Soziales Desaster
Globales Agrarsystem zwischen kleinbäuerlicher Landwirtschaft und Agrobusiness
Olaf Bernau
Als zu Beginn des Jahres die weltweiten Lebensmittelpreise explodierten und in etlichen Ländern des globalen Südens Hungerrevolten ausbrachen, reagierte nicht nur die europäische Öffentlichkeit perplex. Ausschlaggebend dürfte zum einen das von der Weltbank kolportierte Schreckensszenario gewesen sein, wonach in mindestens 30 Ländern Hungersnöte drohten, unter ihnen vermeintliche Brutstätten des Terrorismus wie Ägypten oder Pakistan. Zum anderen die Erkenntnis, dass die aktuelle Lebensmittelkrise auf grundsätzliche Schieflagen verweist, unter anderem solche, welche eng mit der Klimaproblematik verzahnt sind. Entsprechend fand der rasant zunehmende Anbau von Agrartreibstoffen in der medialen Berichterstattung genauso Beachtung wie der weltweit in die Höhe schnellende Futtermittelbedarf (Stichwort: Fleischkonsum) oder der Umstand, dass sich in den allermeisten Ländern des Südens die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten im Zuge neoliberaler Freihandelsabkommen enorm verschärft hat. Kurzum: Mit bemerkenswerter Klarsicht wurde selbst in bürgerlich-liberalen Zeitungen der Sachverhalt in Erinnerung gerufen, dass dem globalen bzw. kapitalistischen Agrarsystem ein ungeheueres Destruktionspotential innewohnt. Die apokalyptisch anmutende Zahl von jährlich 10-30 Millionen Hungertoten – davon 80 Prozent Kleinbauern und -bäuerinnen, Landlose und FischerInnen – ist in diesem Sinne vor allem als Fanal zu begreifen.
Nicht nur die allgemeine Öffentlichkeit, auch die zivilgesellschaftliche und bewegungsorientierte Linke hat das globale Agrarsystem in jüngerer Zeit wieder verstärkt in den Blick genommen. Sichtbaren Ausdruck hat das insbesondere im Widerstand gegen Gentechnologie und bei den letztjährigen G8-Protesten in Heiligendamm gefunden, wo der Themenkomplex „Globale Landwirtschaft“ einer von drei thematischen Aktionstagen war – im Übrigen unter Beteiligung von „Via Campesina“, einem weltweiten Zusammenschluss von Kleinbauern und -bäuerinnen, Landlosen und LandarbeiterInnen mit ca. 200 Mio Mitgliederni. Einziges Manko: In analytischer Hinsicht neigt der landwirtschaftskritische Diskurs buchstäblich zur Faktenhuberei – und das nicht nur auf NGO-Seite. Im Mittelpunkt stehen gemeinhin detaillierte Informationen über Handelsabkommen, Wertschöpfungsketten oder Konzerne. Demgegenüber fällt die Darstellung gesamtgesellschaftlicher Verwerfungen bzw. Transformationsprozesse eher nebulös, bisweilen schablonenhaft aus. Es liegt deshalb nahe, die Auseinandersetzung mit jenen Mängelnii zum Ausgangspunkt einer Analyse des globalen Agrarsystems zu machen und erst in einem zweiten Schritt die unmittelbaren Akteure, Konfliktfelder und Abläufe genauer zu betrachten.
Globale Klassenverhältnisse oder Nord-Süd-Konflikt?
Immer wieder heißt es, dass der eigentliche Interessengegensatz innerhalb des globalen Agrarsystems nicht zwischen Süden und Norden, sondern zwischen kleinbäuerlicher und agrarindustrieller Landwirtschaft verlaufe. Sicherlich, es ist absolut richtig (wie noch deutlich werden dürfte), die Klassenfrage im globalen Maßstab aufzuwerfen, also die verhängnisvolle Rolle zu beleuchten, welche z.B. Saatgutkonzerne in Indien oder Latifundienbesitzer in Brasilien spielen. Und doch: Die Argumentation blendet aus, dass die Zerschlagung kleinbäuerlicher Existenzgrundlagen integraler Bestandteil jenes Prozesses ist, mit dem die reichen Industrieländer seit Anfang der 1980er Jahre die Länder des Südens gezielt – wenn auch mit unterschiedlicher Ausrichtung – auf ihren peripheren Status festgelegt haben (Czada et.al. 1988, Engberg-Pedersen et.al. 1996, Harvey 2005, Hofbauer 2007, Klein 2007, Saprin-Report 2004 Stieglitz 2004). Aufhänger war seinerzeit die massive Verschuldungsspirale lateinamerikanischer, afrikanischer, asiatischer und osteuropäischer Länder. Statt die postkoloniale Programmatik der importsubstituierenden Industrialisierung fortsetzen zu können, wurden die betroffenen Länder im Rahmen der IWF-Strukturanpassungsprogramme vielmehr zur Umsetzung der neoliberalen Trias von Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung gezwungen (wozu, um nur einige Beispiele zu nennen, Marktöffnungen genauso wie der Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor oder massive Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen gehörten). Konsequenz war einerseits, dass bis heute große Teile des weltweiten Wertschöpfungsprozesses im Norden angesiedelt sind. Im Falle der Landwirtschaft betrifft das die Herstellung landwirtschaftlicher Maschinen und Inputs (Saatgut, Dünger etc.), die Verarbeitung agrarischer Rohstoffe (Kaffeeröstung, Bananenreifung etc.), den Großhandel (Transport, Verpackung etc.) und die Produktion von Lebensmitteln. Andererseits wurden die Länder des globalen Südens auf diese Weise – gleichsam als Quintessenz ihrer Peripherisierung – erstens zu billigen Rohstofflieferanten, zweitens zu verlängerten Werkbänken für arbeitsintensive Produktionsschritte, drittens zu vergleichsweise konkurrenzarmen Absatzmärkten von Industrieprodukten und viertens zu riesigen Investitionszonen für überschüssiges Kapital degradiert. Zusammen hat all dies dafür gesorgt (im Verein mit weiteren Ausplünderungsmechanismen wie fortdauerndem Schuldendienst oder Steuerfreiheit für transnationale Konzerne), dass sich die weltweite Einkommensschere in den letzten 25 Jahren vergrößert und nicht etwa verkleinert hat. Mit anderen Worten: Wird die Kahlschlagspolitik auf dem Lande in den Kontext der Peripherie-Zentrumsbeziehungen gestellt, scheint es sehr wohl angebracht, von einem Nord-Süd-Konflikt zu sprechen (welcher selbst wiederum in die globalen Klassenverhältnisse eingebettet ist).
Im Spannungsfeld zwischen Semiproletarisierung und Urbanisierung
Die These, wonach sich in der Hauptsache kleinbäuerliche und agrarindustrielle Landwirtschaft gegenüberstünden, ist aber auch deshalb fragwürdig, weil sie ein kleinbäuerliches Kollektivsubjekt konstruiert, welches in dieser Form überhaupt nicht existiert (vgl. Bryceson u.a. 2000, Moyo/Yeros 2005, Wienold 2007, Tacoli 2006). Dreierlei sollte näher in Erwägung gezogen werden:
a) Zunächst wird auf diese Weise der strukturelle Unterschied zwischen prekarisierter und kommerzieller Landwirtschaft vernebelt – ganz gleich, wie fließend die Übergänge sein mögen: Sowohl im Süden als auch im Norden existieren jenseits agrarindustrieller Großunternehmen kleinbäuerliche Betriebe, die zwar oft am ökonomischen Limit operieren (und zudem auf Subventionen angewiesen sind), deren betriebswirtschaftliche Basis allerdings die Kapitalisierung von Boden, Maschinen, Inputs etc. ist. Das heißt: Ihr Ertrag ist so hoch, dass zumindest die laufenden Kosten – nebst Schulden und Zinsen – beglichen werden können und somit ein langfristiger Akkumulationsprozess möglich ist. Umgekehrt ist hierzu die große Mehrheit der kleinbäuerlichen ProduzentInnen im globalen Süden explizit nicht in der Lage. Ihre Situation ist derart prekär, dass sie einzig der Logik des Überlebens verpflichtet sind. In Brasilien erzielen zum Beispiel 66 Prozent der kleinbäuerlichen Haushalte noch nicht einmal das Auskommen eines Tagelöhners. Sie sind also – bei aller Selbstständigkeit – bäuerlich „verkleidete Arbeiter“ (Hanns Wienold 2007), die bestenfalls von der Hand in den Mund leben, gegängelt von Kreditgebern, Subkontraktoren, industriellen Agenten und Vermarktern. Der Umstand, dass sich in Indien seit 1998 über 150.000 Bauern umgebracht haben – schlicht deshalb, weil sie keinen Weg mehr aus der Verschuldungsfalle gesehen haben, dürfte in dieser Hinsicht die zweifelsohne dramatischste Konsequenz sein, und ein Menetekel zugleich.
b) Es ist völlig unstrittig, dass Kleinbauern und bäuerinnen – ganz gleich welcher Kategorie – nicht nur in der Peripherie, sondern auch in den Zentren unter massivem Druck stehen. Zwei Beispiele: Allein zwischen 1995 und 2000 mussten in den USA 90.000 Farmen mit einer Größe unter 810 Ha dichtmachen, während die Zahl der Farmen mit einer Fläche größer als 810 Ha um 3.600 gestiegen ist. Ähnlich in Frankreich: Dort fiel die Zahl der Bauernhöfe zwischen 1993 und 2004 um ein Drittel, während die durchschnittliche Größe eines Bauernhofes um 40 Prozent wuchs. Allein: Die bloße Tatsache, dass es im Wesentlichen dieselben Mechanismen sind (s.u.), welche Verdrängungsprozesse hervorrufen, sollte nicht – wie es die Ausgangsthese tut – zu sachlich falschen Nivellierungen führen. Insofern ist es durchaus passend, dass im Norden lediglich vom „Höfesterben“ die Rede ist, während es im Süden die Kleinbauern und -bäuerinnen selbst sind, welche den Macht und Herrschaftsverhältnissen innerhalb des globalen Agrarsystems zum Opfer fallen.
c) Es ist die Logik des Überlebens, welche mittlerweile die Mehrzahl der ländlichen Haushalte im globalen Süden ihr Einkommen aus einem Mix kleinbäuerlicher (Subsistenz-)Produktion sowie selbstständiger bzw. lohnabhängiger Beschäftigung im nicht-agrarischen Bereich bestreiten lässt. Die übliche Rede von „Kleinbauer und bäuerinnen“ ist mit anderen Worten irreführend, mehr noch: sie ist – jedenfalls vielerorts – eine Fiktion. Präziser ist es stattdessen, von „Semiproletarisierung“ zu sprechen, ohne dass darunter proletarische Beschäftigungsverhältnisse nördlichen Zuschnitts verstanden werden sollten. Denn die Diversifizierung der Einkommensquellen vollzieht sich nahezu ausschließlich informell – ob im Kleinhandel, im Transportwesen oder im agrarindustriellen (Plantagen)Sektor. Letzteres ist deshalb bemerkenswert, weil die Intensivlandwirtschaft nicht nur im Süden von der Existenz eines Arbeitskräftereservoirs abhängig ist, welches sich maßgeblich aus semi-proletarisierten Kleinbauern und -bäuerinnen speist. Allein in der US-Landwirtschaft arbeiten 1 Million lateinamerikanische MigrantInnen – 40 Prozent ohne Papiere.iii Unter ihnen befinden sich auch viele jener mehreren hundertausend Maisbauern und -bäuerinnen aus Mexiko, welche im Zuge der 1994 zwischen Kanada, Mexiko und der USA in Kraft getretenen NAFTA-Freihandelszone ihre Existenzgrundlagen eingebüßt haben (aus dem einfachen Grund, dass sie dem subventionierten Billigmais aus den USA nicht mehr standhalten konnten).
Doch zurück zur Diversifizierung der Einkommensquellen, welche auch durch Zahlenmaterial unterfüttert wird: Danach stammt bei kleinbäuerlichen Haushalten in Subsahara-Afrika ca. 30-50 Prozent des Einkommens aus anderen Quellen als der Arbeit auf dem eigenen Stückchen Land (inklusive Rücküberweisungen durch MigrantInnen); in Südasien ist von 60 Prozent die Rede und in Lateinamerika von 40 Prozent; Spitzenreiter ist unterdessen das südliche Afrika mit einem Anteil von 80-90 Prozent. Die Zahlen dürften des Weiteren deutlich machen, dass es sich um eine ganz eigene Daseinsform handelt, welche in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten entstanden ist: Während landwirtschaftliche (Subsistenz-)Produktion – so die breit rezipierte These von Deborah Bryceson (Bryceson 2000) – ein physischer Ort des mehr oder weniger selbstbestimmten Überlebens und zudem eine Versicherung gegen die Risiken informeller Ökonomie ist, spielt das ansonsten erzielte Geldeinkommen nicht nur für den täglichen Bedarf, sondern auch für den Kauf landwirtschaftlicher Inputs wie z.B. Saatgut eine elementare Rolle. Es entpuppt sich auf diese Weise als eine Art Stabilisator kleinbäuerlicher Landwirtschaft, ist also keineswegs – wie es bisweilen den Anschein hat – der erste Schritt zu ihrer Zerstörung. Insgesamt ist hieraus eine weitgehend neue Raumordnung entstanden: Einerseits werden ländliche Haushalte durch Migration einzelner Familienmitglieder räumlich aufgespalten. Da ein Großteil der Jobs in der Stadt angesiedelt ist und MigrantInnen häufig als Katalysatoren städtischer Normen, Werte etc. fungieren, werden die damit verknüpften (Transformations-)Prozesse als „Urbanisierung des Landes“ bezeichnet. Umgekehrt rückt das Land immer näher an die Stadt heran. Nicht nur durch Subsistenzproduktion in der Stadt („urban gardening“) oder durch landlose TagelöhnerInnen, die z.B. in Brasilien täglich aus der Stadt zu Arbeitseinsätzen auf Großplantagen transportiert werden. Nein, wichtiger ist, dass sich überall im Süden zwischen städtischen Rändern und ländlichen Gebieten – quasi als Verkörperung semiproletarischer Lebensrealitäten – suburbane, in der Regel wild besiedelte Agglomerationen herausgebildet haben, in denen die BewohnerInnen zugleich landwirtschaftliche wie nicht-landwirtschaftliche Tätigkeiten ausüben. Die Stadtforschung spricht in diesem Zusammenhang von der „Ruralisierung der Stadt“.
Slumcities – zwischen Landflucht und urbanem Aufbruch
Migration ist in den unterschiedlichsten Varianten ein elementarer Bestandteil des globalen Agrarsystems – und das bereits seit langem: Die unterschiedlichen Phasen der Industrialisierung in Europa wären ohne kontinuierlichen Arbeitskräftenachschub vom Lande überhaupt nicht möglich gewesen. Gleiches gilt für die von kolonialen SiedlerInnen betriebenen cashcrop-Farmen im südlichen und östlichen Afrika: Ihnen hätten schlicht die Landarbeiter gefehlt, wären nicht nach dem Ersten Weltkrieg unter anderem im heutigen Kenia etwa 40-50 Prozent der in der Subsistenzlandwirtschaft tätigen Männer durch systematische Landenteignungen zur temporären Migration gezwungen worden. Das zuletzt genannte Beispiel ist wichtig: Es bringt unmissverständlich auf den Punkt, dass es meist ökonomisch mehr oder weniger prekäre Situationen sind, welche Kleinbauern und bäuerinnen zur Migration veranlassen – Stichwort: Landflucht. Dennoch ist der sowohl von NGO als auch BewegungsaktivistInnen an den Tag gelegte Hang falsch, kleinbäuerliche Mobilität vorrangig aus der Perspektive des objektiven bzw. stummen Zwangs zu rekonstruieren und somit das Klischee zu bedienen, wonach Kleinbauern und -bäuerinnen eigentlich schollenverwurzelte, ja konservative ZeitgenossInnen seien. Denn im Windschatten ökonomisch begründeter Überlebensstrategien werden in aller Regel auch Bedürfnisse zur Geltung gebracht, die ansonsten keine Chance auf Realisierung hätten. Eine in Kenia erstellte Studie (Kariuki/Nelson 2006) berichtet zum Beispiel davon, dass junge Frauen in der Stadt zunehmend die Bereitschaft verlieren würden, aufs Land zurückzukehren und dort ihre altersschwachen (Schwieger)Eltern zu pflegen – so wie das mehrere Jahrzehnte üblich war. Erstens weil sie nicht so lange von ihren Männern getrennt sein wollten, zweitens weil die Ausbildung der Kinder Priorität genieße, drittens weil sie nicht auf Elektrizität und fließendes Wasser verzichten wollten und viertens weil sie die Bereitschaft verloren hätten, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Demgegenüber würden sie es vorziehen, zusammen mit anderen in der Stadt lebenden Geschwistern eine Haushaltshilfe für ihre (Schwieger-)Eltern zu finanzieren – eine Entscheidung, von der Angehörige aller Einkommensklassen berichtet hätten. Die bewusste Infragestellung traditioneller, mithin patriarchaler Werte, Normen, Rollenmuster etc. (welche oft von materiellen Wünschen und Aufstiegshoffnungen flankiert istiv) gilt als ein gut dokumentierter Sachverhalt. Insofern mag zwar Eric Hobsbawm mit seiner notorisch fortschrittsgläubigen Feststellung übers Ziel hinausschießen, wonach die Landbevölkerung im Süden „erst in den sechziger Jahren oder sogar noch später Schritt für Schritt begriffen (hat), dass Modernität eher ein Versprechen als eine Bedrohung ist.“ (Hobsbawm 1998, 444) Und doch: Die sozialen Urbanisierungs- und Transformationsdynamiken in der Peripherie (samt Migration) bleiben unverstanden, solange neoliberale bzw. imperialistische Unterwerfungsstrategien als einzige Interpretationsfolie herangezogen werden – unter expliziter Ausblendung des nicht nur von Hobsbawm stark gemachten Willens zum urbanen Aufbruch.
