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18. Februar 2022 | Stellungnahme zum französischen Truppenabzug aus Mali

Folgende Stellungnahme zum französischen Truppenabzug aus Mali haben wir als Pressemitteilung am 18. Februar 2022 veröffentlicht:

Während einer Pressekonferenz hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am 17.02.2022 den Abzug der französischen Armee aus Mali bekannt gegeben. Dieser Schritt kommt nicht überraschend, dennoch muss seine Begründung irritieren. Denn Macron ließ in seinem Statement nicht die geringste Selbstkritik erkennen. Er stellte noch nicht einmal die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass in den letzten Jahren nicht nur in Mali, sondern in zahlreichen Ländern Westafrikas die ehemalige Kolonialmacht massiv an Vertrauen eingebüßt hat. Stattdessen schiebt er die Schuld auf die aus einem Putsch hervorgegangene Übergangsregierung in Mali sowie russische Desinformationspolitik.

Als transnationales Netzwerk sind wir auch in Mali tätig. Viele unserer Mitglieder leben in Mali – darunter bäuerliche Gemeinschaften, die im Bewässerungsgebiet des Office du Niger direkt vom Terror dschihadistischer Gruppen betroffen sind. Das ist der Grund, weshalb wir der Lesart des französischen Präsidenten ausdrücklich widersprechen möchten:

Frankreich ist erstens an seiner Antiterrorpolitik gescheitert: Anstatt vertraulich mit den malischen Sicherheitskräften und Behörden zusammenzuarbeiten, hat die französische Armee seit 2013 immer wieder eigenmächtig agiert. Als militärische Maxime dienten erklärtermaßen Konzepte der Aufstandsbekämpfung, deren Wurzeln im Kolonialismus liegen, wie der bekannte französische Journalist Rémi Carayol in einer beeindruckenden Recherche jüngst gezeigt hat (https://afriquexxi.info/article4907.html). Besagte Konzepte sehen vor, bei der Bekämpfung von Aufständischen – in diesem Fall: Terroristen – gezielt mit lokalen bewaffneten Gruppen zusammenzuarbeiten (weil nur diese über die notwendige Kenntnis des Terrains verfügen würden). Unter diesen lokalen Gruppen befanden sich jedoch in Mali kriminelle Schmugglerbanden genauso wie dschihadistische und separatistische Akteure, die nachweislich schwerste Verbrechen begangen haben und daher von der malischen Justiz (mit Haftbefehl) gesucht wurden. Entsprechend ist Frankreich seit 2014 regelmäßig in der malischen Öffentlichkeit kritisiert worden. Besonders umstritten war das französische Vorgehen in der nordmalischen Stadt Kidal, die mit französischer Zustimmung jahrelang durch bewaffnete Separatisten gehalten wurde – darunter der von Iyad Ag Ghaly angeführten dschihadistischen Gruppierung Ansar Dine.

Frankreich ist zweitens an seiner Doppelmoral gescheitert: Als in Tschad im April 2021 der Langzeitdiktator Idriss Déby bei Gefechten mit Rebellen ums Leben kam und sodann von seinem Sohn im Amt beerbt wurde, hat Frankreich diese Erbfolgeregelung bei seinem engen militärischen Verbündeten stillschweigend akzeptiert. Ähnlich in der Elfenbeinküste, Togo und Guinea: Dort haben 2020 die als Freunde Frankreichs geltenden Präsidenten unter fragwürdigen Umständen Gesetze und Verfassungstexte ändern lassen, um sich entgegen des Geistes der jeweiligen Verfassungen eine dritte Amtszeit zu sichern. In Mali hingegen, wo sich die Übergangsregierung frankreichkritisch gibt (aus Gründen, die wir keineswegs in Gänze teilen), ist Frankreich nicht bereit, die Übergangsregierung anzuerkennen, obwohl sie sich bis heute von einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung getragen weiß.

Frankreich ist drittens an seiner Haltung gescheitert. Denn das offizielle Frankreich ist bis heute weder willens noch in der Lage, einen adäquaten Umgang mit der Tatsache zu finden, dass es als ehemalige Kolonialmacht unter besonderer Beobachtung steht, und das auch deshalb, weil französische Regierungen bis in die Gegenwart die ehemals kolonisierten Gebiete in West- und Zentralafrika als französische Einflusssphäre betrachten. Umso ausdrücklicher möchten wir darauf hinweisen, dass die hiermit verknüpften Fragestellungen in Frankreich äußerst kontrovers diskutiert werden. Stellvertretend zitiert sei der berühmte Anthropologe Jean-Pierre Olivier de Sardan, der über die französische und nigrische Staatsbürgerschaft verfügt: “Die Verbrechen der Kolonialisierung anerkennen, klar mit der Françafrique und dem, was von ihr übrig geblieben ist, brechen, der Herablassung, der Arroganz, den Befehlen und einseitigen Entscheidungen ein Ende setzen, Ratschläge durch Zuhören ersetzen, von einer standardisierten, formatierten und flüchtigen Hilfe zu bescheideneren, zuverlässigeren, dauerhafteren und flexibleren Unterstützungen übergehen, bei den einen nicht mehr das zuzulassen, wofür man die anderen verurteilt, keine Lektionen über Moral und Republikanismus zu erteilen, die oft durch die Praktiken zahlreicher französischer Politiker widerlegt werden, afrikanischen Studenten ganz einfach die Fortsetzung ihres Studiums in Frankreich zu ermöglichen – all das ist im Grunde recht einfach, aber dennoch keine leichte Aufgabe.”

In diesem Sinne möchte Afrique-Europe-Interact an alle Medienschaffenden appellieren, die vom Élysée-Palast lancierten Lesarten kritisch zu hinterfragen. Denn die Lage in Mali ist extrem angespannt. Die Bevölkerung leidet immer stärker unter den von der ECOWAS verhängten Sanktionen, wie Mitglieder unseres Netzwerkes berichten. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Bevölkerung die Übergangsregierung nicht deshalb unterstützt, weil sie kein Interesse an Wahlen hätte. Im Gegenteil: Die Menschen wollen einen echten Wechsel, doch dieser ist nicht mit fassadendemokratischen Wahlen zu erzielen, die lediglich die alte korrupte politische Klasse wieder in ihre Ämter bringen würden. Das ist auch der Grund, weshalb die auf Nationalen Versammlungen im Dezember 2021 unter breiter Beteiligung der Bevölkerung erarbeiteten Beschlüsse zu einer längeren Übergangsphase explizit mitgetragen werden.

Unser Netzwerk hat zu den diesbezüglichen Fragen in zwei offenen Briefen am 24.01.2022 und am 09.02.2022 ausführlich Stellung bezogen. Auf beide möchten wir an dieser Stelle erneut hinweisen, auch mit Blick darauf, dass es aus unserer Sicht die Lage in Mali erheblich verschlechtern würde, wenn im Zuge der französischen Entscheidung die UN-Friedensmission MINUSMA ebenfalls in Bedrängnis käme:

Offener Brief an Bundesregierung: Keine Unterstützung der ECOWAS-Sanktionen: https://afrique-europe-interact.net/2113-0-Offener-Brief-an-Deutsche-Bundesregierung-etc.html

MINUSMA und EUTM: Informationen und Empfehlungen zur aktuellen Lage in Mali: https://afrique-europe-interact.net/2114-0-Fragen-und-Antworten-zu-Mali-02-2022.html

Darüber hinaus möchten wir darauf aufmerksam machen, dass Schriftsteller:innen, Wissenschaftlicher:innen und Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen in Westafrika den gestern verkündeten Truppenabzug zum Anlass genommen haben, die französische Afrika-Politik einmal mehr einer Grundsatzkritik zu unterziehen – unter anderem in einer Erklärung, die der bekannte senegalesische Schriftsteller Boubacar Boris Diop mitverfasst hat:

https://blogs.mediapart.fr/association-survie/blog/170222/la-france-au-sahel-fausse-note-dans-la-petite-musique-elyseenne-au-sommet-ue-afrique?utm_source=twitter
Ggf. mit deepl.com übersetzen – diese Übersetzungen funktionieren weitgehend fehlerfrei.

Für Rückfragen steht Ihnen gerne Olaf Bernau zur Verfügung, hierzu gehört auch die Vermittlung direkter Kontakte zu Mitgliedern unseres zivilgesellschaftlichen Netzwerks in Mali (Mail: olafbernau@posteo.de, Mobil: 015152527776).