16. Februar 2020 | UN-Mission MINUSMA in Mali: Offener Brief von AEI an Bundesregierung und Bundestag
Folgenden Brief zur aktuellen Situation im Sahel hat Afrique-Europe-Interact am 16. Februar 2020 sowohl an die Bundesregierung als auch an verschiedene Mitglieder des Deutschen Bundestags geschickt. Grundsätzlich ist es uns nicht einfach gefallen, einen solchen Brief zu verfassen. Denn der Brief ist eine realpolitische Stellungnahme und setzt sich daher auch mit dem Umstand auseinander, dass unter den gegebenen Bedingungen auf militärische Gewalt gegen bewaffnete (dschihadistische) Gruppen nicht gänzlich verzichtet werden kann – auch wenn wir (als Hauptstoßrichtung) immer wieder betonen, dass der Konflikt nur unter der Voraussetzung gelöst werden kann, dass sich die konkreten Lebensverhältnisse für die Masse der Bevölkerung grundlegend ändern. Dass wir uns trotz unserer Bedenken zu einer solchen Stellungnahme entschlossen haben, hat zwei Gründe: Zum einen erwarten unsere Mitstreiter*innen in Mali, dass wir uns eindeutig positionieren, und eindeutig heißt in diesem Fall vor allem: unter Berücksichtigung der von ihnen – die in dieser Region leben – formulierten Einschätzungen. Zum anderen halten wir es für richtig, das Primat ziviler Konfliktlösungsstrategien in die parlamentarische Debatte einzuführen, dies jedoch mit der Frage zu verknüpfen, unter welchen Bedingungen es punktuell auch nötig sein könnte, militärische (primär von den Sahelländern selbst verantwortete) Vorgehensweisen als flankierende Maßnahmen nicht auszuschließen. Ungeachtet dessen haben wir uns darauf verständigt, bis Ende Juni eine ergänzende Stellungnahme zu schreiben, in der wir unsere internen Widersprüche offen legen und zudem begründen, weshalb es für uns als Afrique-Europe-Interact wichtig ist, nicht nur mit grundsätzlichen, sondern auch mit realpolitischen Argumenten öffentlich Stellung zu beziehen.
Zum offenen Brief:
Betrifft: UN-Mission MINUSMA in Mali: Empfehlungen von Afrique-Europe-Interact
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
sehr geehrter Herr Bundesaußenminister Maas,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Kramp-Karrenbauer
sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Müller,
sehr geehrte Mitglieder des Verteidigungsausschusses,
sehr geehrte Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses,
sehr geehrte Mitglieder des Unterausschusses Vereinte Nationen, Internationale
Organisationen und Globalisierung,
sehr geehrte Mitglieder des Unterausschusses Zivile Krisenprävention,
Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln,
sehr geehrte Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung,
sehr geehrte Vorstände der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Bündnis90/Die
Grünen, FDP und Die LINKE im Deutschen Bundestag,
in den nächsten Monaten stehen wieder die parlamentarischen Beratungen an, ob und wie sich die Bundeswehr weiterhin an der UN-Mission MINUSMA in Mali beteiligen wird. Vor diesem Hintergrund wenden wir uns heute an Sie. Denn wir teilen die von unterschiedlicher Seite geäußerte Einschätzung, wonach sich die gesellschaftliche Lage nicht nur in Mali, sondern im gesamten westlichen Sahel einmal mehr zugespitzt hat. Umso wichtiger ist es, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, ansonsten droht die Region noch stärker in den Sog gewalttätiger Auseinandersetzungen zu geraten. Dies wäre in erster Linie eine Katastrophe für die dort lebenden Menschen, die ohnehin schon äußerst prekären Lebens-bedingungen ausgesetzt sind. Aber auch Ansteckungs- bzw. negative Synergie-effekte sind nicht auszuschließen – vor allem innerhalb des westafrikanischen bzw. des nordwestafrikanischen Raumes.
Wenn wir von „richtigen Maßnahmen“ sprechen, haben wir vor allem fünf Fragestellungen im Blick:
- (1) Welche Gewichtung zwischen zivilen und militärischen Vorgehensweisen ist angesichts der aktuellen Umstände angemessen?
- (2) Weshalb kommen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel sowie zur gezielten Unterstützung von Viehhirten (Pastoralisten) eine
zentrale Bedeutung zu? - (3) Was sind die Hintergründe für die wachsende Skepsis der Bevölkerung gegenüber MINUSMA und der französischen Militäroperation Barkhane, und was bedeutet dies für die zukünftige Ausgestaltung des MINUSMA-Mandats?
- (4) Inwiefern sollten zivilgesellschaftliche Akteure in Mali seitens europäischer Politik ungleich stärker eingebunden bzw. mit konkreten Aufgaben bedacht werden?
- (5) Ist es zutreffend, dass die derzeitige EU-Migrationspolitik die Krise im Sahel verschärft und wie sollte darauf reagiert werden?
Bevor wir auf diese Fragen näher eingehen, möchten wir in aller Kürze unsere eigene Arbeit in Mali skizzieren: Afrique-Europe-Interact ist ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Basisinitiativen, das seit 2010 in Mali und Niger tätig ist, dort insbesondere in den Bereichen Migration und ländliche Entwicklung. Die aktuelle Krise begleitet uns seit der Besetzung des Nordens durch separatistische und dschihadistische Kräfte im März 2012: Bereits im November 2012 haben malische Mitgliedsgruppen von Afrique-Europe-Interact einen „weißen Marsch“ von Mopti nach Douentza initiiert, ein auf nicht-militärische Konfliktlösung zielendes Friedensprojekt, das jedoch wegen der französischen Militärintervention nicht durchgeführt werden konnte. Stattdessen haben in Bamako zwei große Bürgerversammlungen mit jeweils mehreren hundert Teilnehmer*innen stattgefunden – Ziel war es, einen Beitrag zur Verständigung der unterschiedlichen Volksgruppen zu leisten, insbesondere im damals dschihadistisch besetzen Norden. Gleichzeitig haben wir die kontinuierliche Verschlechterung der Sicherheitslage durch die ebenfalls seit 2012 andauernde Zusammenarbeit mit der bäuerlichen Basisgewerkschaft COPON im Office du Niger (Region Ségou) erlebt: Dörfer, in denen wir bis 2016 problemlos übernachtet haben, können heute nicht mehr oder nur nach vorheriger Sicherheitsgarantie durch den Dorfchef oder den Ältestenrat besucht werden („Sicherheitsgarantie“ bedeutet, dass keine bewaffneten Kleingruppen in der Gegend unterwegs sind). Entsprechend müssen wir auch miterleben, wie die alltägliche Arbeit nicht nur der Bauerngewerkschaft COPON, sondern auch der Bauern und Bäuerinnen selbst immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wird. Kurzum: Die hier präsentierten Überlegungen rühren aus unserer alltäglichen Praxis, sie sind nicht zuletzt Ausdruck unserer Gespräche mit Partnern im Sahel. In diesem Sinne möchten wir nunmehr zu den fünf genannten Bereichen Stellung beziehen:
1. Welche Gewichtung zwischen zivilen und militärischen Vorgehensweisen ist angesichts der aktuellen Umstände angemessen?
MINUSMA hat positive Effekte, das möchten wir – trotz aller Schwierigkeiten – ausdrücklich betonen: Erstens leistet MINUSMA einen erheblichen Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung, jedenfalls dort, wo MINUSMA präsent ist, was jedoch angesichts des weitläufigen Sahels nur relativ kleine Zonen sind. Insofern war es auch ein wichtiger Schritt, dass in der letztjährigen Neuformulierung des MINUSMA-Mandats der Schutz der Zivilbevölkerung im Zentrum Malis (und nicht nur im Norden) als weitere Zielsetzung beschlossen wurde. Zweitens spielt MINUSMA eine beachtliche Rolle in der Umsetzung des 2015 beschlossenen Friedensvertrags von Algier, unter anderem, indem sie auf die Unterzeichner – inklusive malische Regierung – kontinuierlich Druck ausübt, die dort vereinbarten Maßnahmen effektiv umzusetzen (allerdings gibt es auch Kritik am Friedensvertrag und somit an der Rolle von MINUSMA – dazu gleich noch mehr). Drittens wird MINUSMA als Stabilitätsanker geschätzt, der nicht nur Arbeitsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung zur Verfügung stellt und damit – wie Frauenvereine in Gao betonen – junge Männer von bewaffneten Gruppen fernhält, sondern auch selber Entwicklungsprojekte durchführt bzw. Räume für Entwicklungsprojekte eröffnet. Die genannten Erfolge sind nach unserem Eindruck relativ unstrittig, auch die große Mehrheit der malischen Bevölkerung sieht das so, entsprechend richten sich die jüngsten Proteste gegen ausländische Truppen in erster Linie gegen die französische Militäroperation Barkhane, wie wir weiter unten noch ausführen werden.
Gleichwohl möchten wir darauf aufmerksam machen, dass den Konflikten sowohl im Zentrum als auch im Norden Malis politische, ökonomische und soziale Konflikte zugrunde liegen. Diese Feststellung ist weder neu noch originell, und dennoch elementar. Denn sie bedeutet, dass die Krise im Sahel nicht militärisch gelöst werden kann. Die einzige Möglichkeit zur (Wieder-)Erlangung eines friedlichen Sahels besteht darin, durch geeignete zivile Maßnahmen menschliche Sicherheit im vollumfänglichen Sinne des Wortes herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Denn dass dschihadistische, separatistische und kriminelle Organisationen mittlerweile über eine durchaus beachtliche Verankerung in Teilen der Bevölkerung verfügen, hat unmittelbar mit den äußerst prekären Existenzbedingungen der großen Bevölkerungsmehrheit zu tun: Die staatliche Daseinsfürsorge ist vielerorts nur rudimentär vorhanden (und dieser Umstand hat sich in den letzten Jahren enorm verschärft), auch die Infrastruktur ist schwach, Schutz vor Viehdiebstählen, Überfällen oder Anschlägen ist kaum gewährleistet. Kurzum: Der Staat ist wenig präsent (in der Region Mopti sind nur noch 30 bis 40 Prozent der staatlichen Territorialverwaltung am Platze – Stand: April 2019), und wo er präsent ist, wird er von der Bevölkerung mehrheitlich als korrupt und brutal empfunden. Besonders kritisiert werden Polizei und Justiz: Im Jahr 2019 hielten 59 Prozent der Malier*innen Richter*innen für korrupt, 55 Prozent die Polizei [1]. Ebenfalls in der Kritik steht die allgemeine wirtschaftliche Lage, die sich vor allem durch einen massiven Mangel an Arbeitsplätzen auszeichnet.
Ausschlaggebend für das Verständnis der malischen Krise ist nunmehr, dass sich bewaffnete Gruppen jeder Couleur diese und weitere Missstände zu eigen machen. Nicht nur, indem sie (ideologisch aufgeladene) Kritik üben, sie bieten auch Alternativangebote. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die im Zentrum Malis verankerte Terrororganisation „Katiba Macina“ des salafistischen Predigers Amadou Koufa, der zur Volksgruppe der Fulbe gehört (aus der sich die meisten Viehhirten im westlichen Sahel rekrutieren). Denn die Katiba Macina stellt die soziale Ordnung im Sahel ausdrücklich in Frage: Sie kritisiert überhöhte Weidegebühren, die Angehörige der traditionellen Fulbe-Elite erheben, auch geißelt sie korrupte Landvergabepraktiken der staatlichen Verwaltung oder stellt Richter*innen an den Pranger, die sich bei Land- und Wasserkonflikten bestechen lassen. Es kann daher nicht überraschen, dass sich vor allem die Söhne armer Fulbefamilien der Katiba Macina angeschlossen haben. Dies jedoch mit der fatalen Konsequenz, dass die Fulbe nun seitens der übrigen Bevölkerung pauschal als Terroristen verdächtigt werden, was wiederum zu tödlichen Zusammenstößen zwischen Angehörigen verschiedener Volksgruppen führt (etwa am 23. März 2019, als in Ogassagou, im Zentrum Malis, über 160 Bewohner*innen eines Fulbe-Dorfes von Angehörigen einer Dogon-Miliz ermordet wurden).
Vergleichbare Dynamiken sind auch aus anderen Regionen des Sahel bekannt – etwa aus dem schwer zugänglichen Nationalpark W (Burkina Faso, Niger und Benin), der für mehrere bewaffnete Gruppen ein wichtiges Rückzugsgebiet darstellt. Um die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu erlangen, haben die Dschihadisten bestimmte Teile des Parks unter ihre Kontrolle gebracht und wichtige Naturschutzgesetze außer Kraft gesetzt, vor allem das weitgehende Jagdverbot [2]. Ähnlich in einigen Goldabbaugebieten im Osten Burkina Fasos: Auch dort haben dschihadistische Gruppen das Kommando übernommen und handwerklichen Goldschürfern bessere Konditionen eingeräumt als zuvor die staatliche Verwaltung [3].
Schlussfolgerungen: Dschihadistischen und anderen Gruppen kann nur der Nährboden entzogen werden, wenn sich die Lebensbedingungen der allgemeinen Bevölkerung spürbar verbessern. MINUSMA kann die Gewalt eindämmen und somit Freiräume schaffen. Doch die Hauptarbeit muss im Rahmen ziviler Maßnahmen erfolgen, wozu nicht zuletzt eine umfassende Erneuerung staatlicher Strukturen gehört, insbesondere auf kommunaler Ebene. Vor diesem Hintergrund fordern wir seitens der Bundesregierung eine massive Aufstockung ziviler Mittel, sie müssen Priorität haben, im übrigen auch für lokale Friedens- und Dialoginitiativen. Demgegenüber sollten militärische Maßnahmen diese Prozesse allenfalls flankieren (um Anschläge zu verhindern), dies allerdings losgelöst von konkreten entwicklungspolitischen Maßnahmen [4].
2. Weshalb kommen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel sowie zur gezielten Unterstützung von Viehhirten eine zentrale Bedeutung zu?
Die Krise in Mali hat Anfang 2012 im Norden begonnen – damals durch eine von dschihadistischen und separatistischen Kräften getragene Besetzung der nördlichen Landeshälfte. Seit 2015 hat sich die Krise schrittweise ins Zentrum Malis ausgeweitet, 2019 waren 85 Prozent der Opfer im Zentrum zu beklagen. Dies hat in Europa zu der These geführt, dass sich der Konflikt Richtung Süden verlagert habe, manche sagen sogar, dass die Präsenz ausländischer bzw. westlicher Truppen die Dschihadisten erst stark gemacht hätte. Diese Lesart liegt für Außenstehende nahe, wird aber in Mali in dieser Form kaum geteilt. Vielmehr wird betont, dass es zwar Gemeinsamkeiten zwischen Norden und Zentrum gäbe (wie Mangel an staatlichen Basisdienstleistungen, korrupte Justiz etc.), dass es aber dennoch darauf ankomme, die jeweils lokalen Konflikte genauer in den Blick zu nehmen. So geht es im Zentrum Malis insbesondere um Land- und Wasserkonflikte zwischen Viehhirten und Ackerbauern. Durch Überbeanspruchung des Bodens und Klimawandel – aber auch durch korrupte Landvergabepraktiken – kommt es immer öfter zu Spannungen: Einerseits gelangen Tiere auf noch nicht abgeerntete Felder und fressen die Ernte, andererseits sind zunehmend die Durchzugswege für die Herden oder der Zugang zu Wasserstellen blockiert, häufig durch frisch angelegte Felder. Derartige Interessenkonflikte sind keineswegs neu, sie gab es bereits im 19. Jahrhundert. Neu ist jedoch, dass diese Land- und Wasser-Konkurrenzen immer seltener konsensual gemäß klassischer, d.h. lokal verankerter Konfliktlösungsmechanismen beigelegt werden. Stattdessen wird unter dem Einfluss dschihadistischer und bewaffneter (Selbstverteidigungs-)Gruppen immer öfter zu den Waffen gegriffen [5].
Schlussfolgerungen: Mit Blick auf die aktuellen Konfliktdynamiken im Zentrum Malis möchten wir umfassende Maßnahmen in den Bereichen Anpassung an den Klimawandel und Förderung der Viehwirtschaft empfehlen, letzteres auch deshalb, weil sich nicht nur die oben erwähnte Katiba Macina, sondern auch zahlreiche andere Terrorgruppen in Mali bzw. im Sahel maßgeblich aus der Fulbe-Community rekrutieren. Konkret geht es um Maßnahmen wie Bewässerungsprojekte jeder Art (inklusive Brunnen für Viehhirten), Aufforstungsprogramme, Förderung agrarökologischer Anbaumethoden, Programme zur klaren Abgrenzung zwischen Acker- und Weideland, bessere Vermarktungsmöglichkeiten etc. [6].
3. Was sind die Hintergründe für die wachsende Skepsis der Bevölkerung gegenüber MINUSMA und der französischen Militäroperation Barkhane, und was bedeutet dies für die zukünftige Ausgestaltung des MINUSMA-Mandats?
Immer wieder ist es in den letzten Monaten zu Demonstrationen gegen ausländische Truppen gekommen, auch gegen die UN-Mission MINUSMA. Dies zeigt: MINUSMA hat in Mali – trotz der eingangs erwähnten Erfolge – ein beträchtliches Akzeptanzproblem, welches seinerseits Wasser auf die Mühlen bewaffneter Gruppen ist. Kritisiert werden vor allem drei Aspekte:
Erstens heißt es, dass zu viele Ressourcen in den Eigenschutz bzw. die Eigenversorgung gingen (nach unterschiedlichen Schätzungen 70 bis 80 Prozent) und die Mission daher nicht sonderlich effektiv ist. Grundsätzlich dürfte es sich von selbst verstehen, dass Eigenschutz legitim ist. Insofern verweist die Kritik vor allem auf die Notwendigkeit schnell umzusetzender entwicklungsbezogener Maßnahmen. Denn natürlich stoßen derart hohe Ausgaben für die Versorgung ausländischer Truppen in einem Land auf Unverständnis, in dem 49,3 Prozent der Menschen von weniger als 1,90 Dollar pro Tag leben.
Zweitens sieht sich MINUSMA mit dem Dilemma konfrontiert, qua Mandat die Vereinbarungen eines hochgradig widersprüchlichen Friedensvertrags fördern zu müssen. Konkreter: Zu den Unterzeichnern des Friedensvertrags gehören unter anderem jene separatistischen Gruppen, die im Frühjahr 2012 – zusammen mit dschihadistischen Gruppen – die Abtrennung der nördlichen Landeshälfte forciert haben. Entsprechend ist MINUSMA verpflichtet, mit jenen Gruppen zusammenzuarbeiten, während gleichzeitig viele dieser Gruppen ihre Waffen immer noch nicht abgegeben haben oder weiterhin in kriminelle Geschäfte oder Anschläge involviert sind (letzteres vor allem über Gruppen, die mit ihnen assoziiert sind). Genau dies löst in der Bevölkerung immer wieder große Empörung aus, in gewisser Weise erscheint MINUSMA wie die Schutzmacht dieser separatistisch gesonnenen Kräfte. Im Kern handelt es sich um die Kritik an einer auch aus anderen Friedensverträgen bekannten Gewaltdividende: „Nimm eine Waffe in die Hand, dann sitzt du am Verhandlungstisch und kannst Forderungen erheben“. Auch hier gilt: Dieses Dilemma ist nicht Schuld der MINUSMA, allerdings spricht vieles dafür, dass MINUSMA noch mehr Ressourcen in die Umsetzung des Friedensvertrags investiert, insbesondere für die erst seit Mitte 2019 wirklich in Gang gekommene Entwaffnung dieser Gruppen, wie es viele Vertreter*innen der malischen Zivilgesellschaft seit Jahren fordern.
Drittens – und dieser Punkt ist am entscheidendsten – ist MINUSMA schon seit längerem in den Negativ-Sog der französischen Antiterrormission Barkhane geraten. Denn diese Antiterrormission wird von vielen Menschen in Mali bzw. im Sahel abgelehnt: Frankreich würde sich wie eine Besatzungsmacht in Mali verhalten (was im Lichte der bis heute lebendigen Erinnerung an die Kolonialzeit ein handfestes Problem darstellt). Kritisiert wird die Zusammenarbeit mit einigen der eben erwähnten bewaffneten Gruppen. Gemeint sind vor allem separatistische Tuareg-Milizen, die laut Frankreich aufgrund ihrer Kenntnis des Geländes unverzichtbar für den Antiterrorkampf im Norden des Landes sind. Auf diese Weise, so die Kritik der Bevölkerung, betreibt Frankreich durch die Hintertür eine faktische Spaltung des Landes. Hinzu kommt, dass Frankreich selbstherrlich agiert, etwa indem es jede Verhandlung mit dschihadistischen Gruppen verhindert, obwohl genau dies bereits zweimal von nationalen (Versöhnungs-)Konferenzen in Mali beschlossen wurde. Inwieweit diese und weitere Kritikpunkte in Gänze zutreffend sind, sei dahingestellt. Denn Fakt ist, dass MINUSMA droht, seine Aufgaben nicht mehr angemessen erfüllen zu können, weil die an Barkhane geübte Kritik zunehmend auch auf MINUSMA abzufärben droht.
