Tunesien - Zwischen Revolution und Migration
Erste Fragmente eines Reiseberichts
Von kein mensch ist illegal/Hanau – erstmalig erschienen in: Swing
„Wir hatten uns bereits im Vorfeld um verschiedenste Kontakte bemüht, in Tunis haben sich schnell weitere, neue Möglichkeiten ergeben, so dass wir ein ganzes Spektrum von aktiven Leuten treffen konnten, die alle auch mit Migrationsfragen zu tun haben: von Menschenrechtsorganisationen und (Migrations)Forschern bis zu GewerkschafterInnen und ParteienvertreterInnen, von einer christlich-kirchlichen Beratungsstelle über eine selbstorganisierte Solidaritätsinitiative für die libyschen Flüchtlinge bis hin zu studentischen AktivistInnen und spontanen Kontakten auf der Strasse. In zwei Tagen konnten wir eine Fülle spannender Informationen sammeln, von der Repression gegenüber Flüchtlingen und „Harragas“ (wörtlich „Grenzverbrennern“ – tunesischen „illegal“ ausgereisten MigrantInnen) unter dem Ben Ali-Regime bis zum aktuellen Migrationsgeschehen.
Zur Gesamtsituation: Als wir ankamen, bestand nächtliche Ausgangssperre von 21 bis 5 Uhr, auf zentralen Plätzen und vor wichtigen Gebäuden ist eine anhaltende massive Militärpräsenz (mit kleinen Panzern und Natodraht), und für uns gestaltet sich die ganze Situation ziemlich unübersichtlich. An den Wänden vielerorts Grafittis, darunter „Thank you Facebook“ und der nette Spruch: „Tunesien ist schön – ohne Ben Ali und die 40 Räuber“.
Es gibt Leute, die die aktuelle und weitere Entwicklung ziemlich pessimistisch sehen: die Repressionen würden zunehmen bis hin zu Befürchtungen vor einem Militärputsch. Andere sind überzeugt, dass die TunesierInnen sich die Revolution nicht mehr klauen lassen, dass es jetzt darauf ankomme, Demokratie zu lernen bzw. auszubauen. Wieder andere scheinen sehr optimistisch und haben nach wie vor den Enthusiasmus des Umbruchs in den Augen und in ihrer Einschätzung … Es gab/gibt in den letzten Tagen keine größeren Mobilisierungen in Form von großen Demos oder Platzbesetzungen, die ja in den letzten Wochen zur Absetzung der Übergangsregierungen (mit Vertertern des alten Regimes!) geführt hatten. Allerdings kommt es immer wieder zu kleineren Protestaufläufen sowie zu vielen kleinen Streiks, in denen die Menschen jeweils ein besseres Einkommen fordern. Die Situation in Tunis erschien ingesamt eher abwartend, auf die für den 24. Juli geplanten Wahlen?
Netzwerktreffen mit tunesischen StudentInnen der FLPT (Front Liberation Populaire Tunesie) und der Knowledge Liberation Front: In der Ankündigung unserer Kontaktreise hatten wir kurz erwähnt, dass zeitgleich mit uns eine weitere europäische Reisegruppe in Tunis unterwegs sein wird und wir hier eine Kooperation suchen wollen. Diese Gruppe geht auf ein internationales Treffen von Uni-Streik-AktivistInnen im Februar in Paris zurück, wo diese ein transnationales Netzwerk gegründet hatten. Mit dabei waren in Paris auch Aktive aus Tunesien. Die FLPT hatte jetzt zu einem Gegenbesuch in Tunis eingeladen, um eine größeres transnationales Meeting für September/Oktober 2011 – wiederum in Tunis – vorzubereiten. Dazu wurde in den letzten Tagen von vor allem italienischen und tunesischen AktivistInnen eine Einladung erarbeitet (siehe Kasten), und Migration wird ein prominentes Thema auf dem Meeting sein. Als welcome to europe und noborder-AktivistInnen haben wir eine Mitarbeit zugesagt und eine Beteiligung bzw. ein weiterer Besuch in Tunis im Herbst erscheint uns auch durchaus sinnvoll für die Festigung bzw. Vertiefung der verschiedenen Kontakte. Denn wir sehen hier eine gute Möglichkeit, im Rahmen einer übergreifenden Perspektive eine transmediterrane Zusammenarbeit gegen das EU-Grenzregime zu entwickeln.
Abstecher zu den Ausgangspunkten der Revolution – Sidi Bouzid und Südtunesien: Beim Zwischenstopp in Sidi Bouzid, der Kleinstadt im tunesischen Hinterland, wo der Aufstand mit der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 begonnen hatte, treffen wir auf eine Gruppe Jugendlicher. Durch den tunesischen aei-Mitstreiter in unserer Reisegruppe finden wir schnellen Zugang und Vertrauen, und sie erzählen uns in den nächsten beiden Stunden nicht ohne Stolz von ihrer Erlebnissen und Erfahrungen in der Revolte. Gerade kommt es zu den Protestaktionen in Spanien auf vielen Plätzen vor den dortigen Wahlen und die Jugendlichen sind sich bewusst, dass ihr Aufstand nicht nur quer durch Nordafrika und die arabische Welt sondern bis nach Europa Wellen schlägt. Ihre soziale und ökonomische Situation hat sich bislang kaum verbessert, es bekommen nur Arbeitslose mit akademischem Abschluss bzw. Diplom ein neu eingeführtes Arbeitslosengeld. Immerhin ein erster Schritt, den sie mit dem Aufstand erzwungen haben. Sie waren auch mehrfach in Tunis, zuletzt bei den Protesten Ende Februar, die zum Rücktritt der Übergangsregierung geführt hatte.
Daran beteiligt war auch das Revolutionskomitee aus Ben Gardane, einer südtunesische Stadt mit 80.000 Einwohnern nahe der libyschen Grenze. Mit vier Bussen sind sie zu den sog. Kasbah-Besetzungen gefahren, um zu verhindern, dass der revolutionäre Prozess von Vertretern des alten Regimes erstickt wird. In Ben Gardane gab es bereits im August 2010 eine „petit Revolution“, und in dem Grenzort kam es auch in den Revolutionstagen im Januar zu schweren Auseinandersetzungen. In dessen Verlauf wurde zunächst das Gebäude der Regierungspartei RCD abgebrannt, die Jugendlichen zündeten dann auch die Polizeistation an und wir konnten einen Rundgang durch die Brandruinen unternehmen. In Ben Gardane kamen im März auch zehntausende von Flüchtlingen aus Libyen an, und noch bevor große Hilfsorganisationen aktiv wurden, hatte die lokale Bevölkerung in einer unglaublichen Solidaritätskampagne Unterbringung und Versorgung (selbst)organisiert. Dass diese arabische Solidarität nicht in gleichem Masse den subsaharischen Flüchtlingen und Vertriebenen aus Libyen galt, deutete sich schon in unseren Interviews an. Dass es dann schon wenige Tage später aus diesem Ort zu einem regelrechten Pogrom gegenüber dem subsaharischen Flüchtlingslager kam (siehe unsere Pressemitteilung im Kasten), hatten wir allerdings nicht erwartet und zeigt einmal mehr die ambivalenten sozialen Prozesse in dieser Region…
Unsere Reisegruppe plant bis Juli die Erstellung einer Broschüre, in der wir weitere Eindrücke und u.a. einige Ergebnisse aus unseren Interviews veröffentlichen wollen. Zum Überblick, einer weitergehenden Einschätzung sowie Chronologie des tunesischen Aufstands sei auf die angehängten Lesehinweise verwiesen.?Und wer uns direkt dazu kontakten möchte: kmii-hanau@antira.info
Lesehinweise:
Helmut Dietrich: Die tunesische Revolte als Fanal. Kommentar und Chronik (17. Dezember 2010–14. Januar 2011, PDF
Die zweite Welle – Mit der Flucht Ben Alis setzte in Tunesien eine neue Dynamik sozialer Kämpfe ein
http://www.akweb.de/ak_s/ak561/28.html
und im Labournet:
http://www.labournet.de/internationales/arabien/aufstande2011.html