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10.10.2014 | Kundgebung in Bremen anlässlich des offiziellen Starts von Watch the Med Alarm Phone

Hinweis: Afrique-Europe-Interact war im Oktober 2014 bei der Gründung des Watch the med Alarmphone mit involviert und weiterhin sind Aktivist*innen von Afrique-Europe-Interact an dem Projekt beteiligt. Aktuelle Informationen zum Watch the Med sind auf der Webseite des Alarmphone und auf den zugehörigen Facebook und Twitter Kanälen zu finden.

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Anlässlich des offiziellen Starts des “Watch the Med Alarm Phone” haben in unterschiedlichen Städten in Europa Aktionen und Pressekonferenzen stattgefunden. Afrique-Europe-Interact hat in diesem Rahmen ebenfalls eine Aktion in Bremen durchgeführt. Der Aufruf (inklusive des PDF des Flugblatts) kann hier nachgelesen werden. Zudem sei darauf hingewiesen, dass in den TV-Abendnachrichten von Radio Bremen um 18 Uhr ein längerer Beitrag über die Kundgebung gekommen ist, darüber hinaus ist in der taz Bremen am Tag der Kundgebung ein Interview zum Alarmphone erschienen.

Über 3.000 Tote seit Januar 2014: Stoppt das Massensterben auf dem Meer! Fluchtwege öffnen, Menschenrechte verteidigen!

Ein Jahr ist es her, seit die Särge von Lampedusa quer durch Europa einen längst überfälligen Schrei des Entsetzens ausgelöst haben – auch in Bremen, wo am 12. Oktober 2013 zahlreiche Menschen auf dem Marktplatz zu einer Kundgebung in Gedenken an die über 600 Toten der beiden Flüchtlingstragödien vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zusammengekommen waren. Um so unbegreiflicher, ja menschenverachtender ist es, dass sich die Situation in den letzten 12 Monaten erneut massiv zugespitzt hat:

Über 3.000 Menschen sind seit Jahresbeginn im Mittelmeer gestorben, so die Internationale Organisation für Migration (IOM). Mehr Flüchtlinge und Migrant_innen als jemals zuvor – die meisten von ihnen aus Ländern wie Syrien, Irak, Eritrea oder Somalia. Und es wären noch tausende Tote mehr gewesen, hätte sich die italienische Regierung angesichts der europaweiten Proteste nicht gezwungen gesehen, als Konsequenz aus Lampedusa die Marineoperation „Mare Nostrum“ (Unser Meer) ins Leben zu rufen. Denn indem Schiffe und Flugzeuge bis in die Nähe der lybischen Küste gezielt nach Flüchtlingsbooten suchten, konnten seit November 2013 über 100.000 Menschen aus Seenot gerettet werden. Ebenfalls so viele wie noch nie seit Einführung der allgemeinen Visapflicht im Jahr 1993.

Die tatsächlich Bedeutung dieser (nur widerwillig zustande gekommenen) Rettungsmission ist kaum zu überschätzen, dennoch hat die italienische Regierung in Abstimmung mit der EU beschlossen, Mare Nostrum in den nächsten Monaten auslaufen zu lassen. Als Nachfolger soll „Triton“ kommen – eine Maßnahme der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Und das, obwohl Triton in erster Linie die Grenzkontrollen verschärfen, nicht aber Mare Nostrum ersetzen soll, wie Frontex-Chef Gil Arias unmissverständlich betont hat: „Wir sind keine Agentur, die sich mit der Lebensrettung auf hoher See befasst“ – ein Umstand, der auch darin zum Ausdruck kommt, dass für Triton nur noch 36 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung stehen, anstatt 100 Millionen Euro wie für Mare Nostrum.

