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Januar 2014 | Bericht Choucha Delegation

Vom 18.-26.1.14 waren wir mit einer fünfköpfigen Delegation in Tunesien. Wir fuhren nach Tunis, in die drei Städte Ben Guerdane, Medenine und Zarzis im Süden Tunesiens sowie in das seit Juni 2013 offiziell geschlossene, aber immer noch existierenden Lager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze. Unsere Delegation bestand aus Vertreterinnen der Stiftung :do, des Netzwerks Afrique-Europe-Interact und des Flüchtlingsrats Hamburg aus Deutschland, einem Mitglied der Gruppe article 13 aus Tunesien und einem anerkannten sudanesischen Flüchtling aus Choucha, dem Sprecher der Gruppe, die seit März mit der Forderung nach Aufnahme in einem sicheren Land ein Sit-in vor dem UNHCR-Büro in Tunis durchführt.

Ziel unserer Delegation war es vor allem, uns über das „Lokale Integrationsprogramms“ zu informieren, das vom UNHCR in Kooperation mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen nach der Schließung von Choucha im Juni 2013 als Alternative zum Resettlement entwickelt wurde. Vorgeschichte und Motivation unserer Reise waren unsere bisher vergeblichen Bemühungen, weitere Aufnahmen von Flüchtlingen aus Choucha im Rahmen des von der Innenministerkonferenz im Dezember 2011 beschlossenen und im Dezember 2013 verlängerten und erweiterten deutschen Resettlement-Programms zu erreichen. Uns wurde aus Kreisen der Innenministerien als ein wesentliches Argument entgegengehalten, dass nach Aussage des UNHCR kein Bedarf für weitere Aufnahmen von Choucha-Flüchtlingen bestünde, da es für diese ein gut funktionierendes lokales Integrationsprogramm gebe (das im Übrigen mit 600.000 Euro aus Deutschland mitfinanziert wird) und dass die Sicherheitslage in Tunesien inzwischen auch für Flüchtlinge kein Problem mehr darstelle. Dem Realitätsgehalt dieser Argumente wollten wir auf unserer Reise nachgehen.

Unsere Informationen beruhen auf folgenden Treffen:

1. Gespräch eines Delegationsmitglieds mit Julia Gouyou Beauchamps, external relation officer im UNHCR-Büro in Tunis, am Montag, den 20.1.14
2. Delegationsgespräch mit zwei Freiwilligen des Roten Halbmonds (Red Crescent, RC) in Ben Guerdane, am 22.1.14
3. Delegationsgespräch mit drei MitarbeiterInnen des Islamic Relief (IR) in Ben Guerdane am 22.1.14
4. Delegationsgespräch mit Mongi Slim, (ehrenamtlicher) Präsident des Regionalkomitees des Roten Halbmonds in Medenine am 23.1.14
5. Gespräch eines Delegationsmitglieds mit Rosa Zorzo, Leiterin des UNHCR-Büros in Zarzis am 24.1.14
6. Mehreren Gesprächen mit Flüchtlingen aus Choucha: etwa 15 anerkannten Flüchtlingen vor dem UNHCR-Büro in Tunis am 19.1.14, etwa 20 „lokal integrierten“ Flüchtlingen in Ben Guerdane und in Medenine am 22. und 23.1.14 und ca. 30 abgelehnten und ca. 80 anerkannten Flüchtlingen im Camp am 24.1.14

Entstehungsgeschichte und Ziele des Programms:

Das Lokale Integrationsprogramm wurde als flankierende Maßnahme zur Schließung des Choucha-Camps für die Flüchtlinge konzipiert, für die kein Resettlement möglich scheint und die nicht über das IOM in ihre Herkunftsländer zurückkehren können und wollen. Es geht von den Annahmen aus, dass 1. die tunesische Regierung mit Hilfe des UNHCR eine der Genfer Flüchtlingskonvention gemäße Flüchtlingsgesetzgebung entwickeln und verabschieden wird, durch die die nach wie vor rechtlose Situation der Flüchtlinge beendet wird; 2. die Flüchtlinge im Süden Tunesiens eine Arbeit finden können, die ihnen ein Auskommen sichert und 3. dass durch Schulungen, Trainings und Sensibilisierung der Zivilgesellschaft eine akzeptierende oder gar positive gesellschaftliche Stimmung in Bezug auf Flüchtlinge hergestellt werden kann.