Schlussfolgerungen: Grundsätzlich appellieren wir an die Bundesregierung, die aus den deutsch-französischen Beziehungen resultierende Loyalität mit der französischen Afrikapolitik aufzugeben. Und dies erfordert auch, die von Frankreich derzeit zusammengestellte neue Antiterrorgruppe „Takuba“ ausdrücklich in Frage zu stellen, anstatt einfach nur die Nicht-Teilnahme deutscher Soldat*innen zu erklären [7]. Genauso fragwürdig wäre allerdings, was zahlreiche Malier*innen fordern (auch solche aus der Zivilgesellschaft), MINUSMA mit einem Kampfauftrag gemäß Kapitel VII der UN-Charta auszustatten. Denn das stünde nicht nur im Widerspruch zu dem bereits begründeten Primat ziviler Vorgehensweisen, sondern würde auch zu noch mehr Angriffen auf die UN-Truppen führen und somit MINUSMA daran hindern, ihren friedensstiftenden Auftrag zu erfüllen. Demgegenüber gilt es, das französische Militär einzuhegen. Entsprechend dürfte es in Mali mittlerweile Konsens sein, dass der Antiterrorkampf zum jetzigen Zeitpunkt zwar nicht ohne externe Hilfe geführt werden kann (und alles spricht dafür, dass die dschihadistischen Kräfte das Feld kurz- und mittelfristig nicht kampflos räumen werden), dass aber schnellstmöglich ein Transitionsprozess einzuleiten ist, an dessen Ende die Verantwortung für Kampfeinsätze ausschließlich bei der Regionalorganisation G5 liegt (Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger und Tschad). Damit dies gelingen kann, ist freilich zweierlei unabdingbar: Einerseits muss an die G5-Länder Ausrüstungshilfe gewährt werden (insbesondere an Mali, Burkina Faso und Niger), andererseits ist eine umfassende Ausbildung der G5-Truppen zu gewährleisten, insbesondere in Menschenrechtsfragen und deeskalativem Vorgehen (also Aspekte, die im Rahmen der ohnehin schon laufenden Sicherheitssektorreformen anzugehen sind). Denn natürlich ist zu vermeiden, dass der Aufbau militärischer Kapazitäten zu Missbrauch führt, etwa zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung, wie es im Antiterrorkampf regelmäßig geschieht – insbesondere in Nigeria und Tschad, punktuell auch in Mali und Burkina Faso. Aus Sicht von Afrique-Europe-Interact ist dieses Herangehen eine hochgradig ambivalente Strategie, allerdings spricht vieles dafür, dass sich der Terror noch weiter ausdehnen wird (auch auf die Nachbarländer), wenn weiterhin primär auf ausländisch getragenen Militäroperationen gesetzt wird – bei gleichzeitiger Vernachlässigung ziviler Maßnahmen, die ohnehin, das sei ausdrücklich betont, den maßgeblichen Schlüssel zur Konfliktlösung darstellen [8].
4. Inwiefern sollten zivilgesellschaftliche Akteure in Mali seitens europäischer Politik ungleich stärker eingebunden bzw. mit konkreten Aufgaben bedacht werden?
Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen der Opposition und Angehörige der Zivilgesellschaft im Sahel sind sich einig, dass schlechte Regierungsführung und die Schwäche staatlicher Strukturen zentrale Faktoren in der aktuellen Krise sind (zusammen mit ungünstigen Rahmenbedingungen wie Klimawandel, globaler Ungleichheit etc.). Umso wichtiger ist es, dass im Rahmen ziviler Maßnahmen zivilgesellschaftliche Akteure umfassend gestärkt werden, auch solche, die in kleinen Städten oder auf dem Land angesiedelt sind. Zunächst, weil nur so staatliches Handeln effektiv beobachtet und kontrolliert werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Stärkung militärischer Strukturen immer auch eine Stärkung von Regierungen bedeutet, deren Handeln von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung kritisiert bzw. als illegitim empfunden wird. Hinzu kommt, dass lokal verankerte Dialog- und Versöhnungsinitiativen eine wichtige Voraussetzung bei der Überwindung konflikthafter Spannungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen darstellen. Und dabei wiederum sollten nicht nur zivilgesellschaftliche, sondern auch religiöse Repräsentanten, Ältestenräte und lokale Persönlichkeiten eine prominente Rolle spielen, einfach deshalb, weil diese – anders als staatliche Akteure – das Vertrauen der lokalen Bevölkerung genießen [9].
5. Ist es zutreffend, dass die derzeitige EU-Migrationspolitik die Krise im Sahel verschärft und wie sollte darauf reagiert werden?
Im ursächlichen Sinne dürfte die EU-Migrationspolitik nur mittelbar mit der aktuellen Krise im Sahel zusammenhängen. Fakt ist jedoch, dass die restriktive EU-Migrationspolitik die derzeitige Sicherheitskrise massiv verschärft: Erstens, weil sie Migration erschwert bzw. verhindert und somit die Krise in den Herkunftsländern subsaharischer Migrant*innen zuspitzt – was umgekehrt wiederum gewalttätigen Gruppen in die Hände spielt. Denn Fakt ist, dass Migrant*innen durch die enormen Rücküberweisungen an ihre Familien in zahlreichen Ländern zu einer Art Bollwerk gegen die ärgsten Auswirkungen absoluter Armut geworden sind [10]. Zweitens, weil die zunehmende Migrationskontrolle (auch an innerafrikanischen Grenzen) die vertraglich kodifizierte Bewegungsfreiheit innerhalb der ECOWAS behindert und sich somit negativ auf grenzüberschreitenden Handel und inner-westafrikanische Wanderarbeit auswirkt [11]. Drittens, weil insbesondere im Niger zahlreiche Menschen ihre Existenzgrundlage verloren haben, die bis 2016 Migrant*innen legal untergebracht und durch die Wüste befördert haben (Hintergrund ist das auf Initiative der EU zustande gekommene „Gesetz 2015-36“, das den Transport von Migrant*innen unter Strafe stellt). Da die seitens der EU angekündigten Kompensationen bei den wenigsten Betroffenen angekommen sind, hat dies zu großem Unmut in der Bevölkerung geführt, einschließlich der Sorge, dass sich ehemalige Fahrer oder Hoteliers bewaffneten Gruppen anschließen könnten. Zudem ist das ehemals legale Migrationsgewerbe in die Illegalität gedrängt worden, was zu einer weiteren Stärkung und bewaffneter Gruppen geführt hat (auch im Sinne zusätzlicher Einkommensquellen).
Schlussfolgerungen: Die EU-Migrationspolitik ist ein eigenständiges Politikfeld, deshalb möchten wir an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen. Grundsätzlich möchten wir allerdings dringend empfehlen, Abstand von der restriktiven Migrationspolitik zu nehmen. Sie verstößt nicht nur gegen grundlegende menschenrechtliche Standards, sie untergräbt auch Lösungsbemühungen der aktuellen Krise im Sahel.
Uns ist bewusst, dass die vorliegenden Empfehlungen umfangreich sind. Gleichzeitig dürfte deutlich geworden sein, dass sich im westlichen Sahel diverse Problemlagen überlagern – auch deshalb haben wir zu den einzelnen Aspekten jeweils aktuelle Literaturverweise angebracht. Insgesamt wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn sich Bundesregierung und Deutscher Bundestag auf ein Instrumentarium verständigen würden, das der Komplexität im Sahel – und somit den dort lebenden Menschen – gerecht wird, insbesondere was das Primat ziviler gegenüber militärischer Vorgehensweisen betrifft.
Mit freundlichen Grüßen,
Volker Mörchen
Fußnoten
[1] Afrobarometre (2019): Global Corruption Barometer – Africa 2019: Citizens’ views and experiences of corruption, S. 43. Download: http://afrobarometer.org/sites/default/files/publications/Publications%20conjointes/partenaires/ab_r7_global_corruption_barometer_report.pdf
[2] Dieses Beispiel stammt aus einer Ende 2019 erschienen, bislang leider nur auf Französisch verfügbaren Studie des Institut d'études de sécurité: „Extrémisme violent, criminalité organisée et conflits locaux dans le Liptako-Gourma“. Download: https://issafrica.org/fr/recherches/rapport-sur-lafrique-de-louest/extremisme-violent-criminalite-organisee-et-conflits-locaux-dans-le-liptako-gourma
[3] Vgl. hierzu eine Studie der International Crisis Group vom November 2019: „Getting a Grip on Central Sahel’s Gold Rush”. Download: https://www.crisisgroup.org/africa/sahel/burkina-faso/282-reprendre-en-main-la-ruee-vers-lor-au-sahel-central
[4] Diese Forderung gehört zu den zentralen Schlussfolgerungen einer Konferenz mit zahlreichen Referent*innen aus den westlichen Sahelstaaten, zu der das Netzwerk Fokus Sahel (an dem auch Afrique-Europe-Interact beteiligt ist) im März 2019 in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Frankfurt eingeladen hat. Download: https://www.fokussahel.de/
[5] Eine 2018 erschienene Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung beleuchtet diese Zusammenhänge im Detail: Gaye Serigne-Bamba: Conflicts between farmers and herders against a backdrop of asymmetric threats in Mali and Burkina Faso. Download: https://library.fes.de/pdf-files/bueros/fes-pscc/14174.pdf. Zudem sei auf die Dokumentation einer Tagung verwiesen, die unter maßgeblicher Beteiligung der GIZ und des ZFD (Ziviler Friedensdienst) im November 2019 in der nigrischen Hauptstadt Niamey stattgefunden hat: https://www.water-energy-food.org/resources/resources-detail/conference-prevention-et-gestion-des-conflits-lies-a-la-gouvernance-des-ressources-naturelles-en-afrique-de-l-ouest-defis-et-perspectives/
[6] Zur immer stärker werdenden Rolle des Klimawandels bei den Konflikten in Mali bzw. im Sahel vgl.: Bettina Rühl: Klimakrise in Mali – Über Bauern, Hirten und Islamisten. WDR-Feature (15.12.2019): https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-dok5-das-feature/audio-klimakrise-in-mali—-ueber-bauern-hirten-und-islamisten-100.html; Olaf Bernau: Kampffeld Sahelzone: Wie der Dschihadismus von der Klimakrise profitiert, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 02 2020.
[7] „Takuba“ ist ein Wort aus der Sprache der Tuareg und bedeutet Schwert. Der von Frankreich angeführte Kampfverband ist zur Entlastung von Barkhane geplant, bislang haben nur Estland, Belgien, Dänemark und Tschechien ihre Beteiligung zugesagt. In ihrer öffentlich zugänglichen Antwort auf eine kleine Anfrage der FDP gibt die Bundesregierung im Dezember 2019 zwar keine Antwort auf die Frage, ob sich Deutschland an der französischen Mission beteiligen wird (vgl. Drucksache 19/16164), allerdings war in mehreren Zeitungen zu lesen, dass sich Deutschland nicht beteiligen möchte.
[8] Eine diesbezügliche Begründung hat Youssouf Coulibaly in einem deutschsprachigen Interview am 30.01.2020 gegeben. Youssouf Coulibaly ist Rechtsprofessor in Bamako und in der Menschenrechtsausbildung malischer G5-Soldat*innen tätig. Im März 2019 hat er an der von Fokus Sahel organisierten Konferenz „Wege aus der Gewalt?“ in Frankfurt teilgenommen (vgl. FN 4 und 9). Download: https://peacelab.blog/2020/01/der-anti-terror-kampf-im-sahel-ist-in-keiner-weise-effektiv
[9] Die Stärkung zivilgesellschaftlicher Akteure spielt auch in dem von VENRO (Verband Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe) Ende 2019 veröffentlichten Positionspapier „Noch Ausnahme oder schon Normalfall? Die Zusammenarbeit mit fragilen Staaten“ eine wichtige Rolle. Download: https://venro.org/publikationen/detail/noch-ausnahme-oder-schon-normalfall-die-zusammenarbeit-mit-fragilen-staaten/
[10] Aktuelle Zahlen zum Umfang der Rücküberweisungen finden sich unter anderem in einem regelmäßig erscheinenden Bericht der Weltbank: Worldbank: Migration and Development Brief 31 (2019). Download: https://www.knomad.org/publication/migration-and-development-brief-31
[11] Zahlreiche Studien sind hierauf eingegangen, vgl. unter anderem eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2019 herausgegebene Studie: Rahmane Idrissa, Dialogue in divergence: the impact of EU migration policy on West African integration: the cases of Nigeria, Mali, and Niger. Download: http://library.fes.de/pdf-files/iez/15284.pdf