Im Übrigen ist das auch der Grund, weshalb Teile der kritischen Stadtforschung Mike Davis’ viel beachtete Untersuchung zu südlichen Mega- bzw. Slumcities ausdrücklich in Frage stellen (Davis 2007). Es stimme zwar, dass jene erst durch den millionenfachen Zuzug entwurzelter Kleinbauern und bäuerinnen entstanden wären, und auch könne kein Zweifel an den desastergleichen Lebensbedingungen bestehen. Im größten Slum Nairobis teilen sich zum Beispiel durchschnittlich 4 Personen einen Raum und bis zu 150 Personen eine Latrine. Gleichwohl führe es nicht weiter, so die KritikerInnen (Parnreiter 2007), Städte wie Lagos, Dakar oder Bombay pauschal als „stinkende Kotberge“ zu denunzieren, ja zu horrifizieren (Davis, 2007, 145). Denn Slums sind keineswegs bloße Orte des Überlebens. Im Gegenteil: Sie sind immer auch (kulturelle) Laboratorien des Wandels – und als solche dynamische Kristallisations bzw. Anziehungspunkte. Darauf hat in jüngerer Zeit insbesondere die afrikanische bzw. afrikabezogene Stadtforschung hingewiesen – ohne indessen die neoliberale Figur des sich selbst-aktivierenden Armen zu beschwören (vgl. Simone/Abouhani 2005, Freund 2007, Bryceson/Potts 2006).
ABC des globalen Agrarsystems
Es bleibt die Frage, welche Antriebskräfte hinter jenen Verwerfungen und Transformationsprozessen stehen, die insbesondere in der Peripherie auf das Allerengste mit dem globalen Agrarsystem verschränkt sind. Da es sich um ein überaus facettenreiches Geflecht ganz verschiedenartiger Akteure, Konfliktfelder und Abläufe handelt, muss die Analyse an dieser Stelle unweigerlich rudimentär ausfallen:
a) Die umfassende Öffnung der Agrarmärkte und der drastische Abbau staatlicher Unterstützungsleistungen für Kleinbauern und bäuerinnen (Kreditprogramme, Garantiepreise etc.) waren zwei der zentralen Maßnahmen, zu denen etliche Länder des globalen Südens im Rahmen der IWF-Strukturanpassungsprogramme seit Anfang der 1980er Jahre gezwungen wurden. Denn sowohl die EU als auch die USA haben auf diese Weise die Voraussetzung dafür geschaffen, ihre systematisch erzeugten Agrarüberschüsse loszuschlagen: Mittels Exportsubventionen wurden die Märkte der betreffenden Länder mit Getreide, Milchprodukten, Tomatenmark, Fleisch etc. zu Dumpingpreisen überschwemmt. Folge war, dass viele Kleinbauern und -bäuerinnen ihre Produkte nicht mehr verkaufen konnten und Pleite machten – ein Mechanismus welcher obendrein durch das 1995 in Kraft getretene WTO-Agrarabkommen sowie weitere bi bzw. multilaterale Freihandelsabkommen massiv verschärft wurde. Zu beachten ist allerdings, dass die in diesem Zusammenhang häufig kolportierte Behauptung irreführend ist, wonach die reichen Industrieländer ‚ihre’ Bauernschaft zuungusten der Kleinbauern und -bäuerinnen im Süden protegieren würden. Denn ein Großteil der Agrar-Subventionen fließt in die Taschen agrarindustrieller Großbetriebe sowie der weiterverarbeitenden Nahrungsmittelindustrie (Molkereien, Zuckerraffinerien, Schlachtereien etc.). In den OECD-Staaten erhält zum Beispiel das reichste Fünftel der Bauernhöfe 80 Prozent der insgesamt an LandwirtInnen gezahlten Subventionen.