Die Strategie des UNHCR in Bezug auf Tunesien nach dem Krieg in Libyen ging davon aus, dass Tunesien im Prinzip kein besonders unsicheres Land für Flüchtlinge sei (Aussage Julia Beauchamps). Worauf diese Annahme basiert, ist für uns angesichts der bis heute nicht hinreichend aufgeklärten Situation für Transit-Migranten und Flüchtlinge unter Ben Ali nicht nachvollziehbar. Nachdem in den dramatischsten Zeiten des Krieges in Libyen bis zu einer halben Million Flüchtlinge nach Tunesien kamen, sollte unbedingt verhindert werden, dass Tunesien seine Grenze zu Libyen schließt. Die „Global Resettlement Solidarity Initiative“, auf deren Grundlage das Resettlement für Choucha-Flüchtlinge von Februar 2011 bis zur Schließung des Programms am 1.12.2011 umgesetzt wurde, ist laut Julia Beauchamps nicht zuletzt deswegen ins Leben gerufen worden. Die seit Ende des Krieges, der Resettlement Initiative und der Rückführung durch IOM noch in Tunesien verbleibenden Flüchtlinge „seien für das Land zu verkraften“ (manageable). Diese Überlegungen verwundern, da das UNHCR insgesamt zu Recht immer wieder kritisiert, dass die große Mehrheit der Flüchtlinge in Entwicklungsländern verbleibt, die mit der hohen Armut und Arbeitslosigkeit der eigenen Bevölkerung zu kämpfen haben1 und selber unter „hohem Migrationsdruck“ stehen – so auch Tunesien, aus dem als nach der Revolution die Grenzkontrollen außer Kraft gesetzt waren circa 40.000 junge Tunesier als Harragas („Grenzverbrenner“) das Land verlassen haben.

Dazu kommt, dass auch weiterhin Flüchtlinge in Tunesien „stranden“, die dort eigentlich nicht hin wollten. Seit Anfang 2012 sind nach Zahlen des UNHCR 700 Flüchtlinge von Fischern aus Zarzis oder von der tunesischen Küstenwache gerettet bzw. aufgebracht worden, die – sofern sie einen Flüchtlingsstatus vom UNHCR erhalten – auch in Tunesien bleiben „sollen“. Da diese „Neu-Ankömmlinge“ überwiegend aus Somalia und Eritrea kommen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie als Flüchtlinge anerkannt werden.

Die Strategie des UNHCR in Tunesien zielt also faktisch darauf ab, aus Tunesien ein angeblich sicheres Aufnahmeland für Flüchtlinge zu machen, die eigentlich auf dem Weg nach Europa sind. Damit wirkt das UNHCR an der europäischen Politik der Externalisierung des Flüchtlingsschutzes mit, was zum Teil im Widerspruch zu seinen eigenen humanitären Grundsätzen steht.

Zahlen

Nach den Informationen des UNHCR von Januar 2013 befinden sich 1.049 Flüchtlinge, die unter das Mandat des UNHCR fallen im Süden Tunesiens, davon circa 100 in Choucha, der Rest in den für die lokale Integration vorgesehenen Städten Ben Guerdane, Medenine und Zarzis. Allein 700 von ihnen sind seit 2012 neu angekommene Bootsflüchtlinge, die überwiegend in Medenine untergebracht wurden. Über die Zahl der abgelehnten Flüchtlinge scheint es keine aktuellen Informationen zu geben – während des Besuchs unserer Delegation in Choucha trafen wir auf eine Gruppe IOM-Mitarbeiter, die in Choucha herausfinden wollten, wie viele abgelehnte Flüchtlinge sich noch im Camp aufhalten, aber keine Antwort erhielt. Aufgrund alter Schätzungen geht das IOM aber von circa 260 abgelehnten Flüchtlingen aus. Das UNHCR und auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort versuchen bisher erfolglos, für diese völlig ohne Unterstützung dastehenden Flüchtlinge Angebote zu entwickeln, die von nicht staatlichen Geldgebern finanziert werden sollen. Außer einer ungenügenden Erste-Hilfe-Versorgung in Notfällen durch den Roten Halbmond, die „aus Generosität“ (Zitat Mongi Slim) von der tunesischen Regierung finanziert wird, sind diese Bemühungen bisher jedoch erfolglos geblieben.

Insgesamt (wenn wir nicht zwischen abgelehnten und anerkannten Flüchtlingen trennen) befinden sich demnach noch um die 600 ehemalige Choucha Camp „BewohnerInnen“ im Süden Tunesiens. Nach unserer Einschätzung dient das Camp in Choucha aber zumindest zeitweise immer noch deutlich mehr Menschen als den angegebenen 100 anerkannten Flüchtlingen und einer unbekannten, aber mindestens genauso hohen Zahl abgelehnter Flüchtlinge als Aufenthaltsort. Viele Flüchtlinge sind nach dem Versuch, sich in den umliegenden Städten zu integrieren aufgrund mangelnden Sicherheitsgefühls und der hohen Mieten nach Choucha zurück gekehrt. Sie pendeln zwischen Choucha und Ben Guerdane, um dort zu arbeiten. Ihr Einkommen ist für die in Choucha bleibenden Flüchtlinge die Haupteinnahme-Quelle. Bei unseren Gesprächen in Choucha hatten wir den Eindruck, dass besonders Frauen mit Kindern und ältere Menschen dauerhaft in Choucha leben. Beispielhaft für viele Frauen, die erst die lokale Integration akzeptiert hatten, dann aber aus Angst vor Übergriffen nach Choucha zurückgekehrt sind, ist die Geschichte von S.: Ihr Sohn wurde von Tunesiern verprügelt und nach seinem Kopf mit Stiefeln getreten. Seit her hat er psychische Probleme. Sie fühlt sich in Medenine nicht sicher und ist nach Choucha zurückgekehrt, da sie dort – trotz gekappter Wasser- und Stromversorgung und mehr als prekärer Ernährungslage -wenigstens den Schutz und die Solidarität ihrer Community erfährt und das Militär (dem allerdings auch mit Misstrauen begegnet wird) weiter präsent ist. Auch gibt es eine „Rückbewegung“ von Flüchtlingen, die die lokale Integration in Medenine angenommen hatten, in das Choucha näher gelegene Ben Guerdane. Dort wissen die Einwohner zumindest über Choucha Bescheid und begegnen den Flüchtlingen nicht ganz so misstrauisch und mit Unverständnis wie in Medenine. Kh., ein Flüchtling aus Somalia beschrieb die Situation in Medenine so: „In Medenine werden wir jeden Tag gefragt: Warum seid ihr hier, wo kommt ihr her und wer bezahlt euch. Sie wissen gar nichts über uns.“

Rechtliche Situation:

Der wichtigste Bestandteil der Lokalen Integration konnte nicht umgesetzt werden: Kein Flüchtling hat bisher von der tunesischen Regierung Aufenthaltspapiere und Arbeitserlaubnisse ausgestellt bekommen. Das UNHCR selbst sieht in der andauernden Rechtsunsicherheit das größte Problem und verweist seit Schließung des Choucha Camps immer wieder auf seine andauernden Bemühungen, die tunesische Regierung bei der Verabschiedung einer Flüchtlingsgesetzgebung zu beraten. Ursprünglich war aber vorgesehen, dass die Flüchtlinge schon vor einer langwierigen Gesetzesinitiative provisorische Aufenthaltspapiere ausgestellt bekommen sollten. Aufgrund der politischen Krise in Tunesien seit den Morden an zwei Oppositionspolitikern waren das Land und die Administration aber zeitweise regelrecht gelähmt, so dass es nie zur Ausstellung der versprochenen Aufenthaltspapiere gekommen ist. Es fanden allerdings kontinuierliche Gespräche auf interparlamentarischer Ebene zwischen UNHCR und den verschiedenen mit der Flüchtlingsgesetzgebung befassten Ministerien statt. In der neuen Verfassung, die am 27.1. 2014 verabschiedet wurde, wird das Recht auf politisches Asyl garantiert2. Aber ein rechtlicher Rahmen für eine Flüchtlingsgesetzgebung steht nach wie vor aus und es ist davon auszugehen, dass die neue Übergangsregierung vor den bis Ende 2014 angestrebten Wahlen keine langfristigen (Gesetzes)Initiativen auf den Weg bringen wird.

Finanzielle Unterstützung:

