09. Februar 2022 | MINUSMA und EUTM: Informationen und Empfehlungen zur aktuellen Lage in Mali
Diesen Brief haben wir am 09.02.2022 teils per Post, teils per Mail verschickt – er ist auch als Pressemitteilung rausgegangen. Seine Verbreitung ist ausdrücklich gewünscht.
Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung,
sehr geehrte Bundestagsabgeordnete von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, CDU, CSU und DIE LINKE,
sehr geehrte Parteivorstände von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, CDU, CSU und DIE LINKE,
die politische Situation in Mali spitzt sich immer weiter zu, entsprechend hat sich in den letzten Wochen eine öffentliche Debatte darüber entwickelt, ob Deutschland seine Beteiligung an der UN-Friedensmission MINUSMA sowie an der EU-Ausbildungsmission EUTM überhaupt noch fortführen könne. Als Afrique-Europe-Interact [1] bedauern wir diese Entwicklungen sehr, denn sie bergen die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der malischen Gesellschaft.
Gleichzeitig fällt auf, dass der allgemeine Kenntnisstand zur aktuellen Lage in Mali bzw. in den westlichen Sahelländern relativ gering ist – eine Tendenz die damit einhergeht, dass Stimmen aus dem Sahel kaum zu Wort kommen. Das ist der Grund, weshalb wir die in unseren Augen wichtigsten Fragen zusammen getragen und jeweils kurz beantwortet haben – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das, was wir von unseren Kolleg:innen in Mali in Whatsapp-Nachrichten, Telefonaten oder Videokonferenzen mitbekommen. Hiervon versprechen wir uns nicht nur eine bessere Fundierung der öffentlichen Debatte. Vielmehr möchten wir auch einen Beitrag zum Umdenken leisten: Mali befindet sich in einer extrem schwierigen Lage, gleichzeitig gibt es vielversprechende Lösungsansätze. Um diese zu stärken, ist es freilich erforderlich, die innermalischen Auseinandersetzungen genauer zur Kenntnis zu nehmen, also zu verstehen, weshalb die aus einem Putsch hervorgegangene Übergangsregierung von großen Teilen der Bevölkerung als Chance für eine demokratische Erneuerung begriffen wird.
Konkret haben wir uns mit folgenden Fragen- bzw. Problemstellungen beschäftigt: (1) Weshalb es irreführend ist, von einer Militärregierung oder Junta zu sprechen, die den demokratischen Prozess in Mali sabotieren würde. /// (2) Weshalb die Verschiebung der Wahlen nötig ist, um die institutionellen Voraussetzungen für einen demokratischen Neuanfang zu schaffen. /// (3) Weshalb die malische Bevölkerung die Verschiebung der Wahlen mehrheitlich gutheißt. /// (4) Weshalb der Staat und die (bisherige) politische Klasse in Mali das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben. /// (5) Weshalb Frankreich eine maßgebliche Mitverantwortung an der diplomatischen Eskalation mit der malischen Regierung trägt. /// (6) Weshalb der Konflikt mit Dänemark nicht überbewertet werden sollte. /// (7) Weshalb MINUSMA und EUTM Mali weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollten – ob mit oder ohne Deutschland. /// (8) Weshalb sich die malische Übergangsregierung gezwungen sah, militärische Unterstützung bei Russland anzufragen. /// (9) Weshalb der Konflikt in Mali langfristig nicht militärisch gelöst werden kann.
Für Rückfragen steht Ihnen gerne Olaf Bernau zur Verfügung, hierzu gehört auch die Vermittlung direkter Kontakte zu Mitgliedern unseres zivilgesellschaftlichen Netzwerks in Mali (Mail: olafbernau@posteo.de, Mobil: 015152527776).
Mit freundlichen Grüßen,
Volker Mörchen
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(1) Weshalb es irreführend ist, von einer Militärregierung oder Junta zu sprechen, die den demokratischen Prozess in Mali sabotieren würde
Es ist zwar zutreffend, dass die aktuelle malische Regierung aus einem Putsch im August 2020 hervorgegangen ist, dennoch wird es der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Mali nicht gerecht, wenn in hiesigen Medien immer wieder von einer Junta die Rede ist oder wenn die EU am 04.02.2022 restriktive Maßnahmen gegen 5 Mitglieder der malischen Übergangsregierung beschlossen hat, weil diese die Rückkehr zur Demokratie behindern würden. Vor allem zwei Aspekte sind zu beachten: Einerseits, dass es sich nicht um eine klassische Junta handelt, vielmehr sind die meisten Regierungsmitglieder Zivilist:innen. Das gilt auch für Premierminister Choguel Maïga, der weit davon entfernt ist, eine bloße Marionette von Assimi Goita zu sein, dem militärischen Staatsoberhaupt Malis. [2] Andererseits, dass es laut übereinstimmender Berichte interner und externer Beobachter:innen eine deutliche Mehrheit der Malier:innen ist, die den Kurs der Übergangsregierung mitträgt. Hierzu gehört auch, dass die Presse- und Meinungsfreiheit in keinster Weise unterbunden ist – das zeigt bereits ein kurzer Blick in die (sozialen) Medien oder in die Kommentarspalten großer Medienplattformen wie Maliweb.net. Insofern können wir die häufig zu hörende Behauptung nicht bestätigen, wonach sich Intellektuelle in Mali nicht mehr frei äußern könnten.
Zutreffend ist jedoch, dass es vereinzelt zu politisch motivierten Festnahmen gekommen ist. Am bekanntesten war sicherlich der Fall von Oumar Mariko, des Vorsitzenden der sozialistischen Partei SADI [3]. Gleichzeitig hat dies einen derartigen Sturm der Entrüstung erzeugt (und somit auch die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung bestätigt), dass Oumar Mariko wieder freigelassen wurde. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass im Zuge der Sanktionen eine Art patriotischer Überschwang entstanden ist, der ein punktuell einschüchterndes Meinungsklima geschaffen hat, von dem vor allem Vertreter:innen jener Parteien betroffen sind, die die Geschicke Malis seit den 1990er Jahren gesteuert haben und die heute von vielen Menschen für die Krise in Mali maßgeblich verantwortlich gemacht werden. Diese Tendenzen sind zweifelsohne besorgniserregend, das sagen auch einige unserer malischen Kolleg:innen. Sie sind aber nur eine Facette unter vielen. Zudem sollte nicht aus dem Blick geraten, dass sie unmittelbar mit den von außen kommenden Sanktionen zusammenhängen, weshalb Afrique-Europe-Interact bereits mehrfach davor gewarnt hat, dass die Sanktionen die innermalische Krise verschärfen würden.
(2) Weshalb die Verschiebung der Wahlen nötig ist, um die institutionellen Voraussetzungen für einen demokratischen Neuanfang zu schaffen.
Es sind zwei Gründe, die die malische Übergangsregierung veranlasst haben, den Wahltermin zu verschieben: Erstens wäre es in großen Teilen des Zentrums und des Nordens des Landes aus Sicherheitsgründen nicht möglich, reguläre Wahlen abzuhalten, geschweige denn Wahlkampf zu betreiben. Käme es dennoch zu Wahlen, könnte das die Legitimität des Wahlergebnisses in Frage stellen und so die gesellschaftlichen Spannungen zuspitzen. Zweitens ist der Putsch im August 2020 mit der Erwartung der Bevölkerung einhergegangen, auf institutioneller Ebene grundlegende Veränderungen umzusetzen, um das gesamte Wahl-Prozedere demokratischer zu gestalten. Konkret geht um zahlreiche Herausforderungen, unter anderem die folgenden: Erstens die Einrichtung einer von der Regierung gänzlich unabhängigen Wahlbehörde, um die Gefahr von Wahlmanipulationen zu verringern. Zweitens die Etablierung eines Wahlverfahrens, das die Registrierung für Wahlen erheblich vereinfacht. Das aktuelle Verfahren begünstigt tendenziell jene Menschen, die besser gebildet und informiert sind und die zudem über die finanziellen Mittel verfügen, sich eine Identitätskarte (NINA) zu besorgen, welche Voraussetzung dafür ist, sich als Wähler:in registrieren zu lassen. Drittens die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer, über die unter anderem eine stärkere Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gewährleistet wäre, etwa traditioneller Autoritäten wie Ältestenräte oder Frauen- und Jugendorganisationen, die vor allem in ländlichen Regionen eine tragende Rolle spielen. Viertens die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes, das grundlegende Fragen regelt, etwa die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung, die Herstellung eines angemessenen Proporzes zwischen Stimmbezirk und Abgeordnetenzahl oder den Modus, nach dem die Wahlergebnisse aufgeschlüsselt nach Stimmbezirken bekannt gegeben werden.
Die institutionelle Umsetzung dieser und zahlreicher weiterer Maßnahmen bedarf zweifelsohne Zeit, vor allem ist sie die einzige Chance, langfristig einen Wahlablauf zu ermöglichen, der nicht mehr von großen Teilen der Bevölkerung als Ausdruck einer bloßen Fassadendemokratie empfunden wird. Entsprechend wird an diesem Punkt deutlich, dass der Vorwurf unzutreffend ist, wonach die Übergangsregierung den demokratischen Übergang mutwillig verschleppen würde. Vielmehr bescheinigt selbst die UN-Friedensmission MINUSMA in ihrem jüngsten vierteljährlichen Lagebericht (04.01.2022), dass sich die Übergangsregierung um die entsprechenden Fragestellungen ernsthaft kümmern würde: “Während des Berichtszeitraums setzten die Übergangsbehörden ihre Bemühungen zur Umsetzung ihrer politischen Programmatik auf der Grundlage des Aktionsplans der Übergangsregierung um, insbesondere die Wahlreformen und die Einrichtung eines einheitlichen Wahlverwaltungsorgans, sowie die Durchführung eines breit angelegten nationalen Reformdialogs (Assises nationales de la refondation), um die Grundlage für politische und institutionelle Reformen zu schaffen” [4].
Ungeachtet dessen stellt sich die Frage, wie lang der Zeitraum tatsächlich sein sollte, um besagte institutionellen Reformen zu verwirklichen. Viele unserer Gesprächspartner:innen in Mali sagen, dass ursprünglich drei Jahre angedacht waren, dass dann jedoch die Kritiker:innen der Übergangsregierung die lediglich als Ultima Ratio angedachten 5 Jahre gezielt skandalisiert haben, um die Übergangsregierung zu delegitimieren. Letztlich dürfte diese Frage von vielen Faktoren abhängen, nicht zuletzt davon, wie sich die allgemeine Sicherheitslage entwickelt, wobei niemand die Forderung erhebt, dass im gesamten Land hundertprozentige Sicherheit zu herrschen habe, bevor Wahlen stattfinden könnten. An diesem Punkt ist auch eine Parallele hilfreich: Als im Nachbarland Burkina Faso im Oktober 2014 der Langzeitherrscher Blaise Compaoré gestürzt wurde, vereinbarte die Übergangsregierung mit der internationalen Gemeinschaft einen Übergang von einem Jahr. Heute sagen viele, dass diese Phase zu kurz gewesen sei, um nach 27 Jahren Diktatur einen wirklichen Neuanfang zu machen. Folge sei gewesen, dass mit Roch Marc Kaboré ein langjähriger Getreuer von Blaise Compaoré zum Präsidenten gewählt worden sei, was seinerseits den jüngsten Putsch in Burkina Faso am 23.01.2022 begünstigt habe – so jedenfalls eine These, die in einer aktuellen Veröffentlichung des Leibniz-Institut Hessische Friedens- und Konfliktforschung zur Debatte gestellt wird. [5]
(3) Weshalb die malische Bevölkerung die Verschiebung der Wahlen mehrheitlich gutheißt.
Die Verschiebung der Wahlen war kein Willkürakt der Übergangsregierung. Vielmehr war die angekündigte Verschiebung von maximal 5 Jahren das Ergebnis einer Serie „Nationaler Versammlungen“, bei denen im Laufe des Dezember 2021 in hunderten lokalen, regionalen und landesweiten Konferenzen Eckpunkte zum Wiederaufbau Malis diskutiert wurden. Die Abhaltung nationaler Versammlungen gehörte zu einem der wichtigsten Versprechen der Putschist:innen im August 2020. Konkret haben an den Nationalen Versammlungen rund 80.000 Menschen teilgenommen, darunter zahlreiche junge Menschen, was in Mali keinesfalls selbstverständlich ist. Dies verdeutlicht – zusammen mit der ohnehin hohen Zustimmung zur Übergangsregierung [6] –, inwiefern es irreführend ist, die Verschiebung der Wahlen als antidemokratischen Akt zu kritisieren.
Gleichwohl sei zweierlei relativierend hinzugefügt: Einerseits, dass Beobachter:innen die offiziellen Schlussfolgerungen aus den Nationalen Versammlungen zumindest teilweise als geglättet zugunsten der Übergangsregierung beschreiben, jedenfalls gemessen daran, wie vielstimmig die Diskussionen streckenweise verlaufen sind. Andererseits, dass das etablierte politische Parteienspektrum [7] sowie die ihr nahestehenden zivilgesellschaftlichen und religiösen Organisationen die Verschiebung der Wahlen massiv kritisieren. Dies umfasst nicht nur, dass die entsprechenden Parteien die Nationalen Versammlungen boykottiert und in der internationalen Öffentlichkeit scharf angeprangert haben, sondern auch, dass sie sich am 25.11.2021 in einer öffentlichen Erklärung dafür ausgesprochen haben, das bestehende elektorale Gefüge im wesentlichen beizubehalten. Letzteres ist eine legitime Forderung, wirkt aber angesichts der offenkundigen demokratischen Schwächen des derzeitigen Wahlverfahrens wie (besitzstandswahrende) Realitätsverweigerung.
