»Man hat sie dem Verhungern ausgesetzt« (junge welt: 06.02.2013)
Lager in Tunesien: UN-Hilfswerk weigert sich, 230 Flüchtlingen mit Lebensmitteln zu helfen
Ein Gespräch mit Conni Gunßer. Interview: Gitta Düperthal
In Tunis haben vergangene Woche Flüchtlinge aus Libyen, die im grenznahen Lager Choucha untergebracht sind, gegen ihre Behandlung demonstriert. In welcher Situation leben sie?
Tunesien hat kein Asylsystem, nach dem Sturz des Diktators Ben Ali hat das Land heute ganz andere Probleme. Schutzrechte für Flüchtlinge sind zwar dringend nötig, werden aber nicht als vordringlich angesehen. Im Februar vergangenen Jahres wurden an der tunesisch-libyschen Grenze mehrere Lager eingerichtet. Rund 20000 Flüchtlinge aus Libyen sind dort untergebracht, sie mußten vor Krieg und Verfolgung fliehen. Nur wenige haben es geschafft, über ein Aufnahmeprogramm in europäische Staaten oder die USA dem Elend zu entkommen. Die deutsche Innenministerkonferenz hat Ende 2011 entschieden, in den nächsten Jahren nur jeweils 300 Leute aufzunehmen. Viele mußten also in ihre Herkunftsländer zurückkehren oder versuchen, unter Lebensgefahr über das Meer nach Europa zu flüchten. Andere sind nach Libyen zurückgekehrt, wo täglich die Rechte von Migranten verletzt werden. Auch die Rechte der verbleibenden etwa 1500 Flüchtlinge in Choucha sind kaum geschützt. Besonders schlimm ist die Lage von etwa 230 Leuten: Bei der Auslese, die der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) betreibt, um zwischen »wirklichen« und »falschen« Flüchtlingen zu unterscheiden, sind sie durch das Raster gefallen.
Was bedeutet das?
Der UNHCR erklärt, er sei für sie nicht zuständig. Diese Menschen erhalten weder Lebensmittel noch medizinische Versorgung. Sie sind auf die Solidarität der anderen Flüchtlinge angewiesen, die selber wenig haben. In ihr Herkunftsland können sie nicht zurück, weil sie dort verfolgt werden, nach Libyen auch nicht, weil dort Krieg herrscht. Sie haben Angst, sich unter Lebensgefahr mit Booten nach Europa zu begeben – in Choucha bleiben können sie aber nicht. Sie können sich in Tunesien auch keine Arbeit suchen, sie würden sofort festgenommen, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung haben. Etwa 100 Leute aus Choucha haben sich deshalb vergangene Woche mit zwei Bussen auf den Weg nach Tunis gemacht, um dort auf diesen Skandal aufmerksam zu machen.
Seit langem gibt es Kritik am UNHCR – wie haben dessen Vertreter auf die Proteste reagiert?
Diese 230 Flüchtlinge hatte man dem Verhungern ausgesetzt und ihre Forderungen nach einer Lösung immer wieder zurückgewiesen. Nachdem ein offener Brief an die UNHCR-Vertreterin in Tunesien, Ursula Schulze Aboubacar, veröffentlicht wurde, erklärte diese, die Gruppe werde sehr wohl ärztlich versorgt, habe auch Zugang zu Wasser und zu den sanitären Anlagen in Choucha – sie bekomme aber keine Lebensmittel. Die Mitarbeiter des UNHCR üben zunehmend Druck auf diese Flüchtlinge aus, das Lager zu verlassen. Trotz Regens haben die Flüchtlinge die ganze Woche über in Tunis vor dem Gebäude des UNHCR ausgeharrt. Nachdem sie endlich einen Gesprächstermin erhalten hatten, bekamen sie die Auskunft, es bleibe dabei, daß das Hilfswerk für sie nicht zuständig sei. Am Freitag haben dann Vertreter der Europäischen Union die Demonstranten aufgesucht und angekündigt, sie würden ihrerseits Gespräche mit dem UNHCR und der tunesischen Regierung aufnehmen. Vielleicht ist das aber auch nur ein Versuch, die Flüchtlinge hinzuhalten.
Was soll sich nach Meinung der Demonstranten konkret ändern?
Sie verlangen zunächst, daß die bisher abgelehnten Asylgesuche erneut geprüft werden. Dann wollen sie, daß alle in Choucha untergerbrachten Flüchtlinge die gleichen Rechte bekommen, daß alle medizinisch und mit Lebensmitteln versorgt werden. Und daß sie Zugang zu einem sicheren Asylland in Europa bekommen.
Welche Initiativen unterstützen die Proteste?
In Tunesien sind das »Forum für ökonomische und soziale Rechte« (FTDES) und die jungen Aktivisten der Gruppe »Article 13« aktiv. Außer uns unterstützen auch »Afrique-Europe-Interact«, und »Welcome to Europe« die Flüchtlinge. Wir haben Spenden gesammelt um die Busse für die Fahrt nach Tunis und die Verpflegung der Demonstranten zu finanzieren.
Conni Gunßer ist Mitglied des Netzwerks »boats4people«, das sich für die Rechte von Bootsflüchtlingen einsetzt