Besonders empörend ist, dass europäische Politiker_innen unmittelbar nach den beiden Katastrophen von Lampedusa völlig andere Maßnahmen in Aussicht gestellt hatten. Beispielsweise der damalige EU-Komissionspräsident José Manuel Barroso: „Die EU kann nicht akzeptieren, dass Tausende Menschen an ihren Grenzen sterben.“ Oder der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck: „Wegzuschauen und sie hinein segeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, das missachtet unsere europäischen Werte.“ Dass aus solchen Vorsätzen keine EU-weiten Taten gefolgt sind, hat vor allem mit Deutschland zu tun. Denn obwohl das größte Land der EU bei der Aufnahme von Flüchtlingen gerade mal an achter Stelle rangiert (weit abgeschlagen hinter Schweden, wo im Pro-Kopf-Vergleich dreieinhalb mal so viele Flüchtlinge aufgenommen werden), sind es insbesondere hiesige Innenpolitiker_innen, die auf eine möglichst lückenlose Kontrolle der EU-Außengrenzen drängen. So sprach Innenminister Thomas de Maizière Anfang September in einem dreiseitigen Brief an die bislang für Flüchtlingspolitik zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström zwar von einer „Zuspitzung des Migrationsproblems im Mittelmeer“, erwähnte aber mit keiner Silbe die ums Leben Gekommenen oder gar die Notwendigkeit zur Seenotrettung.

Gerade deshalb ist es erforderlich, offensiver denn je auf die Straße zu gehen. Denn das Recht auf Schutz vor Krieg, Diktatur oder Hunger darf nicht dadurch ausgehebelt werden, dass Flüchtlinge und Migrant_innen nur unter Lebensgefahr Europa erreichen können. Vielmehr gilt es, die Fluchtwege nach Europa zu öffnen – genauso wie die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen umfassend zu verteidigen. In diesem Sinne unterstützt Afrique-Europe-Interact auch die Initiative eines alternativen Alarm Phone, mit dessen Hilfe Flüchtlinge in Seenot ab sofort zusätzliche Unterstützung anfordern können

[Das PDF des Flugblatts, das weitere Informationen sowie den Gründungsaufruf zum Alarm Phone umfasst kann hier angeguckt werden.]


Gründungsaufruf: Ein Jahr nach Lampedusa: Aufruf für ein “Watch The Med Alarm Phone”

10.10.2014

11. Oktober 2013: Mehrfach rufen Flüchtlinge auf einem sinkenden Boot per Satellitentelefon die italienische Küstenwache an und bitten um dringende Hilfe. Doch ihr SOS wird nicht ernst genommen. Über 400 Menschen befinden sich auf dem Boot, das in der Nacht zuvor von einem libyschen Schiff beschossen wurde. Obwohl zunächst die italienischen und später auch die maltesischen Behörden von der unmittelbaren Gefährdung der Passagiere informiert sind, verzögern sich die Rettungsmaßnahmen um mehrere Stunden. Patrouillenschiffe erreichen die Unglücksstelle, nachdem das Boot bereits eine Stunde gesunken war. Mehr als 200 Menschen sterben, nur 212 werden gerettet.

Was wäre passiert, wenn die Boatpeople einen zweiten Notruf an eine unabhängige Hotline hätten richten können? Wenn ein Team von zivilgesellschaftlichen Akteuren sofort Alarm geschlagen und Druck zur Rettung auf die Behörden ausgeübt hätte?

Ein Jahr nach der Tragödie von Lampedusa am 3. Oktober sowie dem oben beschriebenen Fall des “Left-to-die” stellt sich die Situation nicht weniger dramatisch dar. Zwar sind im Rahmen des italienischen Militäreinsatzes “Mare Nostrum” in den letzten 11 Monaten über 100.000 Flüchtlinge und Migrant_innen gerettet worden, doch allein im zentralen Mittelmeer sind erneut mehr als 1.300 Menschen zu Opfern des Grenzregime geworden. Anfang 2014 wurden wir Zeugen weiterer Todesfälle an den Außengrenzen der EU: am 20. Januar starben 12 Flüchtlinge, während ihr Boot in hoher Geschwindigkeit von der griechischen Küstenwache in Richtung türkischer Küste zurückgezogen wurde. Und am 6. Februar schossen spanische Grenzpolizisten mit Gummigeschossen auf schwimmende Migranten, als diese versuchten, die spanische Enklave Ceuta zu erreichen. Infolgedessen kamen mehr als 14 Menschen ums Leben.

Dies sind keine Einzelfälle sondern nur die offensichtlichsten in einer Reihe ähnlicher tödlicher Übergriffe, mit denen Migrant_innen auf See im gesamten Mittelmeerraum konfrontiert sind. Doch wäre es zu diesen Todesfällen gekommen, wenn zivilgesellschaftliche Akteure informiert gewesen wären und politischen Druck und Einfluss ausgeübt hätten, und zwar vor und nicht erst nach diesen Geschehnissen?

Wir können es nicht länger ertragen, hilflos zuzusehen, wie sich solche Tragödien wiederholen. Wir wollen mehr tun, als diese Übergriffe nachträglich zu verurteilen.Wir sind überzeugt, dass ein alternatives Alarm Netzwerk, getragen von der Zivilgesellschaft auf beiden Seiten des Mittelmeeres, eine Veränderung bewirken kann.

Wir verfügen über kein Rettungsteam, wir bieten keinen direkten Schutz. Wir wissen um unsere begrenzten Möglichkeiten, wir wissen um den provisorischen und prekären Charakter unserer Initiative. Wir wollen jedoch unmittelbar Alarm schlagen, wenn Flüchtlinge und Migrant_innen in Seenot geraten und nicht unverzüglich gerettet werden. Wir wollen in Echtzeit dokumentieren und sofort skandalisieren, wenn Boatpeople zu Opfern von „Push-Backs“ oder in Länder wie Libyen zurückgeschoben werden, in denen die Rechte von Migrant_innen permanent verletzt werden. Wir wollen mit politischem Druck und öffentlicher Mobilisierung eingreifen gegen das Unrecht, das sich tagtäglich an den Außengrenzen der EU abspielt.

Wir wissen, dass solcher Druck wirksam sein kann. Denn bereits seit Jahren werden Einzelpersonen aktiv, sobald sie über familiäre oder soziale Verbindungen Notrufe von Migrant_innen auf See erhalten. Sie benachrichtigen die Behörden und stellen sicher, dass Rettungsmaßnahmen erfolgen. Wir wollen diese Ansätze aufgreifen und ihre politische Bedeutung zur Unterstützung der Rechte der Migrant_innen auf Bewegungsfreiheit verstärken.

Deshalb haben wir uns zum Ziel gesetzt, ab dem 10. Oktober 2014 in enger Kooperation mit dem Monitoring-Projekt Watch The Med ein alternatives Alarmtelefon zu starten. Es wird rund um die Uhr besetzt sein, mit einem multilingualen Team in Bereitschaft, getragen von Menschenrechtsaktivist_innen von beiden Seiten des Mittelmeeres. Allen Betroffenen in Seenot raten wir, zuerst die offiziell verantwortlichen Rettungskräfte zu alarmieren. Wir werden zudem selbst die Küstenwachen anrufen, ihre Handlungen verfolgen und ihnen deutlich machen, dass wir informiert sind und sie beobachten. Sollten sie nicht reagieren, werden wir allen erdenklichen politischen und öffentlichen Druck aufbauen, um sie dazu zu zwingen. Wir werden Schiffskapitäne in der Nähe des Unglücksortes alarmieren wie auch internationale Journalist_innen, wir informieren engagierte Würdenträger_innen aller Konfessionen und prominente Unterstützer_innen. Wir nutzen die kritische Netzöffentlichkeit für Just-in-Time-Kampagnen und rufen alle auf, sich an der Entwicklung weiterer kreativer Interventionsformen zu beteiligen.

Das Sterben-Lassen auf See, die Menschenrechtsverletzungen der EU Grenzschutzagentur Frontex und der Grenzpolizeien in allen Teilen des Mittelmeeres müssen sofort gestoppt werden. Wir brauchen ein zivilgesellschaftliches Netzwerk auf beiden Seiten des Mittelmeeres, das politischen Druck entfalten kann für das Leben und die Rechte der Boatpeople, und wir wollen ein Teil davon sein. Ein solches alternatives Alarm-Netzwerk wäre nur ein erster aber dringend notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem euro-mediterranen Raum, der nicht von einem tödlichen Grenzregime geprägt ist sondern von Solidarität und dem Recht auf Schutz und auf Bewegungsfreiheit.

Das Alarm Phone ist eine Initiative von: Welcome to Europe | Afrique Europe Interact ?|? borderline-europe | Noborder Marocco |? Forschungsgesellschaft Flucht und Migration | Voix des Migrants?

Der Aufruf wird mittlerweile von hunderten Organisationen und Einzelpersonen aus über 20 Ländern unterstützt – insbesondere in Afrika und Europa.

Mehr Infos – einschließlich der Liste der UnterzeichnerInnen: www.watchthemed.net