Ein Anfang ist gemacht...
Bamako-Dakar-Karawane beflügelt afrikanisch-europäische Organisierung von unten
ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 560 / 15.4.2011
Von Olaf Bernau
Die organisatorischen und politischen Schwierigkeiten waren enorm, insbesondere nachdem sich die „Karawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung“ (ak 556) bereits am vierten Tag mit weiteren Karawanen zusammengetan hat. Doch der riesige Tross mit über 500 AktivistInnen hielt Kurs, die meisten Aktionen, Workshops und Vernetzungstreffen konnten wie geplant stattfinden – auch wenn der Austausch mit lokalen Akteuren aus zeitlichen Gründen immer wieder zu kurz gekommen ist. Drängendste Aufgabe ist nun, die transnationale Kooperation zwischen afrikanischen und europäischen BasisaktivistInnen auf ein festeres Fundament zu stellen.
Personell entpuppte sich die Bamako-Dakar-Karawane (25. Januar bis 13. Februar) schon früh als komplexes, ja hybrides Gebildes. Nicht nur weil in Afrika und Europa jeweils eigenständige Vorbereitungskreise involviert waren – mit dem erst Anfang 2010 entstandenen Netzwerk Afrique-Europe-Interact als gemeinsamer Klammer. Auch die an der Karawane selbst beteiligten Gruppen waren alles andere als homogen. Allein unter den knapp 200 AktivistInnen aus Mali lassen sich mindestens vier Gruppierungen unterscheiden – jedenfalls in migrationspolitischer Hinsicht: Abgeschobene – hiermit sind vor allem jene gemeint, die bereits mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Europa, den USA oder irgendwo sonst gelebt und gearbeitet haben; Rückgeschobene, also Leute, die auf ihrem Weg gen Norden in der Wüste oder auf dem Meer abgefangen und nach Mali zurückgeschoben wurden – in dieser Gruppe befinden sich auch zahlreiche MigrantInnen, die nicht aus Mali stammen, dort aber – in aller Regel unfreiwillig – gestrandet sind; Vertriebene, im Falle der Karawane waren dies insbesondere Leute, die als sogenannte 'Ausländer' im Laufe der letzten Jahre die Elfenbeinküste verlassen mussten; und schließlich all jene, die über keine eigenen Migrationserfahrungen verfügen. Demgegenüber waren von europäischer Seite vor allem VertreterInnen antirassistischer Netzwerke dabei – sowohl mit als auch ohne Flucht- bzw. Migrationshintergrund. Hierzu zählten auch 25 (Ex-)Sans Papier-AktivistInnen aus Paris, die sich als 'externes' Kollektiv ebenfalls an der Karawane beteiligt haben – was insofern eindrücklich war, als die meisten von ihnen ursprünglich aus Mali stammten.
Gewiss, die Vielfalt der Erfahrungen, Interessen und Perspektiven war immens, gleichwohl haben sich im Zuge der Karawane mindestens drei Themen als kommunikative bzw. politische Knotenpunkte herauskristallisiert – um sie soll es im Folgenden vornehmlich gehen, nebst abschließendem Fazit: Erstens das Verhältnis zwischen Entwicklung und Migration – oder politisch übersetzt: das Recht zu bleiben bzw. das Recht zu gehen; zweitens die unterschiedlichen Handlungsvoraussetzungen von afrikanischen und europäischen AktivistInnen, ein Sachverhalt, der letztlich auf das extreme Ressourcengefälle zwischen Peripherie und Zentrum verweist; und drittens die (mediale) Rezeption der Karawane innerhalb der afrikanischen und europäischen Öffentlichkeit, auch unter Berücksichtigung des 11. Weltsozialforums in Dakar (6. bis 11. Februar/ak 559).
I. Verhältnis zwischen Entwicklung und Migration: Wer in Europa Bewegungsfreiheit fordert, steht auf verlorenem Posten. Die Forderung gilt zwar als legitim, bisweilen auch nobel, nicht aber salonfähig – das haben die Debatten angesichts der jüngsten Entwicklungen in Nordafrika einmal mehr vor Augen geführt. Ganz anders in Mali bzw. Senegal, ja in Afrika insgesamt: Hier ist Bewegungsfreiheit Mainstream, eine in der Mitte der Gesellschaft verankerte Forderung: Ob jung oder alt, Studentin oder Taxifahrer, Stadt oder Land – wo immer die Karawane zwischen Bamako und Dakar auftauchte, stießen ihre Forderungen allenthalben auf große Zustimmung. Das hat einerseits mit einer langen, kulturell tief verwurzelten Geschichte von Arbeitsmigration in dieser Weltregion zu tun. Erwähnt sei nur, dass sich rund 25 Prozent der malischen Bevölkerung in der Migration befindet – übrigens ein selbst für afrikanische Verhältnisse ungewöhnlich hoher Wert. Andererseits spielt der Umstand eine überragende Rolle, dass viele Familien ohne die monatlichen Rücküberweisungen ihrer Verwandten nicht über die Runden kämen. So sollen afrikanische MigrantInnen bis zu 30 Milliarden Dollar pro Jahr nach Hause schicken, statistisch etwa das Anderthalbfache der Entwicklungshilfe für den gesamten Kontinent (wobei diesbezüglich nicht aus dem Blick geraten sollte, dass ein Großteil der Arbeitsmigration innerhalb Afrikas erfolgt).
Die nur schwer zu überschätzende Bedeutung von Migration spiegelt sich in pointierter Form auch in den ersten Abschnitten der „Charta von Goree“ wider: „Jede Person auf der Erde hat das Recht auf freