06.-08. Oktober 2017 | Selbstbestimmt und solidarisch: Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologischer Krise

vom 6. bis 8. Oktober 2017 hat in Leipzig eine Konferenz unter dem Titel “Selbstbestimmt und solidarisch! Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologischer Krise” mit 700 Teilnehmer_innen stattgefunden. Die Konferenz wurde von einem gemischten Team aus Geflüchteten, Migrant_innen und Leuten ohne Flucht- und Migrationsgeschichte vorbereitet. Einige waren als Einzelpersonen dabei, andere u.a. in folgenden Gruppen und Netzwerken aktiv: Afrique-Europe-Interact, Corasol (Berlin), Entwicklungspolitisches Netzwerk Sachsen e.V. , glokal e.V. – machtkritische Bildung und Beratung (Berlin) und Konzeptwerk Neue Ökonomie (Leipzig).

Dekolonisierung als Fluchtpunkt

Spätestens seit Geflüchtete im Sommer 2015 das europäische Grenzregime vorübergehend aus den Angeln gehoben haben, ist die Beschäftigung mit Fluchtursachen zu einer Art Dauerbrenner in der europäischen Öffentlichkeit avanciert – dies insbesondere mit Blick auf afrikanische Länder. Denn die EU-Regierungen hoffen, auf diese Weise die Zahl neu ankommender Geflüchteter deutlich reduzieren zu können.

Mittels milliardenschwerer Programme wie dem “Marshallplan mit Afrika” oder dem jüngst beim G20-Gipel in Hamburg beschlossenen “Compact with Africa” sollen Privatinvestitionen aus den reichen Ländern gefördert werden. Nur so, heißt es, ließen sich jene Wachstumsimpulse setzen, die langfristig zu wirtschaftlichem Aufschwung und somit neuen Arbeitsplätzen in Afrika führen würden. Gleichzeitig ist die EU weiterhin mit der Vorverlagerung ihres Grenzregimes beschäftigt. Dabei schreckt sie auch nicht vor einer Kooperation mit Diktaturen wie im Sudan oder Eritrea zurück – genauso wenig wie vor einer Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache, obwohl selbst das deutsche Außenministerium die Situation in libyschen Auffanglagern als blanken Horror beschreibt.

Doch nicht nur die Inkaufnahme schwerster Menschenrechtsverletzungen ist skandalös. Nicht weniger dramatisch ist, dass die ins Auge gefassten Entwicklungsstrategien in erster Linie den Profitinteressen transnationaler Unternehmen dienen, nicht aber dem Wohl jener Länder, um die es eigentlich geht. Vor allem drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen – auch mit Blick darauf, dass wir bei der Konferenz verschiedene Themen und Fragestellungen verknüpfen wollen: Erstens sind die katastrophalen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im Süden des Globus das Ergebnis jahrhundertelanger, tief im Kolonialismus verankerter Dominanz- und Ausbeutungsverhältnisse – einschließlich der Installierung oder des Schutzes “westlich” orientierter Regime. Jedes Reden über Entwicklung muss sich diesem komplexen Erbe stellen, ein schlichtes “Weiter-So” verbietet sich von selbst. Zweitens ist es irreführend, Migration und Entwicklung als Gegensätze zu präsentieren – so wie das seitens der Politik in aller Regel passiert. Denn Geflüchtete und Migrant_innen – die Übergänge zwischen den beiden Gruppen sind fließend – leisten unter anderem durch regelmäßige Geldüberweisungen an ihre Familien und Freund_innen einen bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung ihrer Herkunftsgesellschaften. Wo dies durch repressive Migrationspolitik verhindert wird, drohen beträchtliche Finanzengpässe bei Ernährung, Gesundheitsversorgung und Schulbildung, wofür die Rücküberweisungen in aller Regel verwendet werden. Drittens ist die Welt von vielfältigen ökologischen Krisen betroffen – insbesondere hinsichtlich Klima, Bodenqualität, Wasser und Biodiversität. Ungebremstes Wirtschaftswachstum, jetzt auch im Süden des Globus, ist daher auf keinen Fall eine Lösung. Hier bedarf es ganz anderer Debatten, vor allem zur Frage, was überhaupt unter selbstbestimmter Entwicklung zu verstehen ist. In diesem Sinne sollen bei der Konferenz ganz verschiedene Fragen zur Sprache kommen:

  • Aus welchen Gründen machen sich Geflüchtete und Migrant_innen auf den Weg? Stichwort: “Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!”.
  • Was ist gemeint, wenn wir das Recht auf selbstbestimmte Entwicklung fordern? Geht es um die Befriedigung von Grundbedürfnissen oder haben wir weitergehende Konzepte zur Veränderung ganzer Gesellschaften im Kopf? Ist es überhaupt sinnvoll, von “Entwicklung” zu sprechen oder sollten wir andere Begriffe benutzen?
  • Welche alternativen Konzepte oder Strategien zum dominanten westlichen Entwicklungsmodell gibt es bereits? Was können wir von Konzepten wie “Ernährungssouveränität”, “Buen Vivir”, “Klimagerechtigkeit”, “Degrowth” oder “Post-Development” lernen?
  • In welchen Bereichen muss es auf globaler, nationaler und lokaler Ebene jeweils Veränderungen geben, damit überhaupt so etwas wie selbstbestimmte Entwicklung möglich ist?
  • Wie können Migrant_innen und Geflüchtete in Europa – oder die Diaspora-Communities insgesamt – alternative Entwicklungswege von unten in ihren Herkunftsländern politisch, finanziell und sozial unterstützen, auch im Rahmen zirkulärer Migration? Und wie können Menschen ohne Migrationsgeschichte dabei mitwirken?
  • In welche Richtung müssen sich die reichen Länder (einschließlich der transnationalen Verbraucherklassen in Nord und Süd) entwickeln, wenn es nicht endgültig zum ökologischen (Klima-)Kollaps kommen soll? Konkreter: Inwiefern müssen die Ökonomien der reichen Industrieländer schrumpfen bzw. durch andere Wirtschaftsweisen ersetzt werden, damit die Menschen in den seit Jahrhunderten arm gemachten Ländern des globalen Südens endlich Luft zum Atmen bzw. zur selbstbestimmten Entwicklung bekommen?

Schließlich: Unsere Konferenz steht unter dem Titel “selbstbestimmt und solidarisch”. Einerseits, um jener Haltung zu widersprechen, die Entwicklung lediglich als Kopie des westlich-kapitalistischen Modernisierungspfads zu begreifen vermag. Andererseits, um deutlich zu machen, dass globale Solidarität Voraussetzung für kollektiv verankerte und somit an den wirklichen Interessen der Menschen orientierte Entwicklungsprozesse ist – ganz im Sinne des aus Martinique stammenden Befreiungstheoretikers Frantz Fanon (1925-1961), der in seinem berühmten Werk “Die Verdammten dieser Erde” den Prozess der Dekolonisierung als Selbstermächtigung beschrieben hat: “Die Dekolonisation geschieht niemals unbemerkt, denn sie betrifft das Sein, sie modifiziert das Sein grundlegend, sie verwandelt die in Unwesentlichkeit abgesunkenen Zuschauer in privilegierte Akteure, die in gleichsam grandioser Gestalt vom Lichtkegel der Geschichte erfasst werden. Sie führt in das Sein einen eigenen, von den neuen Menschen mitgebrachten Rhythmus ein, eine neue Sprache, eine neue Menschlichkeit.”

Alternative Entwicklungskonzepte

Seit jeher gehört “Entwicklung” zu einem der schillerndsten, ja umstrittensten Begriffe in der politischen Nord-Süd-Debatte. Die einen halten ihn für unverzichtbar, andere lehnen ihn ab – wir verwenden ihn mit dem Zusatz “selbstbestimmt”. Bei der Konferenz werden deshalb unterschiedliche Entwicklungskonzepte eine wichtige Rolle spielen, auch unter Berücksichtigung einiger der hier skizzierten Positionen aus der jüngeren Geschichte:

In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg erlangten 50 ehemalige Kolonien ihre staatliche Unabhängigkeit, darunter Indien im Jahr 1947, Indonesien im Jahr 1949 und 17 afrikanische Länder im Jahr 1960. Die anfängliche Begeisterung war riesig, viele Länder wollten durch rasche Industrialisierung den technischen Vorsprung der Industrieländer wettmachen, der Optimismus schien keine Grenzen zu kennen. So sprach der erste Präsident des unabhängigen Ghana, Kwame Nkrumah, davon, “dass wir Afrikaner, mit unserer tief verwurzelten Weisheit und Würde, unserem angeborenen Respekt für das menschliche Leben, unserer ungewöhnlich ausgeprägten Menschlichkeit, die unser Erbe ist, unter einer föderalen Regierung vereint, nicht bloß einen weiteren Block hervorbringen werden, der seinen Reichtum und seine Stärke zur Schau trägt, sondern eine Großmacht, deren Größe unzerstörbar ist, da sie nicht auf Angst, Neid und Argwohn beruht oder auf Kosten anderer erreicht wurde, sondern auf Hoffnung, Vertrauen, Freundschaft gründet und das Gute der gesamten Menschheit zum Ziel hat.”

Gleichzeitig bildete sich schrittweise die vor allem in Lateinamerika verankerte Dependenztheorie heraus, die die gesellschaftliche Verfasstheit der armen Länder nicht auf interne Mängel an Bildung oder Demokratie zurückführte, sondern auf deren asymmetrische Einbindung in den Weltmarkt. Passend hierzu veröffentlichte der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano 1971 sein Werk “Die offenen Adern Lateinamerikas”, in dem er sich mit den Kolonialismen alter und neuer Prägung auseinandersetzt. Nur ein Jahr später folgte das ebenfalls richtungsweisende Werk “How Europe underdeveloped Africa” (dt: Afrika – die Geschichte einer Unterentwicklung) des Historikers und Panafrikanisten Walter Rodney (1942-1980) aus Guyana.

Moderate, seit den 1970er Jahren vor allem im entwicklungspolitischen Spektrum vertretene Ansätze zogen die knallharten Sachzwänge des kapitalistischen Weltmarktes zwar nicht in Zweifel, hielten aber an der herkömmlichen Entwicklungsidee fest: Stellvertretend zitiert sei der deutsche Geograph Theo Rauch, er definiert gesellschaftliche Entwicklung “als Prozess der Zunahme der gesellschaftlichen Fähigkeit zu kontextgerechten und selbstbestimmten Lösungen von Problemen bzw. zur vorausschauenden Vermeidung zukünftiger Probleme, wobei insbesondere die Befriedigung universell anerkannter (materieller und immaterieller) Grundbedürfnisse als Maßstab bei der Problemidentifikation zu berücksichtigen ist.”

Große Anerkennung fand des Weiteren der von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelte Befähigungsansatz (Capability Approach) – und zwar nicht nur bei internationalen Entwicklungsinstitutionen wie der Weltbank, sondern auch bei aktivistischen Basisinitiativen: Danach sollte Armut – in Abgrenzung zu Einkommensarmut – als Vorenthaltung grundlegender Fähigkeiten zur Existenzbewältigung bestimmt werden. Die Blockade dieser Fähigkeiten durch Krankheit, Mangelernährung, fehlenden Zugang zu Wissen etc. sei daher der eigentliche Kern des Armutsproblems.

Seit den 1980er Jahren traten zunehmend Post-Development-Akteure auf den Plan: Sie kritisierten, dass das koloniale Projekt der „Zivilisierung der Unzivilisierten“ in der Nachkriegszeit durch die technokratische „Entwicklung der Unterentwickelten“ abgelöst wurde. Andere Gesellschaftsentwürfe werden so nicht als gleichwertige Möglichkeiten der Organisierung menschlichen Zusammenlebens respektiert. Umso wichtiger sei es, Lebensqualität nicht mit der Summe gekaufter Waren in eins zu setzen, sondern sich an Werten wie Gastfreundschaft, Würde und Solidarität zu orientieren. Post-Development-Protagonist_innen haben große Gemeinsamkeiten mit dem Buen Vivir-Ansatz, der sich aus indigenen und feministischen Basisbewegungen entwickelt hat und nicht zuletzt den Schutz ökologischer Ressourcen in den Mittelpunkt stellt. Entsprechend spielen auch Konzepte wie Ernährungssouveränität oder Perspektiven der indischen Adivasi-Bewegungen eine wichtige Rolle.