(4) Weshalb der Staat und die (bisherige) politische Klasse in Mali das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben.
Dass eine Putschregierung derart großen Anklang in der Bevölkerung findet, stößt bei europäischen Beobachter*innen regelmäßig auf Unverständnis. In der deutschen Öffentlichkeit hat das sogar dazu geführt, dass der Bundeswehreinsatz in Mali immer stärker in Frage gestellt wird. Umso ausdrücklicher sei darauf hingewiesen, dass die jüngsten Putsche in Mali, Burkina Faso oder Guinea Spiegel jahrzehntelangen Regierungsversagens sind, insbesondere in den mehr oder weniger stark abgehängten ländlichen Regionen. Die Menschen sind der Korruption, Unterschlagung, Vetternwirtschaft, Wahlmanipulation, Misswirtschaft, Straflosigkeit etc. schlicht überdrüssig. Wer dies ignoriert, kann nicht erkennen, wie zynisch es in den Ohren der Bevölkerung klingen muss, wenn nunmehr die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS oder westliche Regierungen die möglichst rasche Rückkehr zu einer Ordnung fordern, die solche Verhaltensweisen überhaupt erst hervorgebracht hat.
Noch grundsätzlicher wird eine vom Sahel-Ausschuss der Vereinigung der Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) am 31.01.2021 veröffentlichte Pressemitteilung. Sie spricht davon, dass die nach der Unabhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten übernommenen staatlichen Strukturen unter dem immensen äußeren und inneren Druck endgültig kollabiert seien. Entsprechend müsse der Staatsaufbau wieder von neuem begonnen werden: “Gemeinwesen im Sahel müssen offensichtlich von unten wieder aufgebaut werden – in einer umgekehrten Kaskade von lokalen, regionalen und zentralen Aushandlungen. Sie müssen […] noch vor den klassischen Institutionen ein neues, gemeinsames Staatsverständnis entwickeln – einen neuen Sozialvertrag, einen Diskurs von friedlichem Zusammenleben in der Gemeinschaft. Gerade diesen Weg scheinen die Zivilgesellschaften in Mali und Burkina Faso zu gehen – bis hin zu Verhandlungen mit bewaffneten Gruppierungen, die eben nicht alle „äußere“ Feinde sind, die auf Motorrädern aus den Weiten der Wüste kommen. Der Westen sollte die Gesellschaften auf diesem Weg unterstützen, aber in genau dem Maße und mit den Maßnahmen, die dort gewünscht werden, und nicht mit denen, die aus den politischen Schlagworten in Paris, Brüssel oder Berlin hergeleitet sind.” [8].
(5) Weshalb Frankreich eine maßgebliche Mitverantwortung an der diplomatischen Eskalation mit der malischen Regierung trägt.
Zwischen Mali und Frankreich ist es Ende Januar zu einer beispiellosen (diplomatischen ) Eskalation gekommen, die in der Ausweisung des französischen Botschafters aus Mali gipfelte. In der deutschen bzw. europäischen Öffentlichkeit herrschte rasch Einigkeit darüber, dass die malische Übergangsregierung die alleinige Verantwortung für diese Eskalation trage. Sie sei es gewesen, die durch ihre sicherheitspolitischen Entscheidungen Öl ins Feuer gegossen habe – gemeint ist insbesondere die Kooperation mit russischen Streitkräften, die Ausweisung eines dänischen Kontingents der europäischen Takuba Task Force und die punktuelle Einschränkung des malischen Luftraumes (die am 19.01.2022 eine Bundeswehrmaschine zu einer Zwischenlandung in Gran Canaria gezwungen hat). Bemerkenswert an dieser Lesart ist, dass die Rolle Frankreichs keine weitere Erwähnung findet, stattdessen werden die Vorgänge primär einer angeblich außer Rand und Band geratenen Putschregierung zugeschrieben. Umso wichtiger ist es, das Verhalten Frankreich stärker in den Blick zu nehmen:
Ausgeblendet wird erstens, dass der maßgeblich von Frankreich getragene Antiterrorkampf in der Sahelzone von der malischen Seite schon seit Jahren als selbstherrlich und kontraproduktiv kritisiert wird – unter anderem deshalb, weil Frankreich immer wieder Bündnisse mit lokalen bewaffneten Gruppen eingegangen ist (auch solchen, die den malischen Staat bekämpfen) und weil die französische Armee nur unzureichend mit der malischen Armee zusammengearbeitet und so einen effektiven Kampf gegen bewaffnete Gruppen vereitelt hat. Und diese Kritik wird nicht nur in den Sahelländern weithin geteilt. Auch die regierungsnahe Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin spart nicht mit Kritik, unter anderem in einer viel beachteten Studie, die im Februar 2021 unter dem Titel “Unser schwieriger Partner. Deutschlands und Frankreichs erfolgloses Engagement in Libyen und Mali” veröffentlicht wurde. Der Autor Wolfram Lacher schreibt, dass die französische Politik in Mali “oftmals nachweislich zur weiteren Destabilisierung” beigetragen habe, was nicht zuletzt dem unilateralen Vorgehen Frankreichs geschuldet sei, einschließlich der Unfähigkeit der Militärs, “ambivalentere Realitäten” im Sahel angemessen zu begreifen [9].
Ausgeblendet wird zweitens, dass Mali auch deshalb auf militärische Unterstützung aus Russland setzt und die Verträge mit Frankreich einer Revision unterzieht, weil Frankreich im Sommer 2021 einseitig angekündigt hat, seine Streitkräfte in Mali zu reduzieren. In diesem Prozess, den Premierminister Choguel Maïga am 25.09.2021 in einer aufsehenerregenden Rede vor den Vereinten Nation thematisiert hat, ist nicht alles zufriedenstellend gelaufen – unter anderem, was die erwähnte Einschränkung des Flugverkehrs betrifft. Und doch sollte nicht der Eindruck erweckt werden (wie es der französische Außenminister getan hat), dass Mali als souveränem Staat nicht das Recht zustünde, eigene sicherheitspolitische Entscheidungen zu treffen, zumal solche, die sich breiter Unterstützung in der Bevölkerung erfreuen.
Ausgeblendet wird drittens, dass Frankreich im Umgang mit Putschregierungen seit jeher mit doppelten Standards hantiert und daher überall im Sahel erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Als in Tschad der Langzeitdiktator Idriss Déby im April 2021 bei Gefechten mit Rebellen ums Leben kam und sodann von seinem Sohn im Amt beerbt wurde, hat Frankreich diese Erbfolgeregelung bei seinem engen militärischen Verbündeten stillschweigend akzeptiert. Umgekehrt wird die malische Regierung, die Teil eines breiten demokratischen Aufbruchs ist, als “illegitim” gegeißelt (was weder rechtlich noch politisch zutreffend ist). Ärger noch: Frankreich bemüht sich mit Nachdruck um internationale Unterstützung der von der ECOWAS verhängten Sanktionen, und das, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass diese die humanitäre Lage in Mali ungemein verschärfen.
Ausgeblendet wird viertens, dass der Ausweisung des französischen Botschafters ungewöhnlich harsche Worte seitens der französischen Regierung vorausgegangen sind, welche ihrerseits vom malischen Außenminister Abdoulaye Diop in einem langen Interview entschieden zurückgewiesen wurden – unter anderem heißt es dort, dass „diese Beleidigungen und von Verachtung geprägten Worte inakzeptabel sind und nicht von Größe zeugen.” [10]. Auf all dies geht die französische Regierung mit keinem Wort ein, und das kann leider nicht verwundern. Die französische Haltung ist vielmehr Ausdruck davon, dass das offizielle Frankreich weder willens noch in der Lage ist, einen adäquaten Umgang mit der Tatsache zu finden, dass es als ehemalige Kolonialmacht unter besonderer Beobachtung steht, und das umso mehr, da französische Regierungen bis in die Gegenwart die ehemals kolonisierten Gebiete in West- und Zentralafrika als französische Einflusssphäre betrachten. Gleichwohl werden die hiermit verknüpften Fragestellungen in Frankreich kontrovers diskutiert. Stellvertretend zitiert sei der berühmte Anthropologe Jean-Pierre Olivier de Sardan, der über die französische und nigrische Staatsbürgerschaft verfügt. In einem lesenswerten Debattenbeitrag unter dem Titel “Le rejet de la France au Sahel : mille et une raisons ?” [Die Ablehnung Frankreichs in der Sahelzone: Tausend und ein Grund?] schrieb er am 7. Dezember 2021 der französischen Politik ins Stammbuch, wie sie ihr Verhalten zu ändern habe, um endlich Augenhöhe mit afrikanischen Regierungen herzustellen: “Die Verbrechen der Kolonialisierung anerkennen, klar mit der Françafrique und dem, was von ihr übrig geblieben ist, brechen, der Herablassung, der Arroganz, den Befehlen und einseitigen Entscheidungen ein Ende setzen, Ratschläge durch Zuhören ersetzen, von einer standardisierten, formatierten und flüchtigen Hilfe zu bescheideneren, zuverlässigeren, dauerhafteren und flexibleren Unterstützungen übergehen, bei den einen nicht mehr das zuzulassen, wofür man die anderen verurteilt, keine Lektionen über Moral und Republikanismus zu erteilen, die oft durch die Praktiken zahlreicher französischer Politiker widerlegt werden, afrikanischen Studenten ganz einfach die Fortsetzung ihres Studiums in Frankreich zu ermöglichen – all das ist im Grunde recht einfach, aber dennoch keine leichte Aufgabe.” [11]
(6) Weshalb der Konflikt mit Dänemark nicht überbewertet werden sollte.
Der Umstand, dass die malische Regierung einen dänischen Verband von rund 100 Soldat:innen aufgefordert hat, das Land wieder zu verlassen, gilt in der derzeitigen Debatte als einer der wichtigsten Belege für die vermeintliche Unberechenbarkeit der malischen Übergangsregierung. Umso wichtiger ist es, sich die tatsächlichen Abläufe vor Augen zu führen. Ausgangspunkt ist, dass dänische Streitkräfte von der malischen Regierung im November 2019 offiziell eingeladen wurden und dass die dänische Regierung diese Einladung im Juni 2021 offiziell angenommen hat. Doch die nächsten Schritte wurden nicht mehr mit Mali, sondern mit Frankreich abgestimmt – und zwar auf Grundlage der seit 2013 zwischen Frankreich und Mali abgeschlossenen Militärabkommen. Konkret wurden die dänischen Soldat:innen von einem französischen Militärflugzeug eingeflogen, ohne dass es vorher zu einer eigenständigen Registrierung der Soldat:innen durch malische Behörden gekommen wäre, was aber bei geplanten Kampfeinsätzen zwingend erforderlich ist. Gewiss, in normalen Zeiten wäre dieser Akt problemlos nachgeholt worden, doch die aktuellen Zeiten sind nicht normal, das wissen alle Beteiligten. Zudem sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das von Mali geforderte Vorgehen auch in Europa gang und gäbe ist. Will ein Angehöriger der Bundeswehr in Uniform nach Frankreich reisen, bedarf es einer vorherigen Registrierung. Passiert dies nicht, würden ebenfalls diplomatische Verwicklungen drohen.
(7) Weshalb MINUSMA und EUTM Mali weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollten – ob mit oder ohne Deutschland.
Die weitere Beteiligung der Bundeswehr an der UN-Friedensmission MINUSMA sowie der EU-Ausbildungsmission EUTM wird derzeit massiv in Frage gestellt. Als Begründung wird meist auf den Umstand der verschobenen Wahlen hingewiesen – ein Argument das den demokratischen Charakter der Übergangsregierung verkennt, wie bereits in den Punkten a), b) und c) ausgeführt wurde. Hinzu kommen weitere Kritikpunkte, die schwerwiegender sind. Beispielsweise, dass die MINUSMA-Truppen überproportional stark mit Selbstschutz befasst sind und daher eine fragwürdige Kosten-Nutzen-Relation aufweisen. Oder dass sich MINUSMA immer wieder – zum Teil auch mandatswidrig – von der französischen Antiterroroperation Barkhane instrumentalisieren lässt, mit dem Effekt, dass MINUSMA in den letzten Jahren immer stärker in den Strudel der durchaus berechtigten Kritik an Barkhane geraten ist.
