Endstation Wüste (Berliner Zeitung: 10.08.2011)
Von Cedric Rehman // Berliner Zeitung
Shousha – Nachmittags tost der Sturm um die Zelte. Sandkörner fliegen wie Miniaturgeschosse durch die Luft. Sie prasseln auf die Haut und entzünden in den Augen kleine Feuer. Selbst durch die dicken Planen der Zelte, die das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hier errichtet hat, findet der Sand seinen Weg. Senkrecht fällt er durch die Ritzen in die Vorratstöpfe. Sandreis und Sandbohnen, tagein, tagaus.
Draußen tobt der Sturm, drinnen säuselt nigerianischer Pop aus einem altersschwachen Kassettenrekorder. Jamal Owaitan* zündet sich in dem stickigen Zelt eine Zigarette an. Er hält ein Foto aus Misrata in der Hand. Es zeigt ihn, wie er mit Jeanshemd und Cowboyhut auf einer Couch sitzt, in der Hand ein Glas Wein, im Gesicht ein breites Lächeln. Das war bei einer Party im Winter, als die Welt den Namen Misrata noch nicht kannte, sagt Owaitan. Als die Hafenstadt im Westen Libyens noch keine Rebellenhochburg war, die wieder und wieder von Gaddafis Truppen attackiert wurde.
Durch die Wüstenluft ist das Foto schon vergilbt. Auch Jamal Owaitan scheint um Jahre gealtert zu sein. Ist das der Mann mit den runden Bäckchen, der beschwipst versucht, wie Clint Eastwood in die Kamera zu grinsen? Er rollt sein weißes Unterhemd auf und zeigt auf den Narbenwulst, der sich von seinem Becken bis zum Brustkorb zieht. Wegen der Glückskugel, wie Jamal Owaitan sie nennt. „Sie ist zwischen meinen Rippen direkt über meinen Nieren steckengeblieben.“ Ein medizinisches Wunder, so nannten ihn die tunesischen Ärzte. Da war er gerade auf der Intensivstation in Tunis aufgewacht. Die glückliche Kugel kam nicht etwa aus einem libyschen Gewehr. Sie traf ihn im Flüchtlingslager Shousha in Tunesien.
Schläge am Wassertank
„Im Grunde ist es passiert, weil ich französisch sprechen kann“, sagt er. Er flüchtete im Jahr 2003, nach religiösen Unruhen im Norden Nigerias, in die Republik Elfenbeinküste. Dann kam die Chance, sich mit einem Freund in Libyen selbstständig zu machen mit einem Internetcafé. Ein ganz normales afrikanisches Leben, in dem Wohlstand hart erarbeitet wurde, bis die Gewalt alles kaputt gemacht habe, sagt Owaitan. Die Gewalt kam im Februar 2011. Damals eroberten die Rebellen Misrata. Jamal Owaitan floh wie viele Schwarzafrikaner, wurde von den Gaddafi-Truppen verhaftet und aus einem Gefängnis in Tripolis schließlich von den Vereinten Nationen in das gerade gegründete Flüchtlingslager Shousha gebracht. Weil er die Sprache verstand, die von den tunesischen Soldaten gesprochen wurde, vermittelte er im Camp, wenn es Ärger gab mit den Wachen.
Am 6. Mai gab es großen Ärger. Tunesische Soldaten, die mit gezückten Waffen an den Wassertanks Wache standen, konnten oder wollten einem Nigerianer kein Wasser verkaufen. Es gab Streit, weil keiner den anderen verstand, die Soldaten schlugen zu. Jamal Owaitan lief zum Wassertank,als er Schreie hörte. Er sah einen Farbigen blutend am Boden liegen, während arabische Soldaten um ihn herumstanden und mit Gewehrkolben auf ihn einschlugen. Für einen Moment, erzählt er, glaubte er wieder in Libyen zu sein, wo Männer mit der Waffe in der Hand seit Monaten alles täten, was sie wollen. Doch dann fiel ihm ein, dass bei den Vereinten Nationen, die für Shousha verantwortlich sind, das Recht für jeden gilt. „Halt, oder ich rufe die UN“, habe er den Soldaten auf Französisch zugerufen. Danach weiß er nichts mehr. Seine nächste Erinnerung ist die an die Ärzte im Krankenhaus von Tunis.
Die UNHCR untersucht den Fall. Denn er wirft die Frage auf, ob die Flüchtlinge in Shousha Schutz benötigen vor ihren Beschützern. Haben die Soldaten auf Owaitan geschossen, weil er ihnen gedroht hat, den Übergriff anzuzeigen? Ein neues Camp-Management bemüht sich um Aufklärung. Es nehme die Angst der Flüchtlinge vor Übergriffen der tunesischen Soldaten ernst, sagt Jamal Owaitan. Das liege daran, dass Kanadier und Europäer ins Camp gekommen seien: „Das sind endlich gute Männer, die sich für uns Afrikaner interessieren.“ Sie hätten die Araber der ersten Stunde abgelöst, die immer Partei für die tunesische Armee ergriffen hätten.
Einer der guten Männer sagt ganz ehrlich, was er von der Arbeit der UN in Shousha in den ersten Monaten nach der Eröffnung des Camp hält: nicht viel. Der Mann nennt sich Jack, auch wenn er nicht so heißt – vorsichtshalber. Er gibt bereitwillig Auskunft, zum Beispiel über die Sache mit den Zelten, die ihm in seinem klimatisierten UN-Container bis heute keine Ruhe lässt: „Anfangs hat uns die UN Zelte geschickt, die 2008 beim Erdbeben im Himalaya-Gebirge von Pakistan im Einsatz waren.“ Es waren Winterzelte, die vor Schnee und Kälte schützen sollten. Die afrikanischen Flüchtlinge leben also seit Monaten in erstklassig gegen Minusgrade isolierten Notunterkünften – bei mittlerweile 45 Grad im Schatten. Im April entlud sich die Empörung der Flüchtlinge über die Unterbringung in Backöfen aus Stoff in einem Aufstand. Vier Menschen verbrannten, als verzweifelte Flüchtlinge ihre Zelte anzündeten und der Brand außer Kontrolle geriet. Die Vereinten Nationen mussten Ersatz herbeischaffen. Mittlerweile, sagt Jack, seien sie dabei, das ganzen Camp mit wüstentauglichen Zelte nachzurüsten.
Sand und Skorpione
Shousha ist eines von drei Camps in der Nähe des tunesischen Grenzorts Ras Ajdir. Das Lager gilt als Sonderfall unter den Flüchtlingscamps. Hier leben über 4 000 Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Sie waren schon Flüchtlinge, bevor sie aus Libyen geflohen sind: vertrieben aus Somalia, Sudan und von anderen afrikanischen Schlachtfeldern. Sie können nicht in ihre Heimatländer zurück, und Libyen zerfleischt sich im Bürgerkrieg. Alles, was ihnen bleibt, ist in Shousha auf Sand gebaut. Betrieben wird das Lager von der UN, anders als die Camps für die libyschen Flüchtlinge, die Katar und die Vereinigten Emiraten aus dem Boden gestampft haben. Dort gibt es Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter. Die Flüchtlinge leben zum Teil sogar in angemieteten Wohnungen.
In Shousha gibt es außer Sand und Skorpionen nicht viel. Die US-Schauspielerin Angelina Jolie war im April mal da, was wohl unvermeidlich ist. Ansonsten machen Politiker und Prominente einen Bogen um Shousha mit seinen schwarzafrikanischen Bewohnern. Die Flüchtlinge haben auf die Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft reagiert, indem sie selbst versuchen, Druck zu machen. Jede Nation unter den Flüchtlingen hat ihr eigenes Komitee gegründet, damit die UN nicht mehr einer Masse von unorganisierten und verängstigten Menschen gegenübersteht. Die Komitees kämpfen um praktische Verbesserungen: um mehr und gesünderes Essen, um mehr Ärzte, weil die Angst vor Seuchen umgeht und vor allem um einen unbegrenzten Zugang zu Wasser. Denn der Durst vergeht in der staubigen Hitze nie. Die Flüchtlinge wollen aber auch, dass es vorangeht, irgendwohin. Die UN, Tunesien oder welches Land auch immer – irgendwer soll eine Lösung präsentieren, für die Menschen, die aus Libyen geflohen sind, aus einem Land, in dem sie vor Jahren selbst Zuflucht vor Verfolgung gesucht hatten. Das ganz gewöhnliche afrikanische Schicksal eben.
Ein Mann kämpft sich durch den Sandsturm. Seinen Kopf hat er wie ein Nomade in einen Fetzen Stoff gehüllt. Seine Augen schützt er durch eine Sonnenbrille mit Goldrand, während er an den Füßen klobige Basketballstiefel trägt. Die zusammengewürfelte Schutzkleidung erinnert an die Kluft der Endzeitkrieger aus dem Science-Fiction-Film „Mad Max“. Bright Deltasan kann dem Vergleich etwas abgewinnen. Shousha hat für ihn etwas Endzeitliches. Der Chef des nigerianischen Komitees ist auf dem Weg von „Nigeria“ in den „Sudan“. Die Vereinten Nationen haben jeder Nationalität einen Fleck Wüste zugewiesen, als sie im Februar das Camp gründeten. Damit wollten sie wohl Ärger vermeiden, beispielsweise zwischen den christlichen Nigerianern und den muslimischen Sudanesen. „Alles Blödsinn“, sagt Deltasan, nachdem er das Zelt des Komiteechefs der Sudanesen betreten hat. „In Libyen hat es auch keine Rolle gespielt, ob wir Christen oder Muslime waren, für die Araber waren wir alle gleich.“
„Sie haben uns wie Freiwild gejagt“
Gleich verdächtig, meint er damit. Die sudanesischen Nomaden mit ihrer arabischen Sprache und ihrem muslimischen Glauben haben bis auf die Hautfarbe nichts gemeinsam mit den Nigerianern. Afrikas bevölkerungsreichstes Land mit seiner Ölindustrie, das Satelliten ins All schießt, aber seine eigene Bevölkerung kaum satt bekommt, ist für sie so fremd wie die andere Seite des Mondes. In Libyen schufteten die Darfur-Flüchtlinge auf dem Bau oder in Gärten der Reichen, während die Nigerianer als Ingenieure oder Techniker in der Ölindustrie in klimatisierten Büros arbeiteten. Die Vertreibung habe alle Unterschiede eingeebnet, sagt Bright Deltasan. Auf den Ladeflächen der Lastwagen, auf denen die Afrikaner den Gefängnissen und brennenden Städten entkamen, muss so etwas wie eine panafrikanische Identität entstanden sein.
Mohammed Abdullah, der für die Sudanesen im Lager spricht, demonstriert mit einer einfachen Geste, woraus sich die Gemeinsamkeit speist. Er zeigt auf die tiefschwarze Haut seines Unterarms und schüttelt heftig den Kopf, auf die Frage, ob die muslimischen Afrikaner es besser hatten während der Kämpfe seiner arabischen Glaubensbrüder in Libyen. „Sie haben uns wie Freiwild gejagt“, sagt auch Deltasan. Und als er die Geschichten der Darfur-Flüchtlinge aus dem Arabischen ins Englische übersetzt, unterstreicht er die Sätze immer wieder mit einem „Genauso war es“. Es sind Geschichten wie die des 16-jährigen Mustafa, der seine Eltern verloren hat, als die Janjaweed, die arabischen Reitermilizen, sein Dorf in Darfur überfielen. Er floh mit dem Treck der Darfur-Flüchtlinge in den benachbarten Tschad und aus den dortigen Wüstencamps nach Libyen. Mustafa fand einen Job in Misrata. Als die Rebellen die Stadt das erste Mal einnahmen, glaubte er, die Janjaweed wären in Libyen eingefallen. Denn Araber machten wieder Jagd auf Schwarze. Er hatte das Glück, dass ihn sein Arbeitgeber versteckte, bis die Gaddafi-Truppen Misrata wieder eingenommen hatten, sagt Deltasan.
Wer die Afrikaner stärker verfolgt hat, die Rebellen oder die Soldaten Gaddafis, ist unter den Flüchtlingen umstritten. Die Darfuris aus Misrata klagen die Rebellen an. Die Nigerianer, die den Krieg zum großen Teil in Tripolis erlebt haben, verfluchen Gaddafi. Die afrikanischen Flüchtlinge erzählen Geschichten von farbigen Söldnern, die, mit Viagra und Drogen vollgepumpt, im Auftrag Gaddafis morden und vergewaltigen. In Libyen hätten sich die Rebellen nicht die Mühe gemacht, zwischen Söldnern und Flüchtlingen zu unterscheiden, sondern gleich geschossen, sagt Mohammed Abdullah. Umgekehrt galten für Gaddafi alle Ausländer als mögliche Unruhestifter, die er schnell loswerden wollte, sagt Bright Deltasan. Nur, die Afrikaner konnten sich – anders als Ägypter oder Tunesier – nicht in ihrer hellen Haut verstecken, als Gaddafis Truppen Nicht-Libyer festnahmen, ausplünderten und dann der UN überließen, die sie in Lastwagen über die Grenze schaffte.
Die rote Sonne
Draußen legt sich der Sandsturm. Bright Deltasan will noch bei dem äthiopischen Kollegen vorbeischauen, bevor die stockdunkle Wüstennacht über das Camp hereinbricht. Der äthiopische Teil liegt gleich neben dem sudanesischen, ganz wie auf der Landkarte. Er führt vorbei an der Kirche des Lagers, einem windschiefen Zelt mit einem Kreuz aus von der Sonne gebleichtem Holz. Die Sonne hängt mittlerweile glühend rot und riesig am Horizont. Der Wüstensand schillert in Rosatönen. „Während der Dämmerung ist Shousha fast schön“, sagt Deltasan.
Youssef Deng, der Chef des äthiopischen Komitees, empfängt den Gast auf einer am Boden ausgebreiten Militärjacke. Sie liegt wie ein Empfangsteppich vor dem Zelteingang. Deng kramt ein paar Zigaretten hervor. „Es ist jetzt kühl genug, dass sie nicht mehr von alleine anfangen zu brennen“, sagt er und grinst. Deng macht sich Sorgen, denn schon wieder sind Äthiopier aus dem Camp verschwunden. Das Ziel der Reise ist für ihn klar: Italien. „Die UN weiß nicht, was sie mit uns machen soll, und wir wissen auch nicht weiter“, sagt Youssef Deng.
Die Weltgemeinschaft bleibt den Flüchtlingen eine Antwort schuldig. „Die UN spricht von Resettlement, also einer Ansiedlung an einem für uns sicheren Ort auf der Welt“, sagt Deng. Doch Genaues weiß auch das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk, nicht. „Wir können nicht mehr tun, als an die Staaten zu appellieren“, sagt der deutsche Sprecher Rouven Brunnert. Man sei mit der Europäischen Union im Gespräch und mit der Bundesregierung,. Doch Brunnert weiß, dass Flüchtlingsdramen eine Ewigkeit dauern können: „In der Westsahara leben Flüchtlinge des Krieges mit Marokko schon seit Jahrzehnten in Wüstencamps, weil wir kein Aufnahmeland für sie finden können.“ Während die Helfer mit den Politikern reden und reden, starten die überfüllten und seeuntauglichen Boote mit den aus Libyen vertriebenen Afrikanern Tag für Tag an der nordafrikanischen Küste in Richtung Europa.
In der Nacht, wenn die Sterne über der Wüste funkeln, ist die Stunde derjenigen gekommen, die nicht länger warten wollen. „Nachts verschwinden sie über den Zaun, und die Tunesier lassen sie ziehen. Sie wissen ja, dass sie nicht im Land bleiben werden“, sagt Bright Deltasan. Es ist kein Geheimnis im Camp, dass der Weg nach Europa übers Mittelmeer führt, dass dabei schon Tausende Afrikaner ertrunken sind. „Viele Flüchtlinge glauben, dass sie für immer in der Wüste bleiben sollen, dass das der Plan der Weltgemeinschaft ist“, sagt Deltasan. „Da ist das Mittelmeer doch die bessere Alternative“ , sagt er und wendet seinen Blick ab.
*Namen der Flüchtlinge zum Teil geändert
Ein Ort für Schutzbefohlene: Camp Shousha wurde Ende Februar von UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, errichtet, als sich in Libyen die Lage für Afrikaner zuspitzte. Es liegt an der tunesisch-libyschen Grenze nahe der Ortschaft Ras Ajdir.
Rund 4 000 Flüchtlinge leben laut UNHCR derzeit in Shousha. Es handelt sich um so genannte Schutzbefohlene, die bereits in Libyen Flüchtlingsstatus genossen haben. Über 700 entkamen dem Völkermord in der sudanesischen Provinz Darfur.
Kein Land ist derzeit zu ihrer Aufnahme bereit – obwohl eine Rückkehr nach Libyen und die Heimatländer ausgeschlossen ist, ebenso eine Ansiedlung im nach-revolutionären Tunesien. Viele Flüchtlinge haben auf eigene Faust die gefährliche Flucht über das Mittelmeer gewagt. Wie viele dabei ums Leben kamen, ist unbekannt.
Berliner Zeitung, 10.08.2011