Flüchtling erster Klasse (taz: 17.01.2013)
Emanuel Sebatutsi Gatoni saß nach dem Libyenkrieg mit Tausenden Afrikanern in einem Lager in Tunesien fest. Nun darf er ein neues Leben beginnen – in Europa. Von Christian Jakob
RAS AJDIR/FRIEDLAND/BERLIN taz | Die Hitze duldet nichts neben sich, sie vertreibt jeden Gedanken an etwas anderes. Es ist acht Uhr früh an diesem Julimorgen, und der Körper klebt. Ein Plastiktisch, ein Teppich, eine Matratze; seit 494 Tagen lebt Emanuel Sebatutsi Gatoni im UN-Wüstenlager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze.
Gatoni ist 40 Jahre alt, ausgebildeter Ökonom und stammt aus dem Ostkongo. Im Juni 2012 hatte er das erste Mal Besuch aus Deutschland. Drei Beamte des Nürnberger Bundesamtes für Flucht und Migration (BAMF) riefen den schmalen, hochgewachsenen Mann in ein Zelt. „Wo kommst du her? Was hast du gelernt?“, fragen sie. Gatoni berichtet: Dass er 2007 aus dem Kongo geflohen ist. Dass seine Frau im Krieg starb. Dass er seine Kinder in Ruanda lassen musste. Stationen einer Flucht, die über Darfur nach Libyen führte, wo er als Englischlehrer arbeitete, bis auch dort der Krieg ausbrach.
Am Ende des Interviews geben ihm die Deutschen eine Liste, auf der 150 internationale Terrorgruppen stehen. „Ich sollte ankreuzen, ob ich schon mal mit einer von ihnen zu tun hatte.“ Gatoni macht 150 Kreuze bei „Nein“.
Rund 700.000 Menschen sind in den ersten Wochen des Aufstands gegen Exdiktator Gaddafi über den Grenzübergang Ras Ajdir nach Tunesien geflohen, Hilfsorganisationen hatten dort das Lager Choucha errichtet. Verwundete wurden dort behandelt, viele Flüchtlinge in ihre Heimatländer ausgeflogen. Übrig blieben die Menschen aus Krisenregionen wie Darfur, Somalia oder Kongo. Ihre Länder gelten als zu gefährlich für eine Rückkehr. Tunesien will sie nicht, nach Libyen können sie nicht: „Die Lage für Schwarze ist dort sehr gefährlich“, sagt Gatoni. Sie gelten entweder als Exsöldner Gaddafis oder als „Illegale“. Und so blieben über 4.000 von ihnen in Choucha zurück, wie ein Bodensatz des Arabischen Frühlings.
„Aber hier gibt es nichts für uns, wir müssen weg von hier“, sagt Gatoni. Per Interview prüft der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, ob es sich bei den Flüchtlingen um „Persons of Concern“, um menschenrechtliche Sorgenfälle gemäß der Genfer Konvention, handelt. Hunderte werden abgelehnt, Menschen aus Ländern wie Tschad, Sudan, Mali oder Liberia. Die übrigen versucht der UNHCR über sein Resettlement genanntes Umsiedlungsprogramm in Europa, den USA oder Kanada unterzubringen. Die Zusagen kommen schleppend. Im Herbst 2011 hatten die deutschen Innenminister entschieden, 195 Menschen aus Choucha aufzunehmen. Der UNHCR schickt eine Liste mit doppelt so vielen Namen nach Nürnberg. Die Deutschen sollen die Wahl haben.
An der Straße fahren Autos vorbei, Insassen imitieren Affengeräusche und gestikulieren durch die offenen Fenster. Vor einem Jahr hat ein Mob von Tunesiern das Lager angegriffen. Sie brannten 400 Zelte nieder, acht Flüchtlinge starben. Unter den wenigen Eukalyptusbäumen am Straßenrand sitzt eine Gruppe junger Eritreer. Die Entsalzungsanlage ist ausgefallen, es gibt nur noch rationiertes Trinkwasser, klagen sie. Einer der Männer steckt sich einige Blätter Khat in den Mund, eine Kaudroge. „Anfangs gab es ein richtiges Krankenhaus“, sagt er. „Jetzt kriegen wir nur noch Tabletten.“ Eine Gruppe somalischer Frauen kommt hinzu, ihre Haut ist mit Henna bemalt. „Die Hitze ist sehr gefährlich“, erklärt eine Frau. „Es gibt Schlangen, die Menschen kippen um. Wir wollen an einen Ort, der nicht wie Somalia ist.“
Die angereisten Beamten der Aufnahmeländer interviewen Hunderte Flüchtlinge. „Niemand weiß, wie sie entscheiden, wer von uns rausdarf“, sagt Gatoni. Nur eins ist klar: Am Ende werden nicht alle das Ticket in ein sicheres Leben erhalten.
Grenzdurchgangslager Friedland, Niedersachsen, Anfang September. In der Kantine gibt es Currywurst mit Reis und Gurkensalat. Die Flüchtlinge sitzen an langen Tischen, ein Somali will wissen, ob die Wurst vom Schwein ist. Der Wachmann winkt ab. Nur Geflügel. „Choucha war die Hölle“, sagt Gatoni. „Deutschland hatte ich mir wie das Paradies vorgestellt, auch wenn ich nicht genau wusste, wie das Paradies aussieht.“
Im August hatten die UN-Mitarbeiter in Choucha die Flüchtlinge zusammengerufen, die von den deutschen BAMF-Beamten befragt worden waren. „Wir saßen vor ihrem Zelt, dann haben sie uns vorgelesen, wer ausgewählt ist.“ Gatoni ist dabei, es ist das große Los. Denn Resettelte sind Flüchtlinge erster Klasse: Im Gegensatz zu regulären Asylbewebern genießen sie in Deutschland sofortige Reisefreiheit ohne Residenzpflicht, haben keinen verminderten Sozialleistungssatz, dürfen arbeiten, studieren, ihre Familie nachholen und müssen nicht im Lager leben.
Die UN bucht einen Sonderflug, der deutsche Botschafter in Tunis kommt zum Flughafen von Djerba und überreicht die Einreisepapiere. In Hannover begrüßt sie Niedersachsens CDU-Innenminister Uwe Schünemann. In Friedland bekommen sie 20 Euro Willkommensgeld, einen Beutel mit Seife und Zahnbürste und einen Platz in einem Zweibettzimmer. Die anderen bleiben in der Wüste zurück. Am Morgen hatte Gatoni Deutschunterricht, nach dem Essen beginnt in Friedland der „Wegweiser für Deutschland“-Kurs. Ein junger Araber übersetzt, der evangelische Lagerpastor spricht vor elf Flüchtlingen aus Choucha über „Mobilität“: „Wir können nicht einfach auf eine große Straße laufen“, sagt er, „Straßen sind gefährliche Räume.“ Die Flüchtlinge nicken, Gatoni schreibt mit. Einer der Flüchtlinge hat vom Wochenendticket gehört und fragt, was das ist, Gatoni notiert auch dies. Bald werden sie über Deutschland verteilt: Aachen, Salzwedel, Bremen, Berlin. Der Pastor zeigt ihnen die Städte auf einer Karte. „In den Bahnhöfen werden Sie Polizisten sehen. Haben Sie keine Angst. In manchen Ländern sind Uniformierte korrupt, hier sind sie dazu da, uns zu helfen.“
Später beklagt Gatoni, dass es kein Internet gibt und er nicht weiß, wie er an eine deutsche SIM-Karte kommt. Sonst ist er zufrieden. Bis auf das schlechte Gewissen. „Wir hatten so viel Glück“, sagt er. „Für die anderen, die noch in Choucha sind, ist es schlimm.“ Doch er weiß nicht, wie er ihnen helfen könnte. Gatoni schaut aus dem Fenster, draußen ist das Weserbergland zu sehen. „Hier ist alles anders. Die Hügel, die Bäume, die Äcker, die sind so sauber. Nur der Wald sieht irgendwie so aus wie in Ruanda.“ Er fühle sich hier sicher. „Ich darf mit jedem reden, ich kann tun, was ich will.“ Er möchte seine Kinder nach Deutschland holen.
Flüchtlingsheim Marienfelde, Berlin, im November. Die blaue Mappe fasst die Papiere kaum. Die Meldebescheinigung vom Amt für Bürgerdienste, der ALG-II-Antrag vom Jobcenter Schöneberg, die „Eingliederungsvereinbarung“ für den Arbeitsmarkt, die Bestätigung der Bestellung des elektronischen Aufenthaltstitels, die Erklärung zum Abzug der Energiepauschale, die Steueridentifikationsnummer, das Begrüßungsschreiben der AOK. „Alles hat ein Gesetz. Hier besteht das Leben aus Gesetzen“, sagt Gatoni, während er die Papiere herausholt und auf dem Tisch ausbreitet. Das gefällt ihm. „Sie sagen: Das dauert zwei Tage, und es dauert zwei Tage. Sie sagen, es dauert einen Monat, und es dauert einen Monat.“
Weil Gatoni Bekannte in Berlin hat, hat er das BAMF gebeten, hierhergeschickt zu werden. Gatoni geht zu seinem Kleiderschrank und holt eine blaue Winterjacke hervor. Ein Sozialarbeiter ist mit ihm zu einem Secondhandladen gefahren. Den Rest seines Kleidergeldes hat er nach Ruanda geschickt. „Ich bin seit sechs Jahren ohne meine Familie. Jetzt wollen sie Geld.“ Fürs Erste ist es das Einzige, was er für seine Familie tun kann: Seine beiden volljährigen Kinder darf er nicht nach Deutschland holen, und die minderjährigen nur dann, wenn sein Einkommen für alle reicht. Das wird dauern.
Im November ist Gatoni nach Nürnberg gereist, wo der UNHCR eine Konferenz über Resettlement abhielt. „Ich habe gesagt, dass sie auch die anderen Flüchtlinge aus Choucha rausholen müssen.“ Genutzt hat es nichts: Der UNHCR wird das Lager bald schließen.
Die nächsten Monate wird Gatoni in dem Heim in Marienfelde leben, er teilt sich ein Zimmer mit einem Eritreer. „Wir müssen uns selbst eine Wohnung suchen, aber wir können ja noch kein Deutsch.“ Überhaupt die Sprache. „Es gibt hier alles, aber das Einkaufen ist schwierig“, sagt er. „Salz und Zucker“, seine weiche Stimme wird hart, wenn er Deutsch spricht. Die Sprache allein ist es nicht: „Ich muss auch die neue Kultur lernen. Bei uns redet man auf der Straße einfach so miteinander, man fragt jeden nach allem Möglichen. Hier sind die Leute sehr für sich.“
Ganz angekommen in seinem neuen Leben ist er noch nicht. „Das sind zwei Welten“, sagt Gatoni, und die Bilder aus der anderen Welt lassen ihn nicht los. „Kongo, Darfur, Libyen, Choucha, wie sie kamen und die Menschen wie Tiere getötet haben, ich fühle das die ganze Zeit.“ In den Kriegen, durch die er gezogen ist, „hat man kein Morgen gesehen“, sagt Gatoni. „Hier gibt es wieder eine Zukunft.“
Box: Choucha vor dem Aus: In dem während des Libyenkriegs errichteten UN-Lager Choucha im Osten Tunesiens sitzen noch immer Hunderte subsaharische Flüchtlinge fest, die der UNHCR nicht in sein Umsiedlungsprogramm aufgenommen hat. Kein Land ist bereit, sie aufzunehmen. Immer wieder waren Flüchtlinge aus Choucha im Mittelmeer ertrunken, als sie versuchten, in Booten nach Europa zu gelangen. Seit 2011 gab es teils heftige Proteste in dem Lager, die vom Militär auch mit Gewalt niedergeschlagen wurden. Im Frühjahr will der UNHCR das Lager aufgeben, die Versorgung im Lager wurde bereits jetzt zurückgefahren. Die vor dem Nichts stehenden Flüchtlinge haben für die nächsten Wochen Protestaktionen in Tunis angekündigt. (cja)