Nach Schließung des Camps Choucha erhielten die Flüchtlinge eine einmalige Auszahlung von 1.500 Dinar3 sowie Sachmittel wie z.B. Matratzen um einen eigenen Haushalt zu gründen. Weiterhin wird eine monatliche Unterstützung von erst 90 Dinar, als sich herausstellte, das diese Summe nicht ausreicht, 120 Dinar zum Lebensunterhalt gewährt. Der Beitrag zum Lebensunterhalt richtet sich nach der Zahl der Haushaltsmitglieder. Familien bekommen dementsprechend mehr. Das UNHCR half bei der Vermittlung von Wohnungen. Bei minderjährigen Flüchtlingen war vorgesehen, dass sie jeweils mit einem volljährigen Mitglied ihrer Community zusammen wohnen, was aber nicht immer der Fall ist. Unsere Interview-PartnerInnen beklagten viele Probleme in Bezug auf ihre Vermieter und die Höhe der Miete. So berichten sie von überzogenen Mietforderungen und willkürlichen Preisanhebungen sowie von Versuchen der Vermieter, ihnen zusätzliche Kosten in Rechnung zu stellen. Die Minderjährigen bekamen Probleme, ihre Miete zu zahlen, als zwei Jugendliche volljährig wurden und ausziehen mussten, da die Wohnung vom UNHCR nur für Minderjährige vorgesehen war. Die Wohnung wurde nicht mit neuen Minderjährigen belegt und ohne die Mietzahlungen der zwei reichte das Geld nicht. Die Elektrizitäts- und Wasserrechnungen wurden immer höher, so dass das monatliche Budget zur Zahlung nicht ausreichte und der Vermieter Strom und Wasser abstellte. Auch TunesierInnen leiden verstärkt unter enormen Preiserhöhungen für viele Artikel des täglichen Bedarfs. Insofern kann es sein, dass einige von den Vermietern an die Flüchtlinge weiter gegebenen Preissteigerungen zwar real, angesichts des sehr knapp kalkulierten Unterhalts für sie aber nicht zu bewältigen sind. Dazu kommt, dass Vermieter und Händler die rechtlose Situation der Flüchtlinge oft ausnutzen und unbegründet höhere Preise verlangen.

Bildung und Weiterbildung/Sensibilisierung der tunesischen Gesellschaft:

UNHCR hat die internationale Hilfsorganisation Islamic Relief mit der Durchführung von Bildungsmaßnahmen, Sprachkursen, Freizeitangeboten und Sensibilisierungsmaßnahmen für die tunesische Bevölkerung beauftragt. Die Kurse für LehrerInnen und Krankenhauspersonal scheinen aber einmalig gewesen zu sein und konnten so nicht zu einer nachhaltigen Bewusstseinsänderung beitragen. Für viele der Flüchtlinge, die nicht aus Arabisch- oder Französisch-sprachigen Ländern stammen stellt die Sprachbarriere ein großes Problem dar. So wurden für die Kinder Sprachkurse organisiert, damit sie am Unterricht an tunesischen Schulen teilnehmen können. 50 Kinder gehen auf tunesische Schulen. Aber eine Gruppe somalischer Jugendlicher, die wir trafen, sagten, dass sie wegen Sprachproblemen nicht zur Schule gehen würden. An den Schulen und im Alltag sind die Kinder mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert. So berichtet uns A., eine alleinstehende Frau aus dem Sudan mit vier Kindern, von einem Angriff auf ihren zehnjährigen Sohn: Zwei tunesische Teenager setzten ihm ein Messer an den Hals und wollten sein Fahrrad stehlen. Sie sagten ihm „Wenn wir dich töten, interessiert das hier keinen.“ Der Junge hat seither Schmerzen am Hals und Angst, das Haus zu verlassen. Ein anderer Flüchtlingsjunge geriet in Streit mit einem tunesischen Mitschüler und prügelte sich mit ihm. Daraufhin kam der Vater des tunesischen Jungen mit ihm in den Unterricht, zeigte auf Jungen und sagte zu seinem Sohn: „Schlag diesen Sklaven so wie er dich geschlagen hat.“ Die LehrerInnen griffen nicht ein.

Vor der Schließung von Choucha wurde eine Erhebung der Berufsprofile der Flüchtlinge erstellt und auf dieser Grundlage folgende Trainingskurse angeboten: Friseur, Automechaniker, Elektriker, Koch, Konditorei und Nähen. Von den anfänglich 100 Interessierten haben nur 47 einen derartigen Trainingskurs begonnen und laut Aussage UNHCR Tunis haben nur sehr wenige die Kurse tatsächlich beendet. In unseren Gesprächen nannten viele Flüchtlinge Sprachprobleme als Ursache für ihre mangelnde Teilnahme. Die geringen Teilnehmerzahlen deuten außerdem darauf hin, dass die Ausbildungskurse an den Interessen der Flüchtlinge vorbei geplant wurden, was uns auch von einigen Betroffenen, deren bisherige Berufe oder Fortbildungswünsche nicht berücksichtigt wurden, gesagt wurde. Viele Flüchtlinge wurden nach ihren Angaben auch gar nicht gefragt, ob sie Kurse machen wollen, sondern erhielten nur das Startgeld und unterschrieben, dass sie das Lager verlassen.

Mikroprojekte/Toolkits:

Ähnlich den in den Rückführungsprogrammen des IOM angebotenen kleinen Summen für „rückkehrwillige Flüchtlinge“ hat das UNHCR für die Flüchtlinge Mikroprojekte entwickelt, die als Startsumme für den Aufbau kleiner Geschäfte dienen sollen. Islamic Relief bot den Flüchtlingen Beratung und Projekt-Management Unterstützung und die Flüchtlinge konnten einen Geschäftsplan einreichen. Wenn der überzeugte, bekamen sie eine Unterstützung in Höhe von bis zu 5.000 TND.
Aber auch hier ist der fehlende Aufenthaltsstatus ein Problem: Um ein Geschäft eröffnen zu können, brauchen die Flüchtlinge einen tunesischen Partner, der offiziell der Inhaber des Geschäfts ist. Um die Flüchtlinge vor Missbrauch durch die rechtlich alleinigen Besitzer zu schützen, hat IR Verträge zwischen den Tunesiern und den Flüchtlingen geschlossen. Die Problematik dieser Art von Besitzverhältnissen brachte der Direktor von IR, der diese Mikroprojekte betreut, unfreiwillig selber auf den Punkt: „Wenn ein tunesischer Ladenbesitzer sein Geschäft vergrößern will, nimmt er das Geld von dem Flüchtling, nimmt ihn in sein Geschäft mit auf und voila“. Alle unsere Gesprächspartner von Flüchtlingsseite betonten: „weil wir keinen rechtlichen Status haben profitiert die tunesische Seite mehr von diesen Projekten, das Geschäft läuft immer auf den Namen des Tunesiers.“

Eine zweite einkommensschaffende Maßnahme“ (income generating) sind sogenannte „tool-kits“: Flüchtlinge erhalten Material in Höhe von 2.500 Dinar, um eine selbstständige Tätigkeit zu beginnen. Als Beispiele wurden Musikinstrumente (um damit auf Hochzeiten zu spielen), Werkzeug (das an Bauherren verliehen werden kann) oder Friseur Utensilien genannt. Insgesamt sollen weniger als 20 Flüchtlinge diese beiden Möglichkeiten genutzt haben. Erfolgreich scheint nur ein Musiker zu sein, der dann auch immer wieder als „success story“ erwähnt wurde. Das Restaurant Projekt eines Flüchtlings hingegen funktionierte nicht und musste nach weniger als einem Monat wieder geschlossen werden. Hier sind die Aussagen von S., dem Flüchtling aus dem Tschad, der das Restaurant eröffnen wollte, und dem UNHCR kontrovers. S. berichtet davon, dass viele Tunesier umsonst bei ihm essen wollten „da das Restaurant sowieso vom UNHCR bezahlt werde“, das UNHCR unterstellt S., dass er das Projekt absichtlich scheitern ließ, um zu beweisen, dass es nicht funktioniert und doch noch einen Resettlement-Platz zu bekommen. Typisch scheint uns das Misstrauen der UNHCR- und IR-Mitarbeiter zu sein, die die Schuld an dem Scheitern des Projekts ausschließlich bei S. sahen und vehement die Möglichkeit ausschlossen, dass Tunesier wie von S. behauptet in seinem Restaurant gegessen haben, ohne zu bezahlen. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass es zu Missbrauch der ausgezahlten Mikroprojekt-Gelder gekommen ist.

Für die Flüchtlinge ist es ein Problem, dass viele von ihnen vorher in Libyen gearbeitet haben und dort für die gleiche Arbeit deutlich besser bezahlt wurden, als dies in Tunesien möglich ist. Daher haben einige versucht, wieder nach Libyen zu gehen, um dort Arbeit zu finden. Die Sicherheits-Lage in Libyen ist aber durch die vielen Milizen und die wieder zunehmenden Kämpfe extrem angespannt. Milizen und staatliche Stellen kontrollieren Flüchtlinge, stecken sie wochen- und monatelang in Gefängnisse oder Detention Center oder verlangen Bestechungs-Gelder, damit sie dies nicht tun. H., Flüchtling aus dem Sudan, verbrachte 35 Tage in einem libyschen Gefängnis. Er rief das UNHCR zur Hilfe, das aber nichts für ihn tun konnte und kam erst frei, als er nach einem Arbeitseinsatz außerhalb des Gefängnisses flüchten konnte. Besonders für Flüchtlinge, die kein Arabisch sprechen und nicht länger in Libyen gelebt haben, ist es extrem gefährlich, dort hin zu gehen (siehe z.B. die Reportage http://www.arte.tv/guide/fr/030273-454/arte-reportage?autoplay=1).

Die meisten der Flüchtlinge mit denen wir sprachen arbeiten im informellen Sektor (Bau, Landwirtschaft). Es gibt einen „Tagelöhner-Strich“ in Ben Guerdane, auf dem die Flüchtlinge – oft vergeblich – ewig warten bis sie für kleinere Tätigkeiten abgeholt werden. Sie verdienen dort meist nur 7 Dinar am Tag und es kommt öfter vor, dass sie um ihren Lohn geprellt werden. H., Flüchtling aus dem Sudan, berichtet, „wenn wir dann zur Polizei gehen, um unseren Lohn einzufordern sagen sie uns, wir seien Terroristen und hätten kein Recht, hier zu sein.“ Obwohl es sich um Tätigkeiten handelt, die viele Tunesier trotz der hohen Arbeitslosigkeit nicht ausüben wollen, berichten viele Flüchtlinge von „Neid“ und von Angriffen auf den „Tage-Löhner-Strich“ so dass sie nun an einem versteckteren Platz warten müssen. IR berichtete uns, dass sie circa 50 Anfragen von tunesischen Arbeitgebern hätten, die gerne die als „gute Arbeiter“ bekannten Flüchtlinge beschäftigen würden. Aber als sie erfuhren, dass die Flüchtlinge keine Aufenthaltspapiere besitzen, haben sie ihre Angebote zurück gezogen.

Gesundheitsversorgung:

Nach der Schließung des Camps hat das UNHCR ein Abkommen mit den drei Krankenhäusern der Region verhandelt: Die Krankenhäuser bekamen Material und Medikamente und behandeln dafür die Choucha Flüchtlinge gratis. Das bedeutet aber auch, dass die Flüchtlinge nur im Süden Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. Insgesamt ist das Programm für eine lokale Integration darauf zugeschnitten, dass die Flüchtlinge im Süden Tunesiens bleiben. Auch das ist eine fragwürdige Ausrichtung des Programms, denn so werden die Choucha Flüchtlinge auch in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit zu ungleichberechtigten BürgerInnen gemacht werden, die sich nicht im gesamten Staatsgebiet nieder lassen können.

Weiterhin ist eine Ärztin, die vorher im Choucha-Camp arbeitete, in Ben Guerdane speziell für die Flüchtlinge zuständig. Der Rote Halbmond vermittelt zwischen den Flüchtlingen und dem öffentlichen Gesundheitssystem Tunesiens. Für Spezial-Behandlungen werden Termine in Universitätskrankenhäusern organisiert und die Rechnungen reicht der Rote Halbmond an das UNHCR weiter. Ansonsten ist der Rote Halbmond für erste Hilfe in Notfällen zuständig und kümmert sich aufgrund seines humanitären Mandats auch um abgelehnt Flüchtlinge. Auch fährt eine Mitarbeiterin circa einmal wöchentlich nach Choucha, um Notfälle dort zu behandeln. Problematisch ist, dass es seit der Schließung des Camps dort keinen Krankentransport mehr gibt, was auch und gerade für Schwangere ein großes Risiko darstellt.

Die Arbeit des Roten Halbmonds wird überwiegend von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen durchgeführt. Die Versorgung von insgesamt um die 1000 Flüchtlingen in der Region, die durch ihre prekäre Situation und Verwundungen noch aus dem Libyen-Krieg besonders bedürftig sind, stellt auch angesichts des geringen Personals eine Überforderung dar, die sich auch im Umgang mit den Flüchtlingen zeigt. Viele Flüchtlinge berichteten uns von unfreundlichem bis feindlichen Umgang sowohl von MitarbeiterInnenn des Roten Halbmonds als auch in den Krankenhäusern. Zusätzliche Konflikte entstehen durch „interkulturelle“ Missverständnisse: Die Flüchtlinge kennen sich mit den Procederes des tunesischen Gesundheitssystems nicht aus und ihre Bedürfnisse und Forderungen werden von den Tunesiern als „überzogen“, „undankbar“ und „unangemessen“ erlebt.

Die Flüchtlinge sind sehr unzufrieden mit der medizinischen Versorgung. Sie berichten von falschen Medikationen – so wurde im Falle von chronischen Magenschmerzen über ein Jahr lang nur ein Schmerzmittel verschrieben – bis hin zu krasser Fehlbehandlung, die bei einem Flüchtling zur Amputation seines Beines führte.

Viele der Probleme der Flüchtlinge sind durch den schlechten Zustand der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Tunesien zu erklären. Oft sind die benötigten Medikamente nicht in ausreichendem Maße vorhanden und die Ärzte verschreiben das, was vorrätig ist. Anders als TunesierInnen, die sich im Falle von Fehlbehandlung oder von Vernachlässigung wehren können, sehen sich die Flüchtlinge nicht dazu in der Lage, sich für eine angemessene Behandlung einzusetzen, ohne dass dies zu Konflikten führt. In den ländlichen Gebieten herrscht ein Mangel an Ärzten, so dass die tunesische Regierung ein Gesetz plante, um junge MedizinerInnen nach Abschluss des Studiums drei Jahre zur Arbeit in unterbesetzen Regionen zwangszuverpflichten. Nach einem Streik der Medizinstudenten wurde dieses Gesetzesvorhaben zwar fallen gelassen. Aber es gibt eine Unterversorgung sowie einen großen Wechsel an medizinischem Personal im Süden Tunesiens. Die von IR für das Krankenhauspersonal durchgeführten Schulungen im Umgang mit Flüchtlingen müssten daher regelmäßig wiederholt werden um einen Effekt zu erzielen.

Rassismus/“Jalousie“/religiöse Diskriminierung:

Ein Ergebnis unserer Reise ist, dass rassistische Angriffe ein noch größeres Problem darstellen, als wir vorher aufgrund der Berichte „aus der Ferne“ angenommen hatten. Während unseres viertägigen Aufenthalts im Süden Tunesiens verging kein Tag, an dem uns Flüchtlinge nicht von körperlichen Übergriffen berichteten, die entweder während unseres Aufenthalts oder direkt davor stattgefunden haben. Die Angriffe werden sowohl gegen Erwachsene als auch gegen Kinder verübt; von Einzelnen aber auch – was noch bedrohlicher einzuschätzen ist – von größeren Gruppen (siehe das Beispiel aus Medenine im Anhang). Viele Flüchtlinge sind auch immer noch extrem verunsichert durch den Angriff auf Choucha im Mai 2011, bei dem mehrere Flüchtlinge (die genaue Zahl ist umstritten) umgekommen sind und bei dem das Militär sie nicht schützte sondern im Gegenteil auf Seiten der Einheimischen agierte und Flüchtlinge durch Schüsse verletzte (siehe Aufnahmen in dem Video auf http://www.afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=462&clang=0). Übereinstimmend war auch die Einschätzung der Flüchtlinge, dass die Polizei so gut wie immer Partei für die tunesische Seite ergreift und sie nicht schützen kann und will. Der Eindruck, sowohl bei körperlichen Übergriffen als auch bei Lohnprellungen oder verbalen Beleidigungen so gut wie keinen Schutz zu erhalten sondern im Gegenteil auch noch beschimpft zu werden und keine Glaubwürdigkeit zu genießen, wurde von allen Flüchtlingen vermittelt und vehement beklagt.

Neben offen rassistischen Angriffen und verbalen Attacken berichteten die Flüchtlinge von vielen Situationen, die sie selber mit dem Wort „Jalousie“ (hier am besten zu übersetzen mit Neid) erklärten. Als Beispiele wurden die Konkurrenz um Arbeitsplätze, das Verbot, mit tunesischen Frauen und Mädchen zu reden und Fragen, wer sie bezahle und wieso sie überhaupt hier seien, genannt.

Christliche Flüchtlinge berichten darüber hinaus von religiöser Diskriminierung, da im Süden Tunesiens salafistische Gruppen recht stark sind. Andererseits berichtete ein somalischer Flüchtling von einer Polizeirazzia gegen ihn und seine Familie aufgrund des angeblichen Verdachts der Zugehörigkeit zu einer islamistischen Gruppe, wofür keinerlei Beweise gefunden wurden – aber er war stundenlang in Haft, seine Wohnung wurde durchsucht und Sachen mitgenommen oder zerstört, ohne dass es eine Kompensation gab.

Viele der Frauen und Alten ziehen es daher vor – zum Teil auch nachdem sie erst in den drei Städten versucht haben, in den vom UNHCR vermittelten Wohnungen zu leben – in Choucha zu bleiben bzw. dort hin zurück zu kehren. Auch wenn der Alltag dort prekärer und die Bedingungen härter sind, fühlen sie sich dort sicherer und brauchen keine Miete zu zahlen.

In vielen Berichten sowohl der Flüchtlinge als auch der vor Ort tätigen Hilfsorganisationen ging es darum, dass sich die Flüchtlinge „diplomatisch“ verhalten sollten. Bei Konflikten wurde ihnen immer geraten, „den Ball flach zu halten“ um die Mehrheitsgesellschaft nicht zu verärgern. Zitate „we are always told to step down.“

Von mehreren Flüchtlingen wurde uns gesagt „Wir leben in einem großen Gefängnis“. Wegen fehlender Rechte, Sprachkenntnisse und Unterstützung können sie sich kaum gegen Angriffe auf ihre körperliche Integrität wehren und fühlen sich auch durch verbale Diskriminierungen ständig beleidigt und erniedrigt.

Perspektiven:

Im Sommer 2014 werden sich die Bedingungen für die Choucha Flüchtlinge noch einmal verschlechtern. Eigentlich sollte das Programm für die lokale Integration schon Ende 2013, also ein halbes Jahr nach Schließung des Camps, beendet werden. Die Budget-Verhandlungen für die Arbeit des UNHCR Tunesien sind noch nicht abgeschlossen aber es ist klar, dass das Budget deutlich geringer sein wird, als die letzten Jahre. Da sich die gewünschten Erfolge aber nicht einstellten und viele Flüchtlinge weiterhin von dem Einsatz des UNHCR abhängen, laufen viele Dienstleistungen bisher weiter. Das Büro in Zarzis, das eigentlich Ende des Jahres schließen sollte, wurde von 12 Mitarbeiter-innen auf 5 verkleinert und soll nun noch bis Sommer 2014 geöffnet bleiben.

Die Leistungen für Flüchtlinge sollen aber „harmonisiert“ werden, so dass für alle Flüchtlinge die gleichen Bedingungen gelten – das bezieht sich auf die neu ankommenden Bootsflüchtlinge, die in zunehmender Zahl nach Tunesien kommenden Syrien Flüchtlinge und Menschen aus der Elfenbeinküste, die zur Zeit vermehrt in Tunis ankommen. Für die Choucha-Flüchtlinge bedeutet dies allerdings eine Verschlechterung. Ab Sommer 2014 sollen nur noch die „most vulnerable“ Unterstützung zum Lebensunterhalt bekommen (Frauen mit Kindern, Alte, Kranke). Rosa Zorzo, UNHCR Zarzis schätzt, dass dies ungefähr 120 Menschen sein werden. Die anderen sollen sich über Arbeit finanzieren. Auch die Gesundheitsversorgung wird schlechter: Ab Sommer müssen Flüchtlinge, wie Tunesier auch, die Kosten für Behandlungen vorstrecken und bekommen sie anschließend vom UNHCR erstattet.

Unserem Eindruck nach suchen Islamic Relief und Roter Halbmond nach Geldgebern, um ihre bisher vom UNHCR bezahlten Maßnahmen weiter durchführen zu können. Die Weiterführung begleitenden Maßnahmen für Flüchtlinge wie Veranstaltungen zusammen mit der lokalen Bevölkerung, Freizeitangebote für die Kinder etc. sind also bisher nicht gesichert.

Die abgelehnten Flüchtlinge sind auch jetzt schon von Festnahmen und Abschiebungen bedroht. Eine Gruppe von ihnen, die Anfang Februar ein einwöchiges Sit-in vor der EU- Delegation in Tunis durchführte, wurde von der Polizei festgenommen und in ein Abschiebegefängnis gebracht.

Auf dem Gelände des Choucha-Camps soll eine „Free Trade Zone“ (libysch-tunesisches Kooperationsprojekt) errichtet werden und spätestens wenn das konkret wird, wird das Lager geräumt.

Eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer ist für die große Mehrheit der Flüchtlinge nicht ohne Lebensgefahr möglich, schon allein wegen der Registrierung als Asylsuchende (also RegierungskritikerInnen), die an Botschaften „ihrer“ Länder (die einige von ihnen im Übrigen nie oder nur als kleines Kind gesehen haben) weitergegeben wird, so dass ihnen eine Festnahme schon bei Einreise drohen kann.

Es ist deshalb zu befürchten und wurde von vielen Flüchtlingen konkret geäußert, dass sie spätestens im Sommer bzw. vor einer drohenden Camp-Räumung versuchen werden, nach Libyen zu gehen (was angesichts der dort wieder eskalierenden bewaffneten Konflikte und der drohenden Festnahmen ein hohes Risiko ist) und von dort auf Booten nach Europa zu gelangen. Sie sind bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, da sie aufgrund der geschilderten Bedingungen in Tunesien keine Lebensperspektive für sich sehen.