b) Des Weiteren wurden die peripherisierten Länder durch den IWF (und anderen Kreditgeber) zur stärkeren Ausrichtung ihrer Landwirtschaft auf cashcrop-Exportprodukte wie zum Beispiel Kakao, Zuckerrohr oder (neuerdings) Agrosprit-Pflanzen angehalten. Einerseits weil so die für den Schuldendienst erforderlichen Devisen verdient werden sollten. Andererseits weil cashcrop-Produktion häufig auf großen Plantagen erfolgt und insofern ein lukratives Geschäftsfeld für die im Norden angesiedelte Saatgut-, Dünger- und Pestizidindustrie darstellt. Allein: Die Ausweitung der Plantagenlandwirtschaft ist mit massiven Landvertreibungen einhergegangen und hat somit die ohnehin extreme Ungleichverteilung von Land vertieft – zusammen mit weiteren Ursachen von Vertreibung wie etwa Übertageabbau, Großstaudämme oder Ölpipelines. Zudem geht monokulturelle Intensivlandwirtschaft Hand in Hand mit Bodenerosion, Entwaldung, Sinken des Grundwasserspiegels, Verlust der Biodiversität etc. – also lauter Problemkreisen, welche direkt oder indirekt (via Klimawandel) die Produktionsbedingungen von Kleinbauern und -bäuerinnen drastisch verschlechtern.
c) Die erhoffte Reduzierung der Schuldenlast ist allerdings durch den Umstand gescheitert, dass der Wert für die meisten cashcrop-Produkte auf den Weltmärkten (terms of trade) zwischen 1973 und 1998 um rund die Hälfte gesunken ist. Dramatisch ist das nicht zuletzt deshalb, weil durch die Zerschlagung kleinbäuerlicher Existenzgrundlagen viele ehemals autarke Länder zu Nettoimporteuren in Sachen Nahrung geworden sind – mit der Konsequenz, dass immer größere Anteile ihrer Devisen-Exportgewinne für Lebensmittelimporte aufgewendet werden müssen.
d) Die im Norden seit den 1920er Jahren explosionsartig gewachsene Bedeutung von Fleisch-, Eier- und Milchprodukten ist in vielfacher Hinsicht verheerend. Und das um so mehr, als mittlerweile auch die Schwellenländer ihre Ernährungsgewohnheiten zunehmend umstellen. Beispielsweise ist der Anteil von China am weltweiten Fleischkonsum zwischen 1961 und 2004 von 4 Prozent auf 29 Prozent gestiegen. Ernährungspolitisch ist Tierhaltung ein Problem, weil für den Anbau von Futtermitteln überproportional viel Anbaufläche verloren geht. Konkret erfordert die Herstellung von 1 Kilo Fleisch 7 Kilo Getreide. Auch ökologisch fällt die Bilanz ausgesprochen negativ aus – vor allem unter Klimaaspekten: 30,9 Prozent aller Treibhausgase entstammen der (agrarindustriellen) Landwirtschaft, davon allein 80 Prozent der Tierhaltung: durch Darmgase von Wiederkäuern (Methan), durch Gülleberge (Lachgas) und durch fossile Stickstoffdünger, welche zu 2/3 in der Futtermittelproduktion zur Anwendung kommen (CO2). Die agrarindustrielle Fleisch-, Eier- und Milchproduktion ist des weiteren gesundheitspolitisch hochgradig fragwürdig. Erwähnt sei nur, dass in den USA in der Landwirtschaft 8 Mal soviel Antibiotika eingesetzt werden wie in der Humanmedizin. Schließlich werfen Tierfabriken auch in ethischer Hinsicht erhebliche Fragestellungen auf – das dürften vor allem Filme wie „Unser täglich Brot“ oder „We feed the world“ hinlänglich deutlich gemacht haben.
e) Sämtliche Phasen der Agrar-Wertschöpfungskette werden von jeweils wenigen transnationalen Konzernen dominiert. Hierdurch befindet sich die landwirtschaftliche Produktion allenthalben im Zangengriff von Inputindustrie, Großhandel, Lebensmittelproduktion und Supermärkten – ob durch Knebelverträge, Patentgebühren (Stichwort: Biopiraterie), Qualitätsvorgaben, Mindestabnahmemengen oder Preisdiktate. Konsequenz ist einerseits, dass nur noch monokulturelle Großbetriebe überhaupt bestehen können – nach dem Motto „wachse oder weiche“. Andererseits kommt es auf diese Weise zu einer immer stärkeren Umverteilung zwischen landwirtschaftlichen ProduzentInnen und den vor- sowie nachgelagerten Instanzen der Produktions- bzw. Wertschöpfungskette. So hat sich zwar der Kaffee-Umsatz im weltweiten Einzelhandel zwischen 1990 und 2003 verdoppelt, die Einnahmen der kaffeeproduzierenden Länder hingegen halbiert.
Von der Ernährungssouveränität zur gesamtgesellschaftlichen Utopie
Zweidrittel aller Haushalte weltweit lebt ganz oder teilweise von der Landwirtschaft. Diese aus nördlicher Sicht zweifelsohne imposante Zahl dürfte auch nicht durch den zum feuilletonistischen Dauerbrenner avancierten Umstand geschmälert werden, dass seit kurzem rund 50 Prozent der Menschheit in Städten bzw. urbanisierten Agglomerationen lebt. Insofern ist die ursprünglich von „Via Campesina“ aufgebrachte Forderung nach Ernährungssouveränität (also der freie Zugang zu Land, Wasser und Saatgut – nebst weiterer Selbstbestimmungsrechte) immer noch hochaktuell. Mindestens dreierlei kommt in dieser zum Tragen: Erstens die inzwischen selbst vom Weltagrarrat ventilierte Erkenntnis, wonach ländliche Armut – einschließlich Hunger – vorrangig durch systematische Förderung kleinbäuerlicher Landwirtschaft zurückzudrängen ist (Weis 2007). Zweitens der Umstand, dass für viele Menschen der (Wieder-)Einstieg in kleinbäuerliche Subsistenzproduktion die einzig verbliebene Überlebenshoffnung darstellt. Hintergrund ist, dass durch die neoliberale, in den vergangenen 30 Jahren erfolgte Restrukturierung des globalen Kapitalismus nicht nur kleinbäuerliche Existenzgrundlagen millionenfach zerschlagen wurden, sondern auch zahlreiche Arbeitsmöglichkeiten im öffentlichen Sektor, in der Industrie und im Handel. Drittens artikuliert sich in der Forderung nach Ernährungssouveränität der utopisch aufgeladene Wunsch unzähliger, mehr oder weniger deklassierter Kleinbauern und -bäuerinnen, Landloser und LandarbeiterInnen, mit ihren ‚großen Vettern’ gleichzuziehen – also kommerziell operierende, sich halbwegs über Wasser haltende Familienbetriebe zu gründen.
Ernährungssouveränität reicht jedoch als programmatische Plattform nicht aus. Denn angesichts umfassender Semiproletarisierung, galoppierender Urbanisierung und blockierter Industrialisierung – oft eingebettet in albtraumhaft anmutende Verelendungszonen – stellt sich unvermindert die Frage, was im Süden überhaupt gesamtgesellschaftliche Entwicklung bzw. Emanzipation heißen kann. Umgekehrt ist auch der Norden mit beträchtlichen, ja systemsprengenden Herausforderungen konfrontiert: Zum einen im Lichte der zutiefst gewaltvollen, mithin barbarischen Peripherie-Zentrums-Beziehungen (welche sich auch im Inneren der reichen Industrieländer fortsetzen), zum anderen deshalb, weil aus ökologischen Gründen das Ende der agrarindustriellen Intensivlandwirtschaft ein ebenso grundlegendes wie voraussetzungsvolles Ding der Notwendigkeit darstellt.
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Aus: Kurswechsel, Heft 3/2008
Olaf Bernau ist politischer Aktivist und schreibt regelmäßig für „analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis“