Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

Boats4People-Bericht von der Station in Tunis: 8. bis 10. Juli 2012

Sonntag, 8. Juli: Rückschiebung verhindert und Koordinationstreffen

  • Der Tag begann morgens mit einer schlechten Nachricht: Unserem jungen senegalesischen Freund, der sich schon an der Westafrika-Karawane 2011 beteiligt hatte, wurde bei Ankunft aus Dakar von der Grenzpolizei am Flughafen in Tunis die Einreise verweigert. Er fiel unter den Generalverdacht gegenüber vielen subsaharischen Reisenden, sich angeblich nur zur Durch- bzw. Weiterreise nach Europa in Tunesien aufhalten zu wollen. Weder der Nachweis einer Hotelbuchung noch der wiederholte Hinweis auf seine Beteiligung am Treffen des Weltsozialforum konnte die Behörden zunächst umstimmen: unser Mitstreiter sollte am gleichen Abend wieder zurückgeschoben werden. Er saß sogar schon im Flugzeug nach Dakar, als durch die Präsenz und den Protest von einer Gruppe von B4P-AktivstInnen im Flughafen sowie schließlich mittels einer von einem Gewerkschafter offiziell überbrachten Einladung nach Monastir der senegalesische Freund in letzter Minute – und ohne Gepäck – doch noch einreisen konnte und seitdem Teil der transnationalen Reisegruppe ist.
  • Diese Gruppe war in Tunis nun auf ca. 50 Personen angewachsen und der Sonntag diente vor allem der Koordination und Vorbereitung der nächsten beiden Tage. Nach internen und informellen Treffen gab es abends eine gemeinsame Versammlung mit unseren tunesischen FreundInnen vom Psycho-Club. Dies ist eine Gruppe von vor allem Psychologie-StudentInnen, die sich am Boats4People-Projekt beteiligen und die u.a. selbst mehrfach in die Camps nach Choucha gereist waren, um die dortigen Flüchtlinge und MigrantInnen zu unterstützen. Pscho-Club hatte auch Räume und Workshops für eine kleine Konferenz am nächsten Tag vorbereitet.
  • Zudem beteiligten sich am Sonntag einige Frauen der B4P-Gruppe an einem Treffen einer italienischen Frauengruppe und tunesischen Müttern bzw. Angehörigen von Verschwundenen, die u.a. zusammen eine Protestwoche in Tunis vorbereiteten.

Montag, 9. Juli: Protest der Mütter und Konferenz

  • Um 10 Uhr war vor dem Ministerium für Soziales eine Kundgebung der Mütter von Verschwundenen angekündigt, und ein Teil der B4P-Gruppe beteiligte und unterstützte diesen Protest mit Transparenten und dem Verteilen unserer dazu passenden B4P-Flyer und Postkarten.
  • Leider hatten wir und auch der Psycho-Club zu kurzfristig von dieser Aktion erfahren, und für 10 Uhr (bis 14 Uhr) waren gleichzeitig die Räume für die Konferenz gebucht und diese auch öffentlich angekündigt. Insofern begann diese zur gleichen Zeit mit Workshops und Beiträgen über die EU-Migrationspolitik, deren Auswirkungen auf Länder wie Tunesien sowie zur Situation in den Lagern von Choucha. In einem zweiten Teil dieser Konferenz kamen dann bis zu 80 Leute – darunter rund 20 tunesische Interessierte – zu einer Versammlung zusammen, in der über Kämpfe und Widerstand gegen das Grenzregime berichtet und diskutiert wurde. Neben der Vorstellung von lokalen Protesten und von einigen transnationalen Projekten und Kampagnen ging es auch um das Verständnis von Kämpfen. Ist allein der Umstand, ein Harraga zu sein und damit ganz praktisch das Grenzregime zu unterwandern, nicht auch Kampf? Auch wenn sich diese soziale Bewegung nicht unmittelbar politisch artikuliert. Oder ist es weniger ein Kampf sondern eher Verzweiflung, sich „ins Meer zu stürzen“ und dabei womöglich zu sterben? Schließlich wurde die Frage einer gemeinsamen Kampagne zur Abschaffung der Visumspflicht im mediterranen Raum aufgeworfen sowie aus unterschiedlichen Positionen die von der tunesischen Regierung aktuell beabsichtigte Grenz“öffnung“ (Erleichterung der Reisefreiheit und kommunales Wahlrecht) innerhalb des Maghreb kommentiert. Beides konnte aus Zeitmangel zum Ende der Konferenz leider nicht weitergehend diskutiert werden.

Dienstag, 10. Juli: vertiefende Debatte und Premiere des Theaterstückes

  • Am frühen Morgen reiste eine Delegation aus unserer B4P-Reisegruppe – mit 10 Aktiven aus 9 verschiedenen Ländern! – nach Choucha. Sie wollen dort die Anreise und Teilnahme von Flüchtlingen und MigrantInnen aus den Lagern beim Treffen des Weltsozialforums in Monastir koordinieren.
  • Die beiden Fragen am Ende der Konferenz vom Vortag, also zu einer möglichen Kampagne gegen das Visumsregime sowie die Positionen zur Grenzöffnung im Maghreb, wurden am Vormittag in einem kleineren Treffen nochmals aufgegriffen und vertieft. Das war damit verbunden, dass in erster Linie die FreundInnen des Psycho-Club Gelegenheit bekommen sollten, ihre Einschätzungen und Positionen etwas ausführlicher darzustellen als es am Vortag möglich war.
  • Bezüglich der Grenzöffnung im Maghreb und der ablehnenden Stimmung wurde erläutert, dass viele Menschen in Tunesien der Regierung grundsätzlich misstrauen würden, dass manche die einseitigen Öffnungen in Tunesien (ohne gleichzeitige Erleichterungen in den andere Maghrebländern) falsch finden, dass es protektionistische Gegenargumentationen gebe (zu wenig Arbeitsplätze für TunesierInnen und dann noch mehr Konkurrenz) bis hin zur Befürchtung, dass der fundamental-islamische Einfluss (z.B. aus Algerien) damit zunehmen könnte. Es würden Informationen und auch eine ausgewogene öffentliche Diskussion fehlen, um diesen eigentlich sinnvollen Schritt zu einer Maghreb-Union zu vermitteln …
  • Zur Frage einer Kampagne gegen die Visumspflicht wurde angemerkt, dass Migration und die Forderung nach Bewegungsfreiheit in der tunesischen Gesellschaft ein breites und wichtiges Thema sei. StudentInnen seien zudem mit für die meisten unbezahlbaren Gebühren auf Universitäten in Europa konfrontiert, sogar Geschäftsleute würden den rassistischen Ausschluss durch die Visumspolitik immer wieder bei Kontrollen und willkürlichen Rückweisungen erleben. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass auch ohne Visapflicht viele TunesierInnen nicht reisen könnten, weil sie nur über ein ganz prekäres Einkommen verfügen und schlicht das Geld nicht hätten. Es gab Einigkeit, dass die Öffnung der Grenzen nach Europa natürlich nicht alle Probleme lösen würde und dass eine Kampagne gegen das Visumsregime die Prekarisierung und den sozialen Ausschluss großer Teile der Bevölkerung mit thematisieren müsse. Dass wir solch eine Kampagne als Teil einer grundlegenden Transformation der Gesellschaften verstehen…
  • Zudem müssten einige Fallstricke beachtet werden: Die EU bietet durchaus Visa-Erleichterungen an, aber damit verbunden sind verschiedene Bedingungen. Geschäftsleute und StudentInnen sollen im Rahmen sogenannter Mobilitätspartnerschaften einfacher Zugang bekommen, in Europa benötigte Arbeitskräfte können temporär einreisen. Und solche Erleichterungen werden zudem noch an die Bedingung geknüpft, dass die tunesische Regierung die Migrationskontrolle gegenüber dem subsaharischen Afrika verschärft. Insofern besteht die Gefahr, dass Visa-Erleichterungen mit neuen Spaltungen erkauft werden und wir müssen in einer möglichen Kampagne deutlich machen, dass wir eine bedingungslose Abschaffung des Visumregimes fordern und diese für uns im Rahmen des Kampfes um globale Bewegungsfreiheit steht.
  • Praktisch stellt sich die Frage, wie eine Sensibilisierungskampagne aussehen könnte, und dass dafür neue kreative Aktionsformen zu entwickeln wären. Denn Demonstrationen und Streiks gebe es jeden Tag, oft mit brutalen Konfrontationen mit der Polizei verbunden, was vielen Menschen Angst mache. Wie ließe sich in Stadtteilen eine solche Kampagne bekanntmachen und mobilisieren? Wäre eine Infotour oder Karawane durch verschieden Städte eine Möglichkeit? Mit diesen Fragen ging diese spannende und vertiefende Diskussionsrunde zunächst zu Ende, und Vorschlag war, in Monastir in den kommenden Tagen zu versuchen, daran anzuknüpfen.
  • Am Abend des Dienstags hatte schließlich in einer Bar auf der Dachetage in der Nähe der Kasbah (und damit mit tollem Blick auf die Altstadt von Tunis) das von einigen B4P-AktivistInnen aus Berlin vorbereitete Theaterstück Premiere. Mit einfachen Mitteln – und damit quasi überall aufführbar – wird die Geschichte von zwei Harragas vor dem Hintergrund der tunesischen Revolution nachgespielt. Eine tolle Uraufführung mit einer beeindruckenden Darstellung unseres tunesischen Mitstreiters, die hoffentlich in Monastir und darüberhinaus zu Folgevorstellungen führen wird…

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