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Dezember 2016 | Mit Zuckerbrot und Peitsche: Valletta-Prozess zwingt Afrika zu repressiver Grenzpolitik

Mit zwei Videos zur gescheiterten Abschiebung von Amadou Ba

Der Text wurde von Afrique-Europe-Interact verfasst, erstmalig veröffentlicht in der Kampagnenzeitung Nr. 7 von Afrique-Europe-Interat, die im Dezember 2016 als Beilage der Tageszeitung taz, der Wochenzeitung jungle world und der Monatszeitungs ak – analyse und kritik erschienen ist.

Wie so oft hat den Anfang ein kurzes Handyvideo auf facebook gemacht. Zu sehen ist ein Mann, der sichtlich erschöpft auf einem Flugzeugsitz kauert. Polizisten in Zivil bedrängen ihn, Passagiere fordern lautstark “Keine Gewalt”. Der Mann – sein Name ist Amadou Ba – sollte am 27. Oktober 2016 von Deutschland nach Mali abgeschoben werden. Doch die Abschiebung scheiterte, ein zweites Video zeigt, wie Amadou Ba auf dem Rollfeld in Paris abgeführt wird, auch in dieser Szene rufen Passagiere empört, dass sich Gewalt in Frankreich verbiete. Seitdem sitzt Amadou Ba in Frankfurt am Main im Gefängnis. Ein zweiter Abschiebetermin ist für den 17. Februar 2017 anberaumt, vorher soll er noch wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vor Gericht gestellt werden.

Amadou Ba im Flugzeug

Amadou Ba auf dem Rollfeld

Aktivist_innen von Afrique-Europe-Interact haben kurz darauf Kontakt mit der Familie von Amadou Ba aufgenommen, über die auch die beiden (auf der Webseite von Afrique-Europe-Interact dokumentierten) Filme ins Netz gelangt sind. Sie erfuhren, dass er bereits seit 13 Jahren in Sachsen-Anhalt gelebt hat. Zuletzt war er mit festem Arbeitsvertrag bei einer Hühnchenschlachterei in Merseburg angestellt. Während der geplatzen Abschiebung hat Amadou Ba zahlreiche Verletzungen an Rippen, Armen und Knien erlitten, auch als er bereits gefesselt mit Handschellen auf der Polizeistation im Pariser Flughafengebäude saß. Ein von seinem Anwalt in Deutschland gefordertes Gutachten zu den Verletzungen wurde hingegen nicht erstellt. Amadou Ba leidet zudem an starken Rückenschmerzen und Diabetes.

Steigende Abschiebezahlen
Derartige Vorgänge sind leider keine Seltenheit. Allein in der ersten Jahreshälfte 2016 wurden 13.743 Menschen aus Deutschland abgeschoben – Bundeskanzlerin Merkel hat dies als eine notwendige “nationale Kraftanstrengung” bezeichnet. Hinzu kommen 30.553 “freiwillige Ausreisen” zwischen Januar und Juni 2016, wobei es der Masse der Rückkehrer_innen in erster Linie darum geht, einer zwangsweisen Abschiebung zuvorzukommen. Und doch ist der Fall von Amadou Ba insofern außergewöhnlich, als er eine unmittelbare Konsequenz des Valletta-Gipfels im November 2015 sein dürfte (> S. 1). Damals sind in Maltas Hauptstadt 35 afrikanische und 28 europäische Staats- und Regierungschefs zusammengekommen, um über Maßnahmen gegen die so genannte irreguläre Migration zu beraten. Entsprechend hat sich Valletta als Startschuss für zahlreiche afrikanisch-europäische Abkommen zum Ausbau des EU-Grenz- und Abschieberegimes entpuppt. Um das zu flankieren, hat die europäische Kommission außerdem im Juni 2016 bekanntgegeben, dass zukünftig mit einem »Mix aus positiven und negativen Anreizen« vorgegangen werden solle, um »die Anstrengungen der Länder zu honorieren, die bereit sind, bei der Migrationskontrolle wirksam mit der EU zusammenzuarbeiten, und um Konsequenzen für jene sicherzustellen, die dies verweigern.«
Was das konkret bedeutet, ist bislang vor allem am Beispiel Ostafrikas skandalisiert worden: So ist durch Recherchen von Monitor, Report Mainz und taz bekannt geworden, dass die staatliche Entwicklungshilfeagentur GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) im Auftrag der EU ein 40 Millionen Euro-Projekt zum Ausbau des Grenzregimes unter anderem im Sudan koordiniert. Und das, obwohl der sudanesische Präsident al-Baschir seit 2010 wegen Völkermord vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht wird. Hintergrund ist, dass der Sudan Durchgangsland für Geflüchtete aus Eritrea, Somalia und Äthiopien ist. Dies will die EU zukünftig verhindern, offenkundig auch unter Inkaufnahme schwerster Menschenrechtsverletzungen. So wurden im Frühsommer im Sudan mindestens 1.300 eritreische Geflüchtete festgenommen und abgeschoben, obwohl diese in Eritrea mit drakonischen Strafen bis hin zur Todesstrafe rechnen müssen.

Reisende unter Generalverdacht
Doch auch andere Länder stehen im Fokus der Valletta-Agenda, nicht zuletzt Mauretanien, Niger und Mali. Durch alle drei Sahelländer laufen zentrale Transitrouten Richtung Europa, Mali ist zudem ein wichtiges Herkunftsland. Am rücksichtslosesten scheinen die Sicherheitskräfte derzeit in Mauretanien und im Niger vorzugehen – nicht nur gegen Schlepper, sondern auch gegen Migrant_innen, was Amadou Mbow von der mauretanischen Vereinigung für Menschenrechte direkt auf den Valletta-Prozess zurückführt. Und das wiederum hat auch Auswirkungen auf Mali, wie Aktivist_innen von Afrique-Europe-Interact jüngst bei einer Recherchereise feststellen mussten: An diversen Grenzübergängen Richtung Norden stehen mittlerweile moderne Datenverarbeitungssysteme, aufgestellt von der IOM (International Organisation of Migration), finanziert unter anderem von Japan. Hinzu kommt die von der EU in diversen Ländern Westafrikas auf den Weg gebrachte Einführung biometrischer und fälschungssicherer Ausweise. Unmittelbare Konsequenz: Die traditionelle Bewegungsfreiheit in Westafrika steht unter Druck, die Grenzüberquerung wird immer aufwändiger, zumal sich viele Menschen überhaupt keine Ausweispapiere leisten können. Ähnlich im Norden Malis: Auf Geheiß des nigrischen Inneninisteriums werden Personen aus westafrikanischen Ländern wie Guinea, Sierra Leone oder Gambia immer öfter am nigrisch-malischen Grenzübergang Yassan trotz korrekter Papiere an der Weiterreise in den Niger gehindert. Leute aus Mali müssen regelmäßig Kontaktpersonen in der nigrischen Hauptstadt Niamey benennen (die dann von den Grenzbeamt_innen angerufen werden), um überhaupt in den Niger einreisen zu dürfen. Noch dramatischer ist die Situation in der Stadt Gao im Norden Malis. Denn hier werden westafrikanische Migrant_innen regelmäßig wegen „nächtlicher Herumtreiberei“ verhaftet und zu sechsmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Betroffen sind vor allem Personen, die nachts in Gao ankommen, nicht selten, nachdem sie aus der algerischen Wüste abgeschoben wurden. Frappierend ist zudem, dass die Festnahmen in aller Regel durch Angehörige der UN-Friedenstruppen (MINUSMA) erfolgen, zu denen auch deutsche Soldat_innen gehören.

Passersatzpapiere für Migrant_innen
Viele der hier skizzierten Entwicklungen sind vollkommen neu. Dies zeigt, wie groß, ja erpresserisch der Druck aus Europa mittlerweile geworden sein muss. Denn bis vor kurzem hat Mali erklärtermaßen zu jenen Ländern in Westafrika gehört, die nicht bereit waren, umstandslos die Interessen malischer Migrant_innen den repressiven EU-Vorgaben unterzuordnen. Umso empörter haben nicht nur malische Migrant_innen in Deutschland, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteure in Mali auf den Umstand reagiert, dass die malische Regierung in jüngerer Zeit begonnen hat, Passersatzpapiere für ihre (mutmaßlichen) Bürger_innen auszustellen und somit Abschiebungen wie die von Amadou Ba möglich zu machen (> S. 1). Auch Afrique-Europe-Interact lehnt derartige Kooperationen aus menschenrechtlichen und entwicklungspolitischen Gründen ab (> S. 2). Das ist der Grund, weshalb Aktivist_innen unseres Netzwerks seit Juni mehrfach sowohl in Mali als auch in Deutschland gegen den Valletta-Prozess auf die Straße gegangen sind – zuletzt am 11. November in Berlin, als wir vor den Botschaften von Niger, Mali und Marokko sowie vor der GIZ demonstriert haben.