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26. März 2020 | Sahelpolitik: Reaktion auf die Polemik der Informationsstelle Militarisierung gegen AEI

Diesen kurzen Text haben wir als Vorbemerkung anlässlich der Verschickung unseres Offenen Briefes an die Bundesregierung bezüglich der deutschen bzw. europäischen Sahel-Politik verfasst. Zugleich stellt dieser Text auch eine erste Reaktion auf eine harsche Polemik dar, die Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung am 16. März 2020 unter dem Titel Grundsätzliches Missverständnis der deutschen Außenpolitik in Mali. Afrique-Europe-Interact und das Phantasma militärisch gestützter Selbstermächtigung veröffentlicht hat.

Zu Recht steht derzeit die Corona-Krise im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und doch bedeutet dies nicht, dass andere Krisen nicht mehr existieren würden, ganz zu schweigen davon, dass sich viele der Krisen potentiell wechselseitig verstärken. Vor diesem Hintergrund möchten wir auf einen offenen Brief hinweisen, den wir – das transnationale Netzwerk Afrique-Europe-Interact – am 16. Februar an die Bundesregierung sowie zahlreiche Bundestagsabgeordnete geschrieben haben:

https://afrique-europe-interact.net/1832-0-Aktivitten-Europa.html

Denn in diesem Brief versuchen wir, die Politik (und somit auch die Öffentlichkeit) einmal mehr darauf aufmerksam zu machen, dass die seit vielen Jahren im Sahel eskalierende Krise nicht mit militärischen Mitteln gewonnen werden kann, vielmehr bedarf es grundlegender politischer, ökonomischer und sozialer Veränderungen, wie es gleich zu Beginn des Briefes heißt:

„Gleichwohl möchten wir darauf aufmerksam machen, dass den Konflikten sowohl im Zentrum als auch im Norden Malis politische, ökonomische und soziale Konflikte zugrunde liegen. Diese Feststellung ist weder neu noch originell, und dennoch elementar. Denn sie bedeutet, dass die Krise im Sahel nicht militärisch gelöst werden kann. Die einzige Möglichkeit zur (Wieder-)Erlangung eines friedlichen Sahels besteht darin, durch geeignete zivile Maßnahmen menschliche Sicherheit im vollumfänglichen Sinne des Wortes herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten.“

Und doch haben wir in unserem Brief weder den sofortigen Abzug der UN-Mission MINUSMA gefordert (dafür aber das Ende der französischen Militäroperation Barkhane), noch haben wir den punktuellen Einsatz militärischer Gewalt prinzipiell ausgeschlossen. Auf den ersten Blick mag das erstaunlich oder widersprüchlich anmuten, denn aus guten Gründen gibt es in großen Teilen der Zivilgesellschaft bzw. der sozialen Bewegungslandschaft in Europa den Konsens, wonach Waffengewalt in aller Regel krisenverschärfend, nicht jedoch krisenlösend wirkt. Dass wir in unserem offenen Brief dennoch für den Erhalt von MINUSMA plädieren, hat andere Gründe. Denn in unserem jahrelangen Austausch mit linken Aktivist*innen, Bauervertreter*innen, Journalist*innen, Wissenschaftlicher*innen etc. in Mali und anderen Sahelländern haben wir immer besser verstanden, wie wichtig es ist, genauer hinzugucken, also auch zu verstehen bzw. ernst zu nehmen, dass es an unterschiedlichen Orten auf der Welt sehr unterschiedliche Konstellationen und damit verknüpfte Perspektiven geben kann. Etwa wenn eine Bevölkerung erleben muss, dass sie immer wieder von bewaffneten Gruppen angegriffen wird, es aber weit und breit keinen Akteur gibt, der schützend eingreifen könnte (eine Konstellation, die auch aus dem bewaffneten Widerstand der Kurd*innen unter anderem gegen den IS bekannt ist). Entsprechend kann mensch in Mali kaum jemand finden, die*der einen sofortigen Abzug von MINUSMA fordern würde. Die Leute vertreten vielmehr eine Art Dreifachforderung: Erstens die sofortige Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung, was für viele mit der Forderung nach einer Art Komplettaustausch der korrupten politischen Klasse einhergeht; zweitens Abzug all jener ausländischen Truppen, die in erster Linie imperiale Interessen vertreten (womit vor allem Frankreich gemeint ist, nicht aber die UN-Mission MINUSMA); und drittens Stärkung nationaler Sicherheitskräfte und Armeen, um die Bevölkerung effektiv vor gewaltsamen Angriffen seitens dschihadistischer und anderer Gruppen zu schützen (und solange das nicht der Fall ist, sagen die meisten Leute halt, dass punktueller Schutz durch MINUSMA besser ist als gar kein Schutz).

Uns ist bewusst, dass eine solche Positionierung Irritationen wachrufen kann. Entsprechend haben wir bei Afrique-Europe-Interact vereinbart, spätestens im Juni eine ergänzendes Stellungnahme zu veröffentlichen, in der wir einerseits über unsere Debatten mit unseren Mitstreiter*innen in verschiedenen Sahelländern berichten, andererseits darüber, weshalb besagte Mitstreiter*innen von uns erwarten, dass wir hierzulande auch realpolitisch intervenieren, also auch Briefe an die handelnde Politik verfassen, die aus konkreten Handlungsempfehlungen bestehen, sich aber in Sachen linker Welterklärung bzw. linkem Jargon zurückhalten (einfach, weil ansonsten niemand im etablierten Politikbetrieb zuhören würde). Denn auch in der Mali-AG von Afrique-Europe-Interact waren nicht alle gleichermaßen glücklich über unseren offenen Brief an die Bundesregierung – und mindestens eine Person fand bzw. findet auch den punktuellen Einsatz von Waffengewalt falsch. Allerdings bestand Einigkeit darüber, dass eine solche realpolitische Intervention die konkrete Situation wohl kaum verschlimmern würde, womöglich aber einen gewissen Beitrag zur scheibchenweisen Veränderung deutscher bzw. europäischer Politik leisten kann (jedenfalls unter Berücksichtigung davon, dass es ja viele Akteure gibt, die sich dafür stark machen, dass die Krise im Sahel nicht militärisch gelöst werden kann – im Übrigen auch im Bundestag).

Umso ärgerlicher ist es, dass sich Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung „IMI“ aus Tübingen am 16. März 2020 zu einer Polemik unter dem Titel „Grundsätzliches Missverständnis der deutschen Außenpolitik in Mali. Afrique-Europe-Interact und das Phantasma militärisch gestützter Selbstermächtigung“ hat hinreißen lassen:

https://www.imi-online.de/2020/03/16/grundsaetzliches-missverstaendnis-der-deutschen-aussenpolitik-in-mali/

Ärgerlich ist so ziemlich alles an der Erklärung, dennoch seien drei Dinge hervorgehoben: Erstens entstellt Christoph Marischka die Stoßrichtung unserer Erklärung bis zur Unkenntlichkeit. Anstatt zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns in der „Höhle des Löwen“ (Bundestag) für nicht-militärische Vorgehensweisen ins Zeug legen, erweckt er durch Auslassungen und hochgradig selektive (Teil-)Zitate den Eindruck, dass wir den Interessen deutscher Geopolitik auf den Leim gehen würden. Zweitens lässt Christoph Marischkas Erklärung in nahezu jeder Zeile erkennen, dass er von den konkreten Konflikten und sozialen Realitäten in Mali bzw. im Sahel nicht den blassesten Schimmer hat, etwa wenn er die Konfliktdynamiken im Norden und Zentrum Malis einfach mal kurzschließt. Und zwar ungeachtet dessen, dass es durchaus zahlreiche (unter anderem in unserem offenen Brief zitierte) Analysen gibt, die das Zusammenspiel ganz verschiedener Faktoren bzw. Konfliktdynamiken herausarbeiten, gerade im Zentrum Malis, wo Land-Konkurrenzen zwischen Ackerbauern und Viehhirten, Klimawandel, Klassenkonflikte in der Gruppe der Peul(-Viehhirten), korrupte Staatlichkeit und Justiz, Nicht-Existenz sozialer Daseinsfürsorge, dschihadistische Gewalt mit sozialpolitischer Agenda etc. in den vergangenen Jahren eine hochgradig toxische Mischung geschaffen haben. Drittens – und das ist das eigentliche Problem – macht Christoph Marischkas Veröffentlichtung deutlich, dass er noch nicht einmal in Ansätzen im Austausch mit Menschen in Sahelländern steht – also mit Vertreter*innen sozialer Bewegungen, mit linken Politiker*innen, mit Journalist*innen, mit Wissenschaftler*innen oder mit wem auch immer. Vielmehr scheint Christoph Marischka überzeugt davon zu sein, dass er als allwissender Metropolen-Bewohner die Lage der Welt ganz alleine analysieren könne, ohne die Expertise und Einschätzung derer hinzuzuziehen zu müssen, die tagtäglich im Sahel nicht nur ums Überleben kämpfen, sondern auch forschen, schreiben oder öffentliche Proteste organisieren.

Wir möchten zum Ende kommen: Als Afrique-Europe-Interact freuen wir uns, wenn hierzulande eine Debatte über die Situation im Sahel zustandekommt, und das nicht nur, weil zu befürchten steht, dass die aktuelle Corona-Krise auch die Sahel-Krise zuspitzen wird (im Übrigen auch über indirekte Effekte – beispielsweise wenn der weltweite Reispreis steigt, weil Vietnam als drittgrößter Reisexporteur jüngst einen Exportstop erlassen hat). Allerdings scheint es uns absolut erforderlich und außerdem selbstverständlich zu sein, dass eine solche Debatte nur auf Basis konkreten Wissens erfolgen kann – inklusive des Wissens, wie die Situation vor Ort eingeschätzt wird. In diesem Sinne möchten wir abschließend nochmal auf mehrere Texte aufmerksam machen, die alle auf unserer Webseite dokumentiert sind:

a) Offener Brief an die Bundesregierung von Afrique-Europe-Interact, den wir (das sei explizit betont) mit zahlreichen Textverweisen auf deutsch-, englisch- und französischsprachige Analysen versehen haben:

https://afrique-europe-interact.net/1832-0-Aktivitten-Europa.html

b) Dokumentation einer von Afrique-Europe-Interact mitorganisierten Tagung, die im März 2019 in Frankfurt unter dem Titel „Wege aus der Gewalt? Gesellschaftliches Engagement im Kontext politischer Destabilisierung und gewaltsamer Konflikte im Sahel“ stattgefunden hat. Besonders war, dass auf dieser Tagung überwiegend Referent*innen aus Mali, Niger, Burkina Faso und Tschad gesprochen haben:

https://afrique-europe-interact.net/1834-0-Broschre-deutsch.html

c) Text zu den weiter oben angerissenen Konflikten im Zentrum Malis, den Olaf Bernau von Afrique-Europe-Interact im Februar 2020 in den Blättern für deutsche und internationale Politik unter dem Titel „Kampffeld Sahelzone: Wie der Dschihadismus von der Klimakrise profitiert” veröffentlicht hat:

https://afrique-europe-interact.net/1853-0-Gewalt-im-Sahel-und-Klimawandel.html

d) Christoph Marischka spricht in seinem Text von einer „tendenziell säkularen und frankophonen Elite“, deren (gegen die Aufstände in der malischen Perpherie gerichteten) Bestrebungen Afrique-Europe-Interact in den Jahren 2012/2013 in Mali indirekt unterstützt haben soll. Dieser etwas versteckt daherkommende Vorwurf ist nicht nur inhaltlich abstrus (die malischen Mitglieder von Afrique-Europe-Interact gehören überwiegend zur Masse der armen (Land-)Bevölkerung, die Mehrheit von ihnen spricht nicht französisch). Vielmehr verdankt sich diese Argumentationsfigur auch einer Glorifizierung jenes Teils der Tuareg-Community, der 2012/2013 (zusammen mit dschihadistischen Gruppen) die Gründung eines eigenständigen Azawad-Staats im Norden Malis forciert hat – und das, obwohl die Tuareg selbst im Norden Malis gerade mal 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Hierzu haben wir bereits 2012 und 2013 mehrfach Stellung bezogen, u.a. in einer Debatte mit der Forschungsstelle Flucht und Migration: Vgl. hierzu die beiden Texte „Kritische Anmerkungen zu Helmut Dietrichs Aufsatz „Nord-Mali / Azawad im Kontext der Arabellion“ und „Koloniales Erbe. Stichworte zum jahrzehntelangen Tuaregkonflikt im Norden Malis“:

https://afrique-europe-interact.net/1839-0-Replik-auf-Helmut-Dietrich.html

https://afrique-europe-interact.net/1855-0-Koloniales-Erbe-Tuareg-vs-malischer-Staat.html

e) Zudem sei erneut auf den von uns kritisierten Text von Christoph Marischka verwiesen:

https://www.imi-online.de/2020/03/16/grundsaetzliches-missverstaendnis-der-deutschen-aussenpolitik-in-mali/

Wer Rückfragen oder Kritik hat, möge sich bitte an uns wenden, auf jeden Fall stehen wir für solidarische Debatten jederzeit zur Verfügung.