Dennoch sollten die Erfolge von MINUSMA nicht unterschätzt werden. Denn die UN-Friedensmission ist innerhalb einer extrem destabilisierten Gesellschaft ein tendenziell stabilisierender Faktor. Einerseits, indem sie – jedenfalls dort, wo sie zum Einsatz kommt – eine Schutzwirkung gegenüber der Zivilbevölkerung entfaltet, was seinerseits Voraussetzung für die Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen ist. Andererseits, indem sie auf unterschiedlichen Ebenen an den prinzipiellen (leider widersprüchlich gewobenen) Zielsetzungen des Friedensabkommens von Algier festhält und somit wertvolle Beiträge zum Zustandekommen lokaler Friedensverträge leistet. So wird im aktuellen MINUSMA-Report der UN in Absatz 28 näher auf den von MINUSMA unterstützten Friedensprozess in dem Dorf Ogossagou im Zentrum Malis eingegangen. Ogossagou ist 2019 in die weltweiten Schlagzeilen geraten, nachdem die von der damaligen Regierung unter Präsident Ibrahim Boubacar Keita geförderte Miliz Dan Na Ambassagou 172 Menschen ermordet hat, überwiegend Angehörige der Fulbe. Dass es in Ogossagou gelungen ist, einen halbwegs stabilen Frieden zu erzielen, ist ein beeindruckender Erfolg aller Beteiligten, also auch von MINUSMA, die zwischenzeitlich in dem Dorf stationiert war. Denn Ogossagou liegt just in jener Region, in der in den letzten Jahren die meisten Opfer in Mali zu beklagen waren. Kurzum – ein Rückzug Deutschlands wäre sorgfältig abzuwägen. Denn Fakt ist, dass Deutschland innerhalb von MINUSMA eine politisch und logistisch bedeutsame Rolle spielt, und das mit der Konsequenz, dass ein Rückzug aus MINUSMA die gesamte Friedensmission in Schwierigkeiten bringen könnte.
Ganz ähnlich bei der EU-Ausbildungsmission EUTM. Auch hier gilt, dass die malische Armee weiterhin auf externe Unterstützung bei Ausbildung und Ausstattung angewiesen ist und dass daher eine Verkleinerung von EUTM ihre Fähigkeit schwächen würde, effektiv gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen (ein Umstand, der umso bedauerlicher wäre, als die malische Armee in den letzten Wochen erstmalig seit langem größere Gebiete befreit konnte – unter anderem in dem für die Ernährungssicherung Malis so wichtigen Bewässerungsgebiet des Office du Niger).
(8) Weshalb sich die malische Übergangsregierung gezwungen sah, militärische Unterstützung bei Russland anzufragen.
Die malische Regierung wird derzeit für ihre militärische Kooperation mit russischen Sicherheitskräften scharf kritisiert. Unabhängig davon, wie man zur russischen Politik steht, scheint diese Kritik weder konsequent noch gerechtfertigt zu sein. Denn Mali befindet sich derzeit in einer Art Sicherheitsfalle: Einerseits ist es auf externe Hilfe angewiesen, um eine Machtübernahme durch dschihadistische Kräfte im gesamten Staatsgebiet zu verhindern, andererseits sind die verfügbaren Möglichkeiten äußerst begrenzt: MINUSMA hat keinen Kampfauftrag, die von Frankreich aufgestellte Takuba Task Force ist nicht stark genug (auch deshalb, weil sich große Länder wie Deutschland kaum beteiligen) und Frankreich ist dabei, sein Engagement in Mali deutlich zu reduzieren (weil die französische Variante von Antiterrorpolitik an ihre Grenzen gestoßen ist). Vor diesem Hintergrund sah sich die malische Regierung buchstäblich gezwungen, von Russland Unterstützung zu erfragen, was jedoch in erster Linie eine pragmatische Entscheidung ist, weniger eine programmatisch-ideologische.
Inwiefern es sich bei den nunmehr in Mali aktiven Soldat:innen aus Russland um Angehörige des privaten Sicherheitsunternehmens Wagner handelt, ist unklar. Westliche Geheimdienste bejahen dies, die malische Regierung bestreitet, dass russische Söldner:innen in Mali tätig seien. Allerdings spricht vieles dafür, dass es sich um einen Nebenschauplatz handelt. Denn Fakt ist, dass russische Soldat:innen vor Ort sind, ausgestattet mit russischer Militärtechnik und ganz zweifelsohne mit Zustimmung des russischen Präsidenten Putin. Insofern wird es zukünftig in erster Linie darum gehen, die Lage der Menschenrechte genau zu beobachten. Denn dass es zu Menschenrechtsverletzungen kommen wird, ist in einem solchen Krieg leider nicht auszuschließen, so wie es ja im Sahel auch durch französische, malische und andere afrikanische Streitkräfte immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist.
(9) Weshalb der Konflikt in Mali langfristig nicht militärisch gelöst werden kann.
Die öffentliche Debatte zum Sahel wird in Europa immer wieder von militärischen Fragestellungen dominiert. Umso ausdrücklicher sei abschließend darauf hinweisen, dass diese Fokussierung irreführend ist. Denn die Krise im Sahel ist Ausdruck vielfältiger ökonomischer, politischer und sozialer Krisen – einschließlich der Klimakrise. Entsprechend können militärische Maßnahmen allenfalls flankierend wirksam werden. Wichtiger sind demgegenüber zivile Maßnahmen seitens der europäischen Länder: Erstens Unterstützung von Verhandlungen zwischen malischem Staat und dschihadistischen Gruppen, insbesondere solchen Gruppen, die sich primär aus malischen Mitgliedern zusammensetzen, etwa die Katiba Macina im Zentrum Malis; zweitens technische und politische Hilfestellung bei der Erneuerung staatlicher Institutionen, auch unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Strukturen lokaler Selbstverwaltung in ländlichen Regionen; drittens Gewährleistung umfassender entwicklungspolitischer Maßnahmen, die weit über das hinausgehen, was gemeinhin im entwicklungspolitischen Rahmen geschieht [12], und viertens diplomatische Bemühungen für eine schnellstmögliche Aufhebung der kontraproduktiven ECOWAS-Sanktionen. [13]
Fußnoten
[1) Afrique-Europe-Interact ist unter anderem in Mali aktiv, hauptsächlich in den Bereichen kleinbäuerliche Landwirtschaft, Migration, Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie. Vor diesem Hintergrund haben wir uns bereits am 24.01.2022 mit einem offenen Brief an die Deutsche Bundesregierung sowie mehrere Abgeordnete des Deutschen Bundestags gewandt – Anlass waren die ECOWAS-Sanktionen gegen Mali. Der Brief findet sich auf unserer Webseite an folgender Stelle: https://afrique-europe-interact.net/2113-0-Offener-Brief-an-Deutsche-Bundesregierung-etc.html
[2] Um sich einen Eindruck von der Zusammensetzung der aktuellen Regierung zu verschaffen, lohnt ein Blick auf deren Webseite: https://primature.ml/cat_team/ministres/
[3] Unser Mitglied Olaf Bernau hat die Vorgänge rund um Oumar Marikos Festnahme in einem Blogbeitrag ausführlich geschildert: https://olafbernau.de/2021/12/23/widerspruechliche-lage-in-mali-trotz-gewalt-und-repression-breite-beteiligung-der-bevoelkerung-an-nationalen-versammlungen/
[4] Eigene Übersetzung, vgl. hierzu: https://digitallibrary.un.org/record/3953112?ln=en
[5] Simone Schnabel: Looking back to understand the present: The coup in Burkina Faso and the legacy of regional interventions: https://blog.prif.org/2022/02/01/looking-back-to-understand-the-present-the-coup-in-burkina-faso-and-the-legacy-of-regional-interventions/
[6] Die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako führt seit 2012 regelmäßig repräsentative Umfragen in Mali durch, dem Mali-Mètre. Danach zeigten sich im März 2021 65 Prozent der malischen Bevölkerung mit der Übergangsregierung zufrieden, und dieser ohnehin schon hohe Wert ist im Zuge der Sanktionen eher noch nach oben gegangen. Vgl. http://library.fes.de/pdf-files/bueros/mali/10100/2021-12.pdf
[7] Das etablierte Parteienspektrum hat sich zu einer Plattform namens “Cade d'echange des partis et regoupements des partis politiques pour une transition réussie au Mali” zusammengeschlossen.
[8] Pressemitteilung vom 31.01.2021 (auch erschienen in der Wochenzeitung DIE ZEIT): https://www.vad-ev.de/wp-content/uploads/2022/01/VAD-Sahelausschuss-zu-Mali-Burkina-Putsch.pdf
[9] Vgl. https://www.swp-berlin.org/publikation/deutschlands-und-frankreichs-erfolgloses-engagement-in-libyen-und-mali
[10] Das Interview kann an folgender Stelle im Original nachgelesen werden: https://mali4infos.wordpress.com/2022/02/01/malis-aussenminister-reagiert-auf-frankreichs-beleidigungen-pour-batir-le-mali-abdoulaye-diop-se-prononce/#more-20813960
[11] Der Beitrag von Jean-Pierre Olivier de Sardan findet sich an folgender Stelle, aber leider hinter einer Paywall: https://aoc.media/opinion/2021/12/06/le-rejet-de-la-france-au-sahel-mille-et-une-raisons/
[12] In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich auf zwei ausführliche Stellungnahmen des Sahel-Ausschusses der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) verwiesen, der im Jahr 2020 insbesondere am Beispiel Burkina Fasos gezeigt hat, was das konkret bedeuten würde: https://www.vad-ev.de/vad-sahel-ausschuss/
[13] Vgl. Fußnote 1
Diesen Brief haben wir am 09.02.2022 teils per Post, teils per Mail verschickt – er ist auch als Pressemitteilung rausgegangen. Seine Verbreitung ist ausdrücklich gewünscht.
Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung,
sehr geehrte Bundestagsabgeordnete von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, CDU, CSU und DIE LINKE,
sehr geehrte Parteivorstände von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, CDU, CSU und DIE LINKE,
die politische Situation in Mali spitzt sich immer weiter zu, entsprechend hat sich in den letzten Wochen eine öffentliche Debatte darüber entwickelt, ob Deutschland seine Beteiligung an der UN-Friedensmission MINUSMA sowie an der EU-Ausbildungsmission EUTM überhaupt noch fortführen könne. Als Afrique-Europe-Interact [1] bedauern wir diese Entwicklungen sehr, denn sie bergen die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der malischen Gesellschaft.
Gleichzeitig fällt auf, dass der allgemeine Kenntnisstand zur aktuellen Lage in Mali bzw. in den westlichen Sahelländern relativ gering ist – eine Tendenz die damit einhergeht, dass Stimmen aus dem Sahel kaum zu Wort kommen. Das ist der Grund, weshalb wir die in unseren Augen wichtigsten Fragen zusammen getragen und jeweils kurz beantwortet haben – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das, was wir von unseren Kolleg:innen in Mali in Whatsapp-Nachrichten, Telefonaten oder Videokonferenzen mitbekommen. Hiervon versprechen wir uns nicht nur eine bessere Fundierung der öffentlichen Debatte. Vielmehr möchten wir auch einen Beitrag zum Umdenken leisten: Mali befindet sich in einer extrem schwierigen Lage, gleichzeitig gibt es vielversprechende Lösungsansätze. Um diese zu stärken, ist es freilich erforderlich, die innermalischen Auseinandersetzungen genauer zur Kenntnis zu nehmen, also zu verstehen, weshalb die aus einem Putsch hervorgegangene Übergangsregierung von großen Teilen der Bevölkerung als Chance für eine demokratische Erneuerung begriffen wird.
Konkret haben wir uns mit folgenden Fragen- bzw. Problemstellungen beschäftigt: (1) Weshalb es irreführend ist, von einer Militärregierung oder Junta zu sprechen, die den demokratischen Prozess in Mali sabotieren würde. /// (2) Weshalb die Verschiebung der Wahlen nötig ist, um die institutionellen Voraussetzungen für einen demokratischen Neuanfang zu schaffen. /// (3) Weshalb die malische Bevölkerung die Verschiebung der Wahlen mehrheitlich gutheißt. /// (4) Weshalb der Staat und die (bisherige) politische Klasse in Mali das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben. /// (5) Weshalb Frankreich eine maßgebliche Mitverantwortung an der diplomatischen Eskalation mit der malischen Regierung trägt. /// (6) Weshalb der Konflikt mit Dänemark nicht überbewertet werden sollte. /// (7) Weshalb MINUSMA und EUTM Mali weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollten – ob mit oder ohne Deutschland. /// (8) Weshalb sich die malische Übergangsregierung gezwungen sah, militärische Unterstützung bei Russland anzufragen. /// (9) Weshalb der Konflikt in Mali langfristig nicht militärisch gelöst werden kann.
Für Rückfragen steht Ihnen gerne Olaf Bernau zur Verfügung, hierzu gehört auch die Vermittlung direkter Kontakte zu Mitgliedern unseres zivilgesellschaftlichen Netzwerks in Mali (Mail: olafbernau@posteo.de, Mobil: 015152527776).
Mit freundlichen Grüßen,
Volker Mörchen
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(1) Weshalb es irreführend ist, von einer Militärregierung oder Junta zu sprechen, die den demokratischen Prozess in Mali sabotieren würde
Es ist zwar zutreffend, dass die aktuelle malische Regierung aus einem Putsch im August 2020 hervorgegangen ist, dennoch wird es der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Mali nicht gerecht, wenn in hiesigen Medien immer wieder von einer Junta die Rede ist oder wenn die EU am 04.02.2022 restriktive Maßnahmen gegen 5 Mitglieder der malischen Übergangsregierung beschlossen hat, weil diese die Rückkehr zur Demokratie behindern würden. Vor allem zwei Aspekte sind zu beachten: Einerseits, dass es sich nicht um eine klassische Junta handelt, vielmehr sind die meisten Regierungsmitglieder Zivilist:innen. Das gilt auch für Premierminister Choguel Maïga, der weit davon entfernt ist, eine bloße Marionette von Assimi Goita zu sein, dem militärischen Staatsoberhaupt Malis. [2] Andererseits, dass es laut übereinstimmender Berichte interner und externer Beobachter:innen eine deutliche Mehrheit der Malier:innen ist, die den Kurs der Übergangsregierung mitträgt. Hierzu gehört auch, dass die Presse- und Meinungsfreiheit in keinster Weise unterbunden ist – das zeigt bereits ein kurzer Blick in die (sozialen) Medien oder in die Kommentarspalten großer Medienplattformen wie Maliweb.net. Insofern können wir die häufig zu hörende Behauptung nicht bestätigen, wonach sich Intellektuelle in Mali nicht mehr frei äußern könnten.
Zutreffend ist jedoch, dass es vereinzelt zu politisch motivierten Festnahmen gekommen ist. Am bekanntesten war sicherlich der Fall von Oumar Mariko, des Vorsitzenden der sozialistischen Partei SADI [3]. Gleichzeitig hat dies einen derartigen Sturm der Entrüstung erzeugt (und somit auch die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung bestätigt), dass Oumar Mariko wieder freigelassen wurde. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass im Zuge der Sanktionen eine Art patriotischer Überschwang entstanden ist, der ein punktuell einschüchterndes Meinungsklima geschaffen hat, von dem vor allem Vertreter:innen jener Parteien betroffen sind, die die Geschicke Malis seit den 1990er Jahren gesteuert haben und die heute von vielen Menschen für die Krise in Mali maßgeblich verantwortlich gemacht werden. Diese Tendenzen sind zweifelsohne besorgniserregend, das sagen auch einige unserer malischen Kolleg:innen. Sie sind aber nur eine Facette unter vielen. Zudem sollte nicht aus dem Blick geraten, dass sie unmittelbar mit den von außen kommenden Sanktionen zusammenhängen, weshalb Afrique-Europe-Interact bereits mehrfach davor gewarnt hat, dass die Sanktionen die innermalische Krise verschärfen würden.
(2) Weshalb die Verschiebung der Wahlen nötig ist, um die institutionellen Voraussetzungen für einen demokratischen Neuanfang zu schaffen.
Es sind zwei Gründe, die die malische Übergangsregierung veranlasst haben, den Wahltermin zu verschieben: Erstens wäre es in großen Teilen des Zentrums und des Nordens des Landes aus Sicherheitsgründen nicht möglich, reguläre Wahlen abzuhalten, geschweige denn Wahlkampf zu betreiben. Käme es dennoch zu Wahlen, könnte das die Legitimität des Wahlergebnisses in Frage stellen und so die gesellschaftlichen Spannungen zuspitzen. Zweitens ist der Putsch im August 2020 mit der Erwartung der Bevölkerung einhergegangen, auf institutioneller Ebene grundlegende Veränderungen umzusetzen, um das gesamte Wahl-Prozedere demokratischer zu gestalten. Konkret geht um zahlreiche Herausforderungen, unter anderem die folgenden: Erstens die Einrichtung einer von der Regierung gänzlich unabhängigen Wahlbehörde, um die Gefahr von Wahlmanipulationen zu verringern. Zweitens die Etablierung eines Wahlverfahrens, das die Registrierung für Wahlen erheblich vereinfacht. Das aktuelle Verfahren begünstigt tendenziell jene Menschen, die besser gebildet und informiert sind und die zudem über die finanziellen Mittel verfügen, sich eine Identitätskarte (NINA) zu besorgen, welche Voraussetzung dafür ist, sich als Wähler:in registrieren zu lassen. Drittens die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer, über die unter anderem eine stärkere Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gewährleistet wäre, etwa traditioneller Autoritäten wie Ältestenräte oder Frauen- und Jugendorganisationen, die vor allem in ländlichen Regionen eine tragende Rolle spielen. Viertens die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes, das grundlegende Fragen regelt, etwa die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung, die Herstellung eines angemessenen Proporzes zwischen Stimmbezirk und Abgeordnetenzahl oder den Modus, nach dem die Wahlergebnisse aufgeschlüsselt nach Stimmbezirken bekannt gegeben werden.
Die institutionelle Umsetzung dieser und zahlreicher weiterer Maßnahmen bedarf zweifelsohne Zeit, vor allem ist sie die einzige Chance, langfristig einen Wahlablauf zu ermöglichen, der nicht mehr von großen Teilen der Bevölkerung als Ausdruck einer bloßen Fassadendemokratie empfunden wird. Entsprechend wird an diesem Punkt deutlich, dass der Vorwurf unzutreffend ist, wonach die Übergangsregierung den demokratischen Übergang mutwillig verschleppen würde. Vielmehr bescheinigt selbst die UN-Friedensmission MINUSMA in ihrem jüngsten vierteljährlichen Lagebericht (04.01.2022), dass sich die Übergangsregierung um die entsprechenden Fragestellungen ernsthaft kümmern würde: “Während des Berichtszeitraums setzten die Übergangsbehörden ihre Bemühungen zur Umsetzung ihrer politischen Programmatik auf der Grundlage des Aktionsplans der Übergangsregierung um, insbesondere die Wahlreformen und die Einrichtung eines einheitlichen Wahlverwaltungsorgans, sowie die Durchführung eines breit angelegten nationalen Reformdialogs (Assises nationales de la refondation), um die Grundlage für politische und institutionelle Reformen zu schaffen” [4].
Ungeachtet dessen stellt sich die Frage, wie lang der Zeitraum tatsächlich sein sollte, um besagte institutionellen Reformen zu verwirklichen. Viele unserer Gesprächspartner:innen in Mali sagen, dass ursprünglich drei Jahre angedacht waren, dass dann jedoch die Kritiker:innen der Übergangsregierung die lediglich als Ultima Ratio angedachten 5 Jahre gezielt skandalisiert haben, um die Übergangsregierung zu delegitimieren. Letztlich dürfte diese Frage von vielen Faktoren abhängen, nicht zuletzt davon, wie sich die allgemeine Sicherheitslage entwickelt, wobei niemand die Forderung erhebt, dass im gesamten Land hundertprozentige Sicherheit zu herrschen habe, bevor Wahlen stattfinden könnten. An diesem Punkt ist auch eine Parallele hilfreich: Als im Nachbarland Burkina Faso im Oktober 2014 der Langzeitherrscher Blaise Compaoré gestürzt wurde, vereinbarte die Übergangsregierung mit der internationalen Gemeinschaft einen Übergang von einem Jahr. Heute sagen viele, dass diese Phase zu kurz gewesen sei, um nach 27 Jahren Diktatur einen wirklichen Neuanfang zu machen. Folge sei gewesen, dass mit Roch Marc Kaboré ein langjähriger Getreuer von Blaise Compaoré zum Präsidenten gewählt worden sei, was seinerseits den jüngsten Putsch in Burkina Faso am 23.01.2022 begünstigt habe – so jedenfalls eine These, die in einer aktuellen Veröffentlichung des Leibniz-Institut Hessische Friedens- und Konfliktforschung zur Debatte gestellt wird. [5]
(3) Weshalb die malische Bevölkerung die Verschiebung der Wahlen mehrheitlich gutheißt.
Die Verschiebung der Wahlen war kein Willkürakt der Übergangsregierung. Vielmehr war die angekündigte Verschiebung von maximal 5 Jahren das Ergebnis einer Serie „Nationaler Versammlungen“, bei denen im Laufe des Dezember 2021 in hunderten lokalen, regionalen und landesweiten Konferenzen Eckpunkte zum Wiederaufbau Malis diskutiert wurden. Die Abhaltung nationaler Versammlungen gehörte zu einem der wichtigsten Versprechen der Putschist:innen im August 2020. Konkret haben an den Nationalen Versammlungen rund 80.000 Menschen teilgenommen, darunter zahlreiche junge Menschen, was in Mali keinesfalls selbstverständlich ist. Dies verdeutlicht – zusammen mit der ohnehin hohen Zustimmung zur Übergangsregierung [6] –, inwiefern es irreführend ist, die Verschiebung der Wahlen als antidemokratischen Akt zu kritisieren.
Gleichwohl sei zweierlei relativierend hinzugefügt: Einerseits, dass Beobachter:innen die offiziellen Schlussfolgerungen aus den Nationalen Versammlungen zumindest teilweise als geglättet zugunsten der Übergangsregierung beschreiben, jedenfalls gemessen daran, wie vielstimmig die Diskussionen streckenweise verlaufen sind. Andererseits, dass das etablierte politische Parteienspektrum [7] sowie die ihr nahestehenden zivilgesellschaftlichen und religiösen Organisationen die Verschiebung der Wahlen massiv kritisieren. Dies umfasst nicht nur, dass die entsprechenden Parteien die Nationalen Versammlungen boykottiert und in der internationalen Öffentlichkeit scharf angeprangert haben, sondern auch, dass sie sich am 25.11.2021 in einer öffentlichen Erklärung dafür ausgesprochen haben, das bestehende elektorale Gefüge im wesentlichen beizubehalten. Letzteres ist eine legitime Forderung, wirkt aber angesichts der offenkundigen demokratischen Schwächen des derzeitigen Wahlverfahrens wie (besitzstandswahrende) Realitätsverweigerung.
(4) Weshalb der Staat und die (bisherige) politische Klasse in Mali das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben.
Dass eine Putschregierung derart großen Anklang in der Bevölkerung findet, stößt bei europäischen Beobachter*innen regelmäßig auf Unverständnis. In der deutschen Öffentlichkeit hat das sogar dazu geführt, dass der Bundeswehreinsatz in Mali immer stärker in Frage gestellt wird. Umso ausdrücklicher sei darauf hingewiesen, dass die jüngsten Putsche in Mali, Burkina Faso oder Guinea Spiegel jahrzehntelangen Regierungsversagens sind, insbesondere in den mehr oder weniger stark abgehängten ländlichen Regionen. Die Menschen sind der Korruption, Unterschlagung, Vetternwirtschaft, Wahlmanipulation, Misswirtschaft, Straflosigkeit etc. schlicht überdrüssig. Wer dies ignoriert, kann nicht erkennen, wie zynisch es in den Ohren der Bevölkerung klingen muss, wenn nunmehr die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS oder westliche Regierungen die möglichst rasche Rückkehr zu einer Ordnung fordern, die solche Verhaltensweisen überhaupt erst hervorgebracht hat.
Noch grundsätzlicher wird eine vom Sahel-Ausschuss der Vereinigung der Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) am 31.01.2021 veröffentlichte Pressemitteilung. Sie spricht davon, dass die nach der Unabhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten übernommenen staatlichen Strukturen unter dem immensen äußeren und inneren Druck endgültig kollabiert seien. Entsprechend müsse der Staatsaufbau wieder von neuem begonnen werden: “Gemeinwesen im Sahel müssen offensichtlich von unten wieder aufgebaut werden – in einer umgekehrten Kaskade von lokalen, regionalen und zentralen Aushandlungen. Sie müssen […] noch vor den klassischen Institutionen ein neues, gemeinsames Staatsverständnis entwickeln – einen neuen Sozialvertrag, einen Diskurs von friedlichem Zusammenleben in der Gemeinschaft. Gerade diesen Weg scheinen die Zivilgesellschaften in Mali und Burkina Faso zu gehen – bis hin zu Verhandlungen mit bewaffneten Gruppierungen, die eben nicht alle „äußere“ Feinde sind, die auf Motorrädern aus den Weiten der Wüste kommen. Der Westen sollte die Gesellschaften auf diesem Weg unterstützen, aber in genau dem Maße und mit den Maßnahmen, die dort gewünscht werden, und nicht mit denen, die aus den politischen Schlagworten in Paris, Brüssel oder Berlin hergeleitet sind.” [8].
(5) Weshalb Frankreich eine maßgebliche Mitverantwortung an der diplomatischen Eskalation mit der malischen Regierung trägt.
Zwischen Mali und Frankreich ist es Ende Januar zu einer beispiellosen (diplomatischen ) Eskalation gekommen, die in der Ausweisung des französischen Botschafters aus Mali gipfelte. In der deutschen bzw. europäischen Öffentlichkeit herrschte rasch Einigkeit darüber, dass die malische Übergangsregierung die alleinige Verantwortung für diese Eskalation trage. Sie sei es gewesen, die durch ihre sicherheitspolitischen Entscheidungen Öl ins Feuer gegossen habe – gemeint ist insbesondere die Kooperation mit russischen Streitkräften, die Ausweisung eines dänischen Kontingents der europäischen Takuba Task Force und die punktuelle Einschränkung des malischen Luftraumes (die am 19.01.2022 eine Bundeswehrmaschine zu einer Zwischenlandung in Gran Canaria gezwungen hat). Bemerkenswert an dieser Lesart ist, dass die Rolle Frankreichs keine weitere Erwähnung findet, stattdessen werden die Vorgänge primär einer angeblich außer Rand und Band geratenen Putschregierung zugeschrieben. Umso wichtiger ist es, das Verhalten Frankreich stärker in den Blick zu nehmen:
Ausgeblendet wird erstens, dass der maßgeblich von Frankreich getragene Antiterrorkampf in der Sahelzone von der malischen Seite schon seit Jahren als selbstherrlich und kontraproduktiv kritisiert wird – unter anderem deshalb, weil Frankreich immer wieder Bündnisse mit lokalen bewaffneten Gruppen eingegangen ist (auch solchen, die den malischen Staat bekämpfen) und weil die französische Armee nur unzureichend mit der malischen Armee zusammengearbeitet und so einen effektiven Kampf gegen bewaffnete Gruppen vereitelt hat. Und diese Kritik wird nicht nur in den Sahelländern weithin geteilt. Auch die regierungsnahe Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin spart nicht mit Kritik, unter anderem in einer viel beachteten Studie, die im Februar 2021 unter dem Titel “Unser schwieriger Partner. Deutschlands und Frankreichs erfolgloses Engagement in Libyen und Mali” veröffentlicht wurde. Der Autor Wolfram Lacher schreibt, dass die französische Politik in Mali “oftmals nachweislich zur weiteren Destabilisierung” beigetragen habe, was nicht zuletzt dem unilateralen Vorgehen Frankreichs geschuldet sei, einschließlich der Unfähigkeit der Militärs, “ambivalentere Realitäten” im Sahel angemessen zu begreifen [9].
Ausgeblendet wird zweitens, dass Mali auch deshalb auf militärische Unterstützung aus Russland setzt und die Verträge mit Frankreich einer Revision unterzieht, weil Frankreich im Sommer 2021 einseitig angekündigt hat, seine Streitkräfte in Mali zu reduzieren. In diesem Prozess, den Premierminister Choguel Maïga am 25.09.2021 in einer aufsehenerregenden Rede vor den Vereinten Nation thematisiert hat, ist nicht alles zufriedenstellend gelaufen – unter anderem, was die erwähnte Einschränkung des Flugverkehrs betrifft. Und doch sollte nicht der Eindruck erweckt werden (wie es der französische Außenminister getan hat), dass Mali als souveränem Staat nicht das Recht zustünde, eigene sicherheitspolitische Entscheidungen zu treffen, zumal solche, die sich breiter Unterstützung in der Bevölkerung erfreuen.
Ausgeblendet wird drittens, dass Frankreich im Umgang mit Putschregierungen seit jeher mit doppelten Standards hantiert und daher überall im Sahel erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Als in Tschad der Langzeitdiktator Idriss Déby im April 2021 bei Gefechten mit Rebellen ums Leben kam und sodann von seinem Sohn im Amt beerbt wurde, hat Frankreich diese Erbfolgeregelung bei seinem engen militärischen Verbündeten stillschweigend akzeptiert. Umgekehrt wird die malische Regierung, die Teil eines breiten demokratischen Aufbruchs ist, als “illegitim” gegeißelt (was weder rechtlich noch politisch zutreffend ist). Ärger noch: Frankreich bemüht sich mit Nachdruck um internationale Unterstützung der von der ECOWAS verhängten Sanktionen, und das, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass diese die humanitäre Lage in Mali ungemein verschärfen.
Ausgeblendet wird viertens, dass der Ausweisung des französischen Botschafters ungewöhnlich harsche Worte seitens der französischen Regierung vorausgegangen sind, welche ihrerseits vom malischen Außenminister Abdoulaye Diop in einem langen Interview entschieden zurückgewiesen wurden – unter anderem heißt es dort, dass „diese Beleidigungen und von Verachtung geprägten Worte inakzeptabel sind und nicht von Größe zeugen.” [10]. Auf all dies geht die französische Regierung mit keinem Wort ein, und das kann leider nicht verwundern. Die französische Haltung ist vielmehr Ausdruck davon, dass das offizielle Frankreich weder willens noch in der Lage ist, einen adäquaten Umgang mit der Tatsache zu finden, dass es als ehemalige Kolonialmacht unter besonderer Beobachtung steht, und das umso mehr, da französische Regierungen bis in die Gegenwart die ehemals kolonisierten Gebiete in West- und Zentralafrika als französische Einflusssphäre betrachten. Gleichwohl werden die hiermit verknüpften Fragestellungen in Frankreich kontrovers diskutiert. Stellvertretend zitiert sei der berühmte Anthropologe Jean-Pierre Olivier de Sardan, der über die französische und nigrische Staatsbürgerschaft verfügt. In einem lesenswerten Debattenbeitrag unter dem Titel “Le rejet de la France au Sahel : mille et une raisons ?” [Die Ablehnung Frankreichs in der Sahelzone: Tausend und ein Grund?] schrieb er am 7. Dezember 2021 der französischen Politik ins Stammbuch, wie sie ihr Verhalten zu ändern habe, um endlich Augenhöhe mit afrikanischen Regierungen herzustellen: “Die Verbrechen der Kolonialisierung anerkennen, klar mit der Françafrique und dem, was von ihr übrig geblieben ist, brechen, der Herablassung, der Arroganz, den Befehlen und einseitigen Entscheidungen ein Ende setzen, Ratschläge durch Zuhören ersetzen, von einer standardisierten, formatierten und flüchtigen Hilfe zu bescheideneren, zuverlässigeren, dauerhafteren und flexibleren Unterstützungen übergehen, bei den einen nicht mehr das zuzulassen, wofür man die anderen verurteilt, keine Lektionen über Moral und Republikanismus zu erteilen, die oft durch die Praktiken zahlreicher französischer Politiker widerlegt werden, afrikanischen Studenten ganz einfach die Fortsetzung ihres Studiums in Frankreich zu ermöglichen – all das ist im Grunde recht einfach, aber dennoch keine leichte Aufgabe.” [11]
(6) Weshalb der Konflikt mit Dänemark nicht überbewertet werden sollte.
Der Umstand, dass die malische Regierung einen dänischen Verband von rund 100 Soldat:innen aufgefordert hat, das Land wieder zu verlassen, gilt in der derzeitigen Debatte als einer der wichtigsten Belege für die vermeintliche Unberechenbarkeit der malischen Übergangsregierung. Umso wichtiger ist es, sich die tatsächlichen Abläufe vor Augen zu führen. Ausgangspunkt ist, dass dänische Streitkräfte von der malischen Regierung im November 2019 offiziell eingeladen wurden und dass die dänische Regierung diese Einladung im Juni 2021 offiziell angenommen hat. Doch die nächsten Schritte wurden nicht mehr mit Mali, sondern mit Frankreich abgestimmt – und zwar auf Grundlage der seit 2013 zwischen Frankreich und Mali abgeschlossenen Militärabkommen. Konkret wurden die dänischen Soldat:innen von einem französischen Militärflugzeug eingeflogen, ohne dass es vorher zu einer eigenständigen Registrierung der Soldat:innen durch malische Behörden gekommen wäre, was aber bei geplanten Kampfeinsätzen zwingend erforderlich ist. Gewiss, in normalen Zeiten wäre dieser Akt problemlos nachgeholt worden, doch die aktuellen Zeiten sind nicht normal, das wissen alle Beteiligten. Zudem sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das von Mali geforderte Vorgehen auch in Europa gang und gäbe ist. Will ein Angehöriger der Bundeswehr in Uniform nach Frankreich reisen, bedarf es einer vorherigen Registrierung. Passiert dies nicht, würden ebenfalls diplomatische Verwicklungen drohen.
(7) Weshalb MINUSMA und EUTM Mali weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollten – ob mit oder ohne Deutschland.
Die weitere Beteiligung der Bundeswehr an der UN-Friedensmission MINUSMA sowie der EU-Ausbildungsmission EUTM wird derzeit massiv in Frage gestellt. Als Begründung wird meist auf den Umstand der verschobenen Wahlen hingewiesen – ein Argument das den demokratischen Charakter der Übergangsregierung verkennt, wie bereits in den Punkten a), b) und c) ausgeführt wurde. Hinzu kommen weitere Kritikpunkte, die schwerwiegender sind. Beispielsweise, dass die MINUSMA-Truppen überproportional stark mit Selbstschutz befasst sind und daher eine fragwürdige Kosten-Nutzen-Relation aufweisen. Oder dass sich MINUSMA immer wieder – zum Teil auch mandatswidrig – von der französischen Antiterroroperation Barkhane instrumentalisieren lässt, mit dem Effekt, dass MINUSMA in den letzten Jahren immer stärker in den Strudel der durchaus berechtigten Kritik an Barkhane geraten ist.
Dennoch sollten die Erfolge von MINUSMA nicht unterschätzt werden. Denn die UN-Friedensmission ist innerhalb einer extrem destabilisierten Gesellschaft ein tendenziell stabilisierender Faktor. Einerseits, indem sie – jedenfalls dort, wo sie zum Einsatz kommt – eine Schutzwirkung gegenüber der Zivilbevölkerung entfaltet, was seinerseits Voraussetzung für die Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen ist. Andererseits, indem sie auf unterschiedlichen Ebenen an den prinzipiellen (leider widersprüchlich gewobenen) Zielsetzungen des Friedensabkommens von Algier festhält und somit wertvolle Beiträge zum Zustandekommen lokaler Friedensverträge leistet. So wird im aktuellen MINUSMA-Report der UN in Absatz 28 näher auf den von MINUSMA unterstützten Friedensprozess in dem Dorf Ogossagou im Zentrum Malis eingegangen. Ogossagou ist 2019 in die weltweiten Schlagzeilen geraten, nachdem die von der damaligen Regierung unter Präsident Ibrahim Boubacar Keita geförderte Miliz Dan Na Ambassagou 172 Menschen ermordet hat, überwiegend Angehörige der Fulbe. Dass es in Ogossagou gelungen ist, einen halbwegs stabilen Frieden zu erzielen, ist ein beeindruckender Erfolg aller Beteiligten, also auch von MINUSMA, die zwischenzeitlich in dem Dorf stationiert war. Denn Ogossagou liegt just in jener Region, in der in den letzten Jahren die meisten Opfer in Mali zu beklagen waren. Kurzum – ein Rückzug Deutschlands wäre sorgfältig abzuwägen. Denn Fakt ist, dass Deutschland innerhalb von MINUSMA eine politisch und logistisch bedeutsame Rolle spielt, und das mit der Konsequenz, dass ein Rückzug aus MINUSMA die gesamte Friedensmission in Schwierigkeiten bringen könnte.
Ganz ähnlich bei der EU-Ausbildungsmission EUTM. Auch hier gilt, dass die malische Armee weiterhin auf externe Unterstützung bei Ausbildung und Ausstattung angewiesen ist und dass daher eine Verkleinerung von EUTM ihre Fähigkeit schwächen würde, effektiv gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen (ein Umstand, der umso bedauerlicher wäre, als die malische Armee in den letzten Wochen erstmalig seit langem größere Gebiete befreit konnte – unter anderem in dem für die Ernährungssicherung Malis so wichtigen Bewässerungsgebiet des Office du Niger).
(8) Weshalb sich die malische Übergangsregierung gezwungen sah, militärische Unterstützung bei Russland anzufragen.
Die malische Regierung wird derzeit für ihre militärische Kooperation mit russischen Sicherheitskräften scharf kritisiert. Unabhängig davon, wie man zur russischen Politik steht, scheint diese Kritik weder konsequent noch gerechtfertigt zu sein. Denn Mali befindet sich derzeit in einer Art Sicherheitsfalle: Einerseits ist es auf externe Hilfe angewiesen, um eine Machtübernahme durch dschihadistische Kräfte im gesamten Staatsgebiet zu verhindern, andererseits sind die verfügbaren Möglichkeiten äußerst begrenzt: MINUSMA hat keinen Kampfauftrag, die von Frankreich aufgestellte Takuba Task Force ist nicht stark genug (auch deshalb, weil sich große Länder wie Deutschland kaum beteiligen) und Frankreich ist dabei, sein Engagement in Mali deutlich zu reduzieren (weil die französische Variante von Antiterrorpolitik an ihre Grenzen gestoßen ist). Vor diesem Hintergrund sah sich die malische Regierung buchstäblich gezwungen, von Russland Unterstützung zu erfragen, was jedoch in erster Linie eine pragmatische Entscheidung ist, weniger eine programmatisch-ideologische.
Inwiefern es sich bei den nunmehr in Mali aktiven Soldat:innen aus Russland um Angehörige des privaten Sicherheitsunternehmens Wagner handelt, ist unklar. Westliche Geheimdienste bejahen dies, die malische Regierung bestreitet, dass russische Söldner:innen in Mali tätig seien. Allerdings spricht vieles dafür, dass es sich um einen Nebenschauplatz handelt. Denn Fakt ist, dass russische Soldat:innen vor Ort sind, ausgestattet mit russischer Militärtechnik und ganz zweifelsohne mit Zustimmung des russischen Präsidenten Putin. Insofern wird es zukünftig in erster Linie darum gehen, die Lage der Menschenrechte genau zu beobachten. Denn dass es zu Menschenrechtsverletzungen kommen wird, ist in einem solchen Krieg leider nicht auszuschließen, so wie es ja im Sahel auch durch französische, malische und andere afrikanische Streitkräfte immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist.
(9) Weshalb der Konflikt in Mali langfristig nicht militärisch gelöst werden kann.
Die öffentliche Debatte zum Sahel wird in Europa immer wieder von militärischen Fragestellungen dominiert. Umso ausdrücklicher sei abschließend darauf hinweisen, dass diese Fokussierung irreführend ist. Denn die Krise im Sahel ist Ausdruck vielfältiger ökonomischer, politischer und sozialer Krisen – einschließlich der Klimakrise. Entsprechend können militärische Maßnahmen allenfalls flankierend wirksam werden. Wichtiger sind demgegenüber zivile Maßnahmen seitens der europäischen Länder: Erstens Unterstützung von Verhandlungen zwischen malischem Staat und dschihadistischen Gruppen, insbesondere solchen Gruppen, die sich primär aus malischen Mitgliedern zusammensetzen, etwa die Katiba Macina im Zentrum Malis; zweitens technische und politische Hilfestellung bei der Erneuerung staatlicher Institutionen, auch unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Strukturen lokaler Selbstverwaltung in ländlichen Regionen; drittens Gewährleistung umfassender entwicklungspolitischer Maßnahmen, die weit über das hinausgehen, was gemeinhin im entwicklungspolitischen Rahmen geschieht [12], und viertens diplomatische Bemühungen für eine schnellstmögliche Aufhebung der kontraproduktiven ECOWAS-Sanktionen. [13]
Fußnoten
[1) Afrique-Europe-Interact ist unter anderem in Mali aktiv, hauptsächlich in den Bereichen kleinbäuerliche Landwirtschaft, Migration, Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie. Vor diesem Hintergrund haben wir uns bereits am 24.01.2022 mit einem offenen Brief an die Deutsche Bundesregierung sowie mehrere Abgeordnete des Deutschen Bundestags gewandt – Anlass waren die ECOWAS-Sanktionen gegen Mali. Der Brief findet sich auf unserer Webseite an folgender Stelle: https://afrique-europe-interact.net/2113-0-Offener-Brief-an-Deutsche-Bundesregierung-etc.html
[2] Um sich einen Eindruck von der Zusammensetzung der aktuellen Regierung zu verschaffen, lohnt ein Blick auf deren Webseite: https://primature.ml/cat_team/ministres/
[3] Unser Mitglied Olaf Bernau hat die Vorgänge rund um Oumar Marikos Festnahme in einem Blogbeitrag ausführlich geschildert: https://olafbernau.de/2021/12/23/widerspruechliche-lage-in-mali-trotz-gewalt-und-repression-breite-beteiligung-der-bevoelkerung-an-nationalen-versammlungen/
[4] Eigene Übersetzung, vgl. hierzu: https://digitallibrary.un.org/record/3953112?ln=en
[5] Simone Schnabel: Looking back to understand the present: The coup in Burkina Faso and the legacy of regional interventions: https://blog.prif.org/2022/02/01/looking-back-to-understand-the-present-the-coup-in-burkina-faso-and-the-legacy-of-regional-interventions/
[6] Die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako führt seit 2012 regelmäßig repräsentative Umfragen in Mali durch, dem Mali-Mètre. Danach zeigten sich im März 2021 65 Prozent der malischen Bevölkerung mit der Übergangsregierung zufrieden, und dieser ohnehin schon hohe Wert ist im Zuge der Sanktionen eher noch nach oben gegangen. Vgl. http://library.fes.de/pdf-files/bueros/mali/10100/2021-12.pdf
[7] Das etablierte Parteienspektrum hat sich zu einer Plattform namens “Cade d'echange des partis et regoupements des partis politiques pour une transition réussie au Mali” zusammengeschlossen.
[8] Pressemitteilung vom 31.01.2021 (auch erschienen in der Wochenzeitung DIE ZEIT): https://www.vad-ev.de/wp-content/uploads/2022/01/VAD-Sahelausschuss-zu-Mali-Burkina-Putsch.pdf
[9] Vgl. https://www.swp-berlin.org/publikation/deutschlands-und-frankreichs-erfolgloses-engagement-in-libyen-und-mali
[10] Das Interview kann an folgender Stelle im Original nachgelesen werden: https://mali4infos.wordpress.com/2022/02/01/malis-aussenminister-reagiert-auf-frankreichs-beleidigungen-pour-batir-le-mali-abdoulaye-diop-se-prononce/#more-20813960
[11] Der Beitrag von Jean-Pierre Olivier de Sardan findet sich an folgender Stelle, aber leider hinter einer Paywall: https://aoc.media/opinion/2021/12/06/le-rejet-de-la-france-au-sahel-mille-et-une-raisons/
[12] In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich auf zwei ausführliche Stellungnahmen des Sahel-Ausschusses der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) verwiesen, der im Jahr 2020 insbesondere am Beispiel Burkina Fasos gezeigt hat, was das konkret bedeuten würde: https://www.vad-ev.de/vad-sahel-ausschuss/
[13] Vgl. Fußnote 1
Diesen Brief haben wir am 09.02.2022 teils per Post, teils per Mail verschickt – er ist auch als Pressemitteilung rausgegangen. Seine Verbreitung ist ausdrücklich gewünscht.
Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung,
sehr geehrte Bundestagsabgeordnete von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, CDU, CSU und DIE LINKE,
sehr geehrte Parteivorstände von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, CDU, CSU und DIE LINKE,
die politische Situation in Mali spitzt sich immer weiter zu, entsprechend hat sich in den letzten Wochen eine öffentliche Debatte darüber entwickelt, ob Deutschland seine Beteiligung an der UN-Friedensmission MINUSMA sowie an der EU-Ausbildungsmission EUTM überhaupt noch fortführen könne. Als Afrique-Europe-Interact [1] bedauern wir diese Entwicklungen sehr, denn sie bergen die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der malischen Gesellschaft.
Gleichzeitig fällt auf, dass der allgemeine Kenntnisstand zur aktuellen Lage in Mali bzw. in den westlichen Sahelländern relativ gering ist – eine Tendenz die damit einhergeht, dass Stimmen aus dem Sahel kaum zu Wort kommen. Das ist der Grund, weshalb wir die in unseren Augen wichtigsten Fragen zusammen getragen und jeweils kurz beantwortet haben – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das, was wir von unseren Kolleg:innen in Mali in Whatsapp-Nachrichten, Telefonaten oder Videokonferenzen mitbekommen. Hiervon versprechen wir uns nicht nur eine bessere Fundierung der öffentlichen Debatte. Vielmehr möchten wir auch einen Beitrag zum Umdenken leisten: Mali befindet sich in einer extrem schwierigen Lage, gleichzeitig gibt es vielversprechende Lösungsansätze. Um diese zu stärken, ist es freilich erforderlich, die innermalischen Auseinandersetzungen genauer zur Kenntnis zu nehmen, also zu verstehen, weshalb die aus einem Putsch hervorgegangene Übergangsregierung von großen Teilen der Bevölkerung als Chance für eine demokratische Erneuerung begriffen wird.
Konkret haben wir uns mit folgenden Fragen- bzw. Problemstellungen beschäftigt: (1) Weshalb es irreführend ist, von einer Militärregierung oder Junta zu sprechen, die den demokratischen Prozess in Mali sabotieren würde. /// (2) Weshalb die Verschiebung der Wahlen nötig ist, um die institutionellen Voraussetzungen für einen demokratischen Neuanfang zu schaffen. /// (3) Weshalb die malische Bevölkerung die Verschiebung der Wahlen mehrheitlich gutheißt. /// (4) Weshalb der Staat und die (bisherige) politische Klasse in Mali das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben. /// (5) Weshalb Frankreich eine maßgebliche Mitverantwortung an der diplomatischen Eskalation mit der malischen Regierung trägt. /// (6) Weshalb der Konflikt mit Dänemark nicht überbewertet werden sollte. /// (7) Weshalb MINUSMA und EUTM Mali weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollten – ob mit oder ohne Deutschland. /// (8) Weshalb sich die malische Übergangsregierung gezwungen sah, militärische Unterstützung bei Russland anzufragen. /// (9) Weshalb der Konflikt in Mali langfristig nicht militärisch gelöst werden kann.
Für Rückfragen steht Ihnen gerne Olaf Bernau zur Verfügung, hierzu gehört auch die Vermittlung direkter Kontakte zu Mitgliedern unseres zivilgesellschaftlichen Netzwerks in Mali (Mail: olafbernau@posteo.de, Mobil: 015152527776).
Mit freundlichen Grüßen,
Volker Mörchen
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(1) Weshalb es irreführend ist, von einer Militärregierung oder Junta zu sprechen, die den demokratischen Prozess in Mali sabotieren würde
Es ist zwar zutreffend, dass die aktuelle malische Regierung aus einem Putsch im August 2020 hervorgegangen ist, dennoch wird es der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Mali nicht gerecht, wenn in hiesigen Medien immer wieder von einer Junta die Rede ist oder wenn die EU am 04.02.2022 restriktive Maßnahmen gegen 5 Mitglieder der malischen Übergangsregierung beschlossen hat, weil diese die Rückkehr zur Demokratie behindern würden. Vor allem zwei Aspekte sind zu beachten: Einerseits, dass es sich nicht um eine klassische Junta handelt, vielmehr sind die meisten Regierungsmitglieder Zivilist:innen. Das gilt auch für Premierminister Choguel Maïga, der weit davon entfernt ist, eine bloße Marionette von Assimi Goita zu sein, dem militärischen Staatsoberhaupt Malis. [2] Andererseits, dass es laut übereinstimmender Berichte interner und externer Beobachter:innen eine deutliche Mehrheit der Malier:innen ist, die den Kurs der Übergangsregierung mitträgt. Hierzu gehört auch, dass die Presse- und Meinungsfreiheit in keinster Weise unterbunden ist – das zeigt bereits ein kurzer Blick in die (sozialen) Medien oder in die Kommentarspalten großer Medienplattformen wie Maliweb.net. Insofern können wir die häufig zu hörende Behauptung nicht bestätigen, wonach sich Intellektuelle in Mali nicht mehr frei äußern könnten.
Zutreffend ist jedoch, dass es vereinzelt zu politisch motivierten Festnahmen gekommen ist. Am bekanntesten war sicherlich der Fall von Oumar Mariko, des Vorsitzenden der sozialistischen Partei SADI [3]. Gleichzeitig hat dies einen derartigen Sturm der Entrüstung erzeugt (und somit auch die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung bestätigt), dass Oumar Mariko wieder freigelassen wurde. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass im Zuge der Sanktionen eine Art patriotischer Überschwang entstanden ist, der ein punktuell einschüchterndes Meinungsklima geschaffen hat, von dem vor allem Vertreter:innen jener Parteien betroffen sind, die die Geschicke Malis seit den 1990er Jahren gesteuert haben und die heute von vielen Menschen für die Krise in Mali maßgeblich verantwortlich gemacht werden. Diese Tendenzen sind zweifelsohne besorgniserregend, das sagen auch einige unserer malischen Kolleg:innen. Sie sind aber nur eine Facette unter vielen. Zudem sollte nicht aus dem Blick geraten, dass sie unmittelbar mit den von außen kommenden Sanktionen zusammenhängen, weshalb Afrique-Europe-Interact bereits mehrfach davor gewarnt hat, dass die Sanktionen die innermalische Krise verschärfen würden.
(2) Weshalb die Verschiebung der Wahlen nötig ist, um die institutionellen Voraussetzungen für einen demokratischen Neuanfang zu schaffen.
Es sind zwei Gründe, die die malische Übergangsregierung veranlasst haben, den Wahltermin zu verschieben: Erstens wäre es in großen Teilen des Zentrums und des Nordens des Landes aus Sicherheitsgründen nicht möglich, reguläre Wahlen abzuhalten, geschweige denn Wahlkampf zu betreiben. Käme es dennoch zu Wahlen, könnte das die Legitimität des Wahlergebnisses in Frage stellen und so die gesellschaftlichen Spannungen zuspitzen. Zweitens ist der Putsch im August 2020 mit der Erwartung der Bevölkerung einhergegangen, auf institutioneller Ebene grundlegende Veränderungen umzusetzen, um das gesamte Wahl-Prozedere demokratischer zu gestalten. Konkret geht um zahlreiche Herausforderungen, unter anderem die folgenden: Erstens die Einrichtung einer von der Regierung gänzlich unabhängigen Wahlbehörde, um die Gefahr von Wahlmanipulationen zu verringern. Zweitens die Etablierung eines Wahlverfahrens, das die Registrierung für Wahlen erheblich vereinfacht. Das aktuelle Verfahren begünstigt tendenziell jene Menschen, die besser gebildet und informiert sind und die zudem über die finanziellen Mittel verfügen, sich eine Identitätskarte (NINA) zu besorgen, welche Voraussetzung dafür ist, sich als Wähler:in registrieren zu lassen. Drittens die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer, über die unter anderem eine stärkere Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gewährleistet wäre, etwa traditioneller Autoritäten wie Ältestenräte oder Frauen- und Jugendorganisationen, die vor allem in ländlichen Regionen eine tragende Rolle spielen. Viertens die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes, das grundlegende Fragen regelt, etwa die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung, die Herstellung eines angemessenen Proporzes zwischen Stimmbezirk und Abgeordnetenzahl oder den Modus, nach dem die Wahlergebnisse aufgeschlüsselt nach Stimmbezirken bekannt gegeben werden.
Die institutionelle Umsetzung dieser und zahlreicher weiterer Maßnahmen bedarf zweifelsohne Zeit, vor allem ist sie die einzige Chance, langfristig einen Wahlablauf zu ermöglichen, der nicht mehr von großen Teilen der Bevölkerung als Ausdruck einer bloßen Fassadendemokratie empfunden wird. Entsprechend wird an diesem Punkt deutlich, dass der Vorwurf unzutreffend ist, wonach die Übergangsregierung den demokratischen Übergang mutwillig verschleppen würde. Vielmehr bescheinigt selbst die UN-Friedensmission MINUSMA in ihrem jüngsten vierteljährlichen Lagebericht (04.01.2022), dass sich die Übergangsregierung um die entsprechenden Fragestellungen ernsthaft kümmern würde: “Während des Berichtszeitraums setzten die Übergangsbehörden ihre Bemühungen zur Umsetzung ihrer politischen Programmatik auf der Grundlage des Aktionsplans der Übergangsregierung um, insbesondere die Wahlreformen und die Einrichtung eines einheitlichen Wahlverwaltungsorgans, sowie die Durchführung eines breit angelegten nationalen Reformdialogs (Assises nationales de la refondation), um die Grundlage für politische und institutionelle Reformen zu schaffen” [4].
Ungeachtet dessen stellt sich die Frage, wie lang der Zeitraum tatsächlich sein sollte, um besagte institutionellen Reformen zu verwirklichen. Viele unserer Gesprächspartner:innen in Mali sagen, dass ursprünglich drei Jahre angedacht waren, dass dann jedoch die Kritiker:innen der Übergangsregierung die lediglich als Ultima Ratio angedachten 5 Jahre gezielt skandalisiert haben, um die Übergangsregierung zu delegitimieren. Letztlich dürfte diese Frage von vielen Faktoren abhängen, nicht zuletzt davon, wie sich die allgemeine Sicherheitslage entwickelt, wobei niemand die Forderung erhebt, dass im gesamten Land hundertprozentige Sicherheit zu herrschen habe, bevor Wahlen stattfinden könnten. An diesem Punkt ist auch eine Parallele hilfreich: Als im Nachbarland Burkina Faso im Oktober 2014 der Langzeitherrscher Blaise Compaoré gestürzt wurde, vereinbarte die Übergangsregierung mit der internationalen Gemeinschaft einen Übergang von einem Jahr. Heute sagen viele, dass diese Phase zu kurz gewesen sei, um nach 27 Jahren Diktatur einen wirklichen Neuanfang zu machen. Folge sei gewesen, dass mit Roch Marc Kaboré ein langjähriger Getreuer von Blaise Compaoré zum Präsidenten gewählt worden sei, was seinerseits den jüngsten Putsch in Burkina Faso am 23.01.2022 begünstigt habe – so jedenfalls eine These, die in einer aktuellen Veröffentlichung des Leibniz-Institut Hessische Friedens- und Konfliktforschung zur Debatte gestellt wird. [5]
(3) Weshalb die malische Bevölkerung die Verschiebung der Wahlen mehrheitlich gutheißt.
Die Verschiebung der Wahlen war kein Willkürakt der Übergangsregierung. Vielmehr war die angekündigte Verschiebung von maximal 5 Jahren das Ergebnis einer Serie „Nationaler Versammlungen“, bei denen im Laufe des Dezember 2021 in hunderten lokalen, regionalen und landesweiten Konferenzen Eckpunkte zum Wiederaufbau Malis diskutiert wurden. Die Abhaltung nationaler Versammlungen gehörte zu einem der wichtigsten Versprechen der Putschist:innen im August 2020. Konkret haben an den Nationalen Versammlungen rund 80.000 Menschen teilgenommen, darunter zahlreiche junge Menschen, was in Mali keinesfalls selbstverständlich ist. Dies verdeutlicht – zusammen mit der ohnehin hohen Zustimmung zur Übergangsregierung [6] –, inwiefern es irreführend ist, die Verschiebung der Wahlen als antidemokratischen Akt zu kritisieren.
Gleichwohl sei zweierlei relativierend hinzugefügt: Einerseits, dass Beobachter:innen die offiziellen Schlussfolgerungen aus den Nationalen Versammlungen zumindest teilweise als geglättet zugunsten der Übergangsregierung beschreiben, jedenfalls gemessen daran, wie vielstimmig die Diskussionen streckenweise verlaufen sind. Andererseits, dass das etablierte politische Parteienspektrum [7] sowie die ihr nahestehenden zivilgesellschaftlichen und religiösen Organisationen die Verschiebung der Wahlen massiv kritisieren. Dies umfasst nicht nur, dass die entsprechenden Parteien die Nationalen Versammlungen boykottiert und in der internationalen Öffentlichkeit scharf angeprangert haben, sondern auch, dass sie sich am 25.11.2021 in einer öffentlichen Erklärung dafür ausgesprochen haben, das bestehende elektorale Gefüge im wesentlichen beizubehalten. Letzteres ist eine legitime Forderung, wirkt aber angesichts der offenkundigen demokratischen Schwächen des derzeitigen Wahlverfahrens wie (besitzstandswahrende) Realitätsverweigerung.
(4) Weshalb der Staat und die (bisherige) politische Klasse in Mali das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben.
Dass eine Putschregierung derart großen Anklang in der Bevölkerung findet, stößt bei europäischen Beobachter*innen regelmäßig auf Unverständnis. In der deutschen Öffentlichkeit hat das sogar dazu geführt, dass der Bundeswehreinsatz in Mali immer stärker in Frage gestellt wird. Umso ausdrücklicher sei darauf hingewiesen, dass die jüngsten Putsche in Mali, Burkina Faso oder Guinea Spiegel jahrzehntelangen Regierungsversagens sind, insbesondere in den mehr oder weniger stark abgehängten ländlichen Regionen. Die Menschen sind der Korruption, Unterschlagung, Vetternwirtschaft, Wahlmanipulation, Misswirtschaft, Straflosigkeit etc. schlicht überdrüssig. Wer dies ignoriert, kann nicht erkennen, wie zynisch es in den Ohren der Bevölkerung klingen muss, wenn nunmehr die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS oder westliche Regierungen die möglichst rasche Rückkehr zu einer Ordnung fordern, die solche Verhaltensweisen überhaupt erst hervorgebracht hat.
Noch grundsätzlicher wird eine vom Sahel-Ausschuss der Vereinigung der Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) am 31.01.2021 veröffentlichte Pressemitteilung. Sie spricht davon, dass die nach der Unabhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten übernommenen staatlichen Strukturen unter dem immensen äußeren und inneren Druck endgültig kollabiert seien. Entsprechend müsse der Staatsaufbau wieder von neuem begonnen werden: “Gemeinwesen im Sahel müssen offensichtlich von unten wieder aufgebaut werden – in einer umgekehrten Kaskade von lokalen, regionalen und zentralen Aushandlungen. Sie müssen […] noch vor den klassischen Institutionen ein neues, gemeinsames Staatsverständnis entwickeln – einen neuen Sozialvertrag, einen Diskurs von friedlichem Zusammenleben in der Gemeinschaft. Gerade diesen Weg scheinen die Zivilgesellschaften in Mali und Burkina Faso zu gehen – bis hin zu Verhandlungen mit bewaffneten Gruppierungen, die eben nicht alle „äußere“ Feinde sind, die auf Motorrädern aus den Weiten der Wüste kommen. Der Westen sollte die Gesellschaften auf diesem Weg unterstützen, aber in genau dem Maße und mit den Maßnahmen, die dort gewünscht werden, und nicht mit denen, die aus den politischen Schlagworten in Paris, Brüssel oder Berlin hergeleitet sind.” [8].
(5) Weshalb Frankreich eine maßgebliche Mitverantwortung an der diplomatischen Eskalation mit der malischen Regierung trägt.
Zwischen Mali und Frankreich ist es Ende Januar zu einer beispiellosen (diplomatischen ) Eskalation gekommen, die in der Ausweisung des französischen Botschafters aus Mali gipfelte. In der deutschen bzw. europäischen Öffentlichkeit herrschte rasch Einigkeit darüber, dass die malische Übergangsregierung die alleinige Verantwortung für diese Eskalation trage. Sie sei es gewesen, die durch ihre sicherheitspolitischen Entscheidungen Öl ins Feuer gegossen habe – gemeint ist insbesondere die Kooperation mit russischen Streitkräften, die Ausweisung eines dänischen Kontingents der europäischen Takuba Task Force und die punktuelle Einschränkung des malischen Luftraumes (die am 19.01.2022 eine Bundeswehrmaschine zu einer Zwischenlandung in Gran Canaria gezwungen hat). Bemerkenswert an dieser Lesart ist, dass die Rolle Frankreichs keine weitere Erwähnung findet, stattdessen werden die Vorgänge primär einer angeblich außer Rand und Band geratenen Putschregierung zugeschrieben. Umso wichtiger ist es, das Verhalten Frankreich stärker in den Blick zu nehmen:
Ausgeblendet wird erstens, dass der maßgeblich von Frankreich getragene Antiterrorkampf in der Sahelzone von der malischen Seite schon seit Jahren als selbstherrlich und kontraproduktiv kritisiert wird – unter anderem deshalb, weil Frankreich immer wieder Bündnisse mit lokalen bewaffneten Gruppen eingegangen ist (auch solchen, die den malischen Staat bekämpfen) und weil die französische Armee nur unzureichend mit der malischen Armee zusammengearbeitet und so einen effektiven Kampf gegen bewaffnete Gruppen vereitelt hat. Und diese Kritik wird nicht nur in den Sahelländern weithin geteilt. Auch die regierungsnahe Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin spart nicht mit Kritik, unter anderem in einer viel beachteten Studie, die im Februar 2021 unter dem Titel “Unser schwieriger Partner. Deutschlands und Frankreichs erfolgloses Engagement in Libyen und Mali” veröffentlicht wurde. Der Autor Wolfram Lacher schreibt, dass die französische Politik in Mali “oftmals nachweislich zur weiteren Destabilisierung” beigetragen habe, was nicht zuletzt dem unilateralen Vorgehen Frankreichs geschuldet sei, einschließlich der Unfähigkeit der Militärs, “ambivalentere Realitäten” im Sahel angemessen zu begreifen [9].
Ausgeblendet wird zweitens, dass Mali auch deshalb auf militärische Unterstützung aus Russland setzt und die Verträge mit Frankreich einer Revision unterzieht, weil Frankreich im Sommer 2021 einseitig angekündigt hat, seine Streitkräfte in Mali zu reduzieren. In diesem Prozess, den Premierminister Choguel Maïga am 25.09.2021 in einer aufsehenerregenden Rede vor den Vereinten Nation thematisiert hat, ist nicht alles zufriedenstellend gelaufen – unter anderem, was die erwähnte Einschränkung des Flugverkehrs betrifft. Und doch sollte nicht der Eindruck erweckt werden (wie es der französische Außenminister getan hat), dass Mali als souveränem Staat nicht das Recht zustünde, eigene sicherheitspolitische Entscheidungen zu treffen, zumal solche, die sich breiter Unterstützung in der Bevölkerung erfreuen.
Ausgeblendet wird drittens, dass Frankreich im Umgang mit Putschregierungen seit jeher mit doppelten Standards hantiert und daher überall im Sahel erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Als in Tschad der Langzeitdiktator Idriss Déby im April 2021 bei Gefechten mit Rebellen ums Leben kam und sodann von seinem Sohn im Amt beerbt wurde, hat Frankreich diese Erbfolgeregelung bei seinem engen militärischen Verbündeten stillschweigend akzeptiert. Umgekehrt wird die malische Regierung, die Teil eines breiten demokratischen Aufbruchs ist, als “illegitim” gegeißelt (was weder rechtlich noch politisch zutreffend ist). Ärger noch: Frankreich bemüht sich mit Nachdruck um internationale Unterstützung der von der ECOWAS verhängten Sanktionen, und das, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass diese die humanitäre Lage in Mali ungemein verschärfen.
Ausgeblendet wird viertens, dass der Ausweisung des französischen Botschafters ungewöhnlich harsche Worte seitens der französischen Regierung vorausgegangen sind, welche ihrerseits vom malischen Außenminister Abdoulaye Diop in einem langen Interview entschieden zurückgewiesen wurden – unter anderem heißt es dort, dass „diese Beleidigungen und von Verachtung geprägten Worte inakzeptabel sind und nicht von Größe zeugen.” [10]. Auf all dies geht die französische Regierung mit keinem Wort ein, und das kann leider nicht verwundern. Die französische Haltung ist vielmehr Ausdruck davon, dass das offizielle Frankreich weder willens noch in der Lage ist, einen adäquaten Umgang mit der Tatsache zu finden, dass es als ehemalige Kolonialmacht unter besonderer Beobachtung steht, und das umso mehr, da französische Regierungen bis in die Gegenwart die ehemals kolonisierten Gebiete in West- und Zentralafrika als französische Einflusssphäre betrachten. Gleichwohl werden die hiermit verknüpften Fragestellungen in Frankreich kontrovers diskutiert. Stellvertretend zitiert sei der berühmte Anthropologe Jean-Pierre Olivier de Sardan, der über die französische und nigrische Staatsbürgerschaft verfügt. In einem lesenswerten Debattenbeitrag unter dem Titel “Le rejet de la France au Sahel : mille et une raisons ?” [Die Ablehnung Frankreichs in der Sahelzone: Tausend und ein Grund?] schrieb er am 7. Dezember 2021 der französischen Politik ins Stammbuch, wie sie ihr Verhalten zu ändern habe, um endlich Augenhöhe mit afrikanischen Regierungen herzustellen: “Die Verbrechen der Kolonialisierung anerkennen, klar mit der Françafrique und dem, was von ihr übrig geblieben ist, brechen, der Herablassung, der Arroganz, den Befehlen und einseitigen Entscheidungen ein Ende setzen, Ratschläge durch Zuhören ersetzen, von einer standardisierten, formatierten und flüchtigen Hilfe zu bescheideneren, zuverlässigeren, dauerhafteren und flexibleren Unterstützungen übergehen, bei den einen nicht mehr das zuzulassen, wofür man die anderen verurteilt, keine Lektionen über Moral und Republikanismus zu erteilen, die oft durch die Praktiken zahlreicher französischer Politiker widerlegt werden, afrikanischen Studenten ganz einfach die Fortsetzung ihres Studiums in Frankreich zu ermöglichen – all das ist im Grunde recht einfach, aber dennoch keine leichte Aufgabe.” [11]
(6) Weshalb der Konflikt mit Dänemark nicht überbewertet werden sollte.
Der Umstand, dass die malische Regierung einen dänischen Verband von rund 100 Soldat:innen aufgefordert hat, das Land wieder zu verlassen, gilt in der derzeitigen Debatte als einer der wichtigsten Belege für die vermeintliche Unberechenbarkeit der malischen Übergangsregierung. Umso wichtiger ist es, sich die tatsächlichen Abläufe vor Augen zu führen. Ausgangspunkt ist, dass dänische Streitkräfte von der malischen Regierung im November 2019 offiziell eingeladen wurden und dass die dänische Regierung diese Einladung im Juni 2021 offiziell angenommen hat. Doch die nächsten Schritte wurden nicht mehr mit Mali, sondern mit Frankreich abgestimmt – und zwar auf Grundlage der seit 2013 zwischen Frankreich und Mali abgeschlossenen Militärabkommen. Konkret wurden die dänischen Soldat:innen von einem französischen Militärflugzeug eingeflogen, ohne dass es vorher zu einer eigenständigen Registrierung der Soldat:innen durch malische Behörden gekommen wäre, was aber bei geplanten Kampfeinsätzen zwingend erforderlich ist. Gewiss, in normalen Zeiten wäre dieser Akt problemlos nachgeholt worden, doch die aktuellen Zeiten sind nicht normal, das wissen alle Beteiligten. Zudem sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das von Mali geforderte Vorgehen auch in Europa gang und gäbe ist. Will ein Angehöriger der Bundeswehr in Uniform nach Frankreich reisen, bedarf es einer vorherigen Registrierung. Passiert dies nicht, würden ebenfalls diplomatische Verwicklungen drohen.
(7) Weshalb MINUSMA und EUTM Mali weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollten – ob mit oder ohne Deutschland.
Die weitere Beteiligung der Bundeswehr an der UN-Friedensmission MINUSMA sowie der EU-Ausbildungsmission EUTM wird derzeit massiv in Frage gestellt. Als Begründung wird meist auf den Umstand der verschobenen Wahlen hingewiesen – ein Argument das den demokratischen Charakter der Übergangsregierung verkennt, wie bereits in den Punkten a), b) und c) ausgeführt wurde. Hinzu kommen weitere Kritikpunkte, die schwerwiegender sind. Beispielsweise, dass die MINUSMA-Truppen überproportional stark mit Selbstschutz befasst sind und daher eine fragwürdige Kosten-Nutzen-Relation aufweisen. Oder dass sich MINUSMA immer wieder – zum Teil auch mandatswidrig – von der französischen Antiterroroperation Barkhane instrumentalisieren lässt, mit dem Effekt, dass MINUSMA in den letzten Jahren immer stärker in den Strudel der durchaus berechtigten Kritik an Barkhane geraten ist.
Dennoch sollten die Erfolge von MINUSMA nicht unterschätzt werden. Denn die UN-Friedensmission ist innerhalb einer extrem destabilisierten Gesellschaft ein tendenziell stabilisierender Faktor. Einerseits, indem sie – jedenfalls dort, wo sie zum Einsatz kommt – eine Schutzwirkung gegenüber der Zivilbevölkerung entfaltet, was seinerseits Voraussetzung für die Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen ist. Andererseits, indem sie auf unterschiedlichen Ebenen an den prinzipiellen (leider widersprüchlich gewobenen) Zielsetzungen des Friedensabkommens von Algier festhält und somit wertvolle Beiträge zum Zustandekommen lokaler Friedensverträge leistet. So wird im aktuellen MINUSMA-Report der UN in Absatz 28 näher auf den von MINUSMA unterstützten Friedensprozess in dem Dorf Ogossagou im Zentrum Malis eingegangen. Ogossagou ist 2019 in die weltweiten Schlagzeilen geraten, nachdem die von der damaligen Regierung unter Präsident Ibrahim Boubacar Keita geförderte Miliz Dan Na Ambassagou 172 Menschen ermordet hat, überwiegend Angehörige der Fulbe. Dass es in Ogossagou gelungen ist, einen halbwegs stabilen Frieden zu erzielen, ist ein beeindruckender Erfolg aller Beteiligten, also auch von MINUSMA, die zwischenzeitlich in dem Dorf stationiert war. Denn Ogossagou liegt just in jener Region, in der in den letzten Jahren die meisten Opfer in Mali zu beklagen waren. Kurzum – ein Rückzug Deutschlands wäre sorgfältig abzuwägen. Denn Fakt ist, dass Deutschland innerhalb von MINUSMA eine politisch und logistisch bedeutsame Rolle spielt, und das mit der Konsequenz, dass ein Rückzug aus MINUSMA die gesamte Friedensmission in Schwierigkeiten bringen könnte.
Ganz ähnlich bei der EU-Ausbildungsmission EUTM. Auch hier gilt, dass die malische Armee weiterhin auf externe Unterstützung bei Ausbildung und Ausstattung angewiesen ist und dass daher eine Verkleinerung von EUTM ihre Fähigkeit schwächen würde, effektiv gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen (ein Umstand, der umso bedauerlicher wäre, als die malische Armee in den letzten Wochen erstmalig seit langem größere Gebiete befreit konnte – unter anderem in dem für die Ernährungssicherung Malis so wichtigen Bewässerungsgebiet des Office du Niger).
(8) Weshalb sich die malische Übergangsregierung gezwungen sah, militärische Unterstützung bei Russland anzufragen.
Die malische Regierung wird derzeit für ihre militärische Kooperation mit russischen Sicherheitskräften scharf kritisiert. Unabhängig davon, wie man zur russischen Politik steht, scheint diese Kritik weder konsequent noch gerechtfertigt zu sein. Denn Mali befindet sich derzeit in einer Art Sicherheitsfalle: Einerseits ist es auf externe Hilfe angewiesen, um eine Machtübernahme durch dschihadistische Kräfte im gesamten Staatsgebiet zu verhindern, andererseits sind die verfügbaren Möglichkeiten äußerst begrenzt: MINUSMA hat keinen Kampfauftrag, die von Frankreich aufgestellte Takuba Task Force ist nicht stark genug (auch deshalb, weil sich große Länder wie Deutschland kaum beteiligen) und Frankreich ist dabei, sein Engagement in Mali deutlich zu reduzieren (weil die französische Variante von Antiterrorpolitik an ihre Grenzen gestoßen ist). Vor diesem Hintergrund sah sich die malische Regierung buchstäblich gezwungen, von Russland Unterstützung zu erfragen, was jedoch in erster Linie eine pragmatische Entscheidung ist, weniger eine programmatisch-ideologische.
Inwiefern es sich bei den nunmehr in Mali aktiven Soldat:innen aus Russland um Angehörige des privaten Sicherheitsunternehmens Wagner handelt, ist unklar. Westliche Geheimdienste bejahen dies, die malische Regierung bestreitet, dass russische Söldner:innen in Mali tätig seien. Allerdings spricht vieles dafür, dass es sich um einen Nebenschauplatz handelt. Denn Fakt ist, dass russische Soldat:innen vor Ort sind, ausgestattet mit russischer Militärtechnik und ganz zweifelsohne mit Zustimmung des russischen Präsidenten Putin. Insofern wird es zukünftig in erster Linie darum gehen, die Lage der Menschenrechte genau zu beobachten. Denn dass es zu Menschenrechtsverletzungen kommen wird, ist in einem solchen Krieg leider nicht auszuschließen, so wie es ja im Sahel auch durch französische, malische und andere afrikanische Streitkräfte immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist.
(9) Weshalb der Konflikt in Mali langfristig nicht militärisch gelöst werden kann.
Die öffentliche Debatte zum Sahel wird in Europa immer wieder von militärischen Fragestellungen dominiert. Umso ausdrücklicher sei abschließend darauf hinweisen, dass diese Fokussierung irreführend ist. Denn die Krise im Sahel ist Ausdruck vielfältiger ökonomischer, politischer und sozialer Krisen – einschließlich der Klimakrise. Entsprechend können militärische Maßnahmen allenfalls flankierend wirksam werden. Wichtiger sind demgegenüber zivile Maßnahmen seitens der europäischen Länder: Erstens Unterstützung von Verhandlungen zwischen malischem Staat und dschihadistischen Gruppen, insbesondere solchen Gruppen, die sich primär aus malischen Mitgliedern zusammensetzen, etwa die Katiba Macina im Zentrum Malis; zweitens technische und politische Hilfestellung bei der Erneuerung staatlicher Institutionen, auch unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Strukturen lokaler Selbstverwaltung in ländlichen Regionen; drittens Gewährleistung umfassender entwicklungspolitischer Maßnahmen, die weit über das hinausgehen, was gemeinhin im entwicklungspolitischen Rahmen geschieht [12], und viertens diplomatische Bemühungen für eine schnellstmögliche Aufhebung der kontraproduktiven ECOWAS-Sanktionen. [13]
Fußnoten
[1) Afrique-Europe-Interact ist unter anderem in Mali aktiv, hauptsächlich in den Bereichen kleinbäuerliche Landwirtschaft, Migration, Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie. Vor diesem Hintergrund haben wir uns bereits am 24.01.2022 mit einem offenen Brief an die Deutsche Bundesregierung sowie mehrere Abgeordnete des Deutschen Bundestags gewandt – Anlass waren die ECOWAS-Sanktionen gegen Mali. Der Brief findet sich auf unserer Webseite an folgender Stelle: https://afrique-europe-interact.net/2113-0-Offener-Brief-an-Deutsche-Bundesregierung-etc.html
[2] Um sich einen Eindruck von der Zusammensetzung der aktuellen Regierung zu verschaffen, lohnt ein Blick auf deren Webseite: https://primature.ml/cat_team/ministres/
[3] Unser Mitglied Olaf Bernau hat die Vorgänge rund um Oumar Marikos Festnahme in einem Blogbeitrag ausführlich geschildert: https://olafbernau.de/2021/12/23/widerspruechliche-lage-in-mali-trotz-gewalt-und-repression-breite-beteiligung-der-bevoelkerung-an-nationalen-versammlungen/
[4] Eigene Übersetzung, vgl. hierzu: https://digitallibrary.un.org/record/3953112?ln=en
[5] Simone Schnabel: Looking back to understand the present: The coup in Burkina Faso and the legacy of regional interventions: https://blog.prif.org/2022/02/01/looking-back-to-understand-the-present-the-coup-in-burkina-faso-and-the-legacy-of-regional-interventions/
[6] Die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako führt seit 2012 regelmäßig repräsentative Umfragen in Mali durch, dem Mali-Mètre. Danach zeigten sich im März 2021 65 Prozent der malischen Bevölkerung mit der Übergangsregierung zufrieden, und dieser ohnehin schon hohe Wert ist im Zuge der Sanktionen eher noch nach oben gegangen. Vgl. http://library.fes.de/pdf-files/bueros/mali/10100/2021-12.pdf
[7] Das etablierte Parteienspektrum hat sich zu einer Plattform namens “Cade d'echange des partis et regoupements des partis politiques pour une transition réussie au Mali” zusammengeschlossen.
[8] Pressemitteilung vom 31.01.2021 (auch erschienen in der Wochenzeitung DIE ZEIT): https://www.vad-ev.de/wp-content/uploads/2022/01/VAD-Sahelausschuss-zu-Mali-Burkina-Putsch.pdf
[9] Vgl. https://www.swp-berlin.org/publikation/deutschlands-und-frankreichs-erfolgloses-engagement-in-libyen-und-mali
[10] Das Interview kann an folgender Stelle im Original nachgelesen werden: https://mali4infos.wordpress.com/2022/02/01/malis-aussenminister-reagiert-auf-frankreichs-beleidigungen-pour-batir-le-mali-abdoulaye-diop-se-prononce/#more-20813960
[11] Der Beitrag von Jean-Pierre Olivier de Sardan findet sich an folgender Stelle, aber leider hinter einer Paywall: https://aoc.media/opinion/2021/12/06/le-rejet-de-la-france-au-sahel-mille-et-une-raisons/
[12] In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich auf zwei ausführliche Stellungnahmen des Sahel-Ausschusses der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) verwiesen, der im Jahr 2020 insbesondere am Beispiel Burkina Fasos gezeigt hat, was das konkret bedeuten würde: https://www.vad-ev.de/vad-sahel-ausschuss/
[13] Vgl. Fußnote 1