpassung bzw. Aussetzung der gegenwärtig geltenden in der WTO festgeschriebenen globalen Handelsregeln, eine Art WTO-Waiver 2.0. Wir müssen verhindern, dass durch den Krieg in Europa die Bevölkerungen afrikanischer Länder in eine Hungerkrise gestürzt werden!
Zur Vorbeugung potenzieller Hungerkrisen in afrikanischen Ländern und im Kampf gegen die dramatischen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Lebensmittelversorgung in jenen Staaten fordern wir:
- Eine globale solidarische Praxis, um die Folgen des Krieges auf Ernährungsunsicherheit und Hunger aktiv entgegenzuwirken;
- Eine Anpassung bzw. Aussetzung der gegenwärtig geltenden in der WTO festgeschriebenen globalen Handelsregeln, die im Konflikt mit dem Ziel der Ernährungssouveränität stehen;
- Ein Ende und keine Ausweitung weiterer Freihandelsabkommen (wie den EPAs und dem Post-Cotonou Abkommen), die zur Zerstörung bzw. Schwächung lokaler Lebensmittelmärkte in afrikanischen Staaten führen und diese von Lebensmittelimporten abhängig machen;
- Die politische Förderung lokaler Mehlalternativen;
- Die politische Förderung von lokal produziertem Bio-Dünger (Subventionen für den Verkauf von Bio-Dünger und -produkten, Ausbildungsangebote in der Bio-Düngerproduktion und -landwirtschaft);
- Vorrang des Rechts auf Nahrung und bestenfalls auf Ernährungssouveränität vor jeglichen Ideen von Freihandel;
- Ein vorausschauendes Reagieren auf potenzielle Hungerkrisen, anstatt zu warten, bis es bereits zu spät ist.
Bei Rückfragen erreichen Sie uns unter info@afrique-europe-interact.net.
Fußnoten
[1] 01. März: Erklärung von Afrique-Europe-Interact zu rassistischen Kontrollen bei der Flucht aus der Ukraine https://afrique-europe-interact.net/2116-0-Ukraine-Kein-Rassismus-an-der-Grenze.html ; 05. März: Für die Aufnahme aller Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine! Nein zu rassistischem Ausschluss! https://afrique-europe-interact.net/2118-0-Ukraine-Fr-das-Recht-auf-Flucht-fr-alle.html
[2] Auch wegfallende Ölexporte, insbesondere von Russland, haben transnationale Auswirkungen und tragen direkt zur Verteuerung von Lebensmitteln bei, da die meisten Nahrungsmittel mit PKWs oder LKWs durch die Länder transportiert werden. Ebenso werden die wegfallenden Exporte von Düngemitteln aus der Ukraine und aus Russland viele Bäuer*innen vor große Herausforderungen stellen, da vielerorts gangbare Alternativen fehlen.
[3] https://taz.de/Folgen-des-Ukrainekriegs-in-Ostafrika/!5839961/
[4] https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-kaempfen-statt-weizen-saeen-dlf-05a927a5-100.html
[5] Dies gilt sowohl für den Fall, dass das gleiche Produkt sowohl lokal als auch importiert angeboten wird, als auch für den Fall, dass vorher nicht lokal konsumierte Lebensmittel u.a. durch ihr billiges Angebot Eingang in lokale Essenskulturen gefunden haben. Manche afrikanischen Staaten produzieren zusätzlich zu Importen auch selbst Weizen (in größerer Menge v.a. Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten und Äthiopien), in anderen wie Senegal wird zwar Baguette gefrühstückt (ein Überbleibsel der französischen Kolonialzeit), jedoch kein Weizen selbst produziert. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e5/Production_of_wheat_%282019%29.svg
[6] siehe z.B. die Lage in Kamerun nach der Implementierung der EPA Freihandelsabkommen https://www.youtube.com/watch?v=1TTVGV8w5cU
[7] In unserer jüngsten AEI-Zeitung findet sich ein Interview mit Aktivist*innen beider Gruppen: https://afrique-europe-interact.net/files/aei-zeitung_2021_22.pdf
[8] https://www.filmsforaction.org/watch/thomas-sankara-the-upright-man-2006/
[9] Siehe auch den Redebeitrag unseres Mitstreiters Victor Nzuzi: https://afrique-europe-interact.net/2072-0-Redebeitrag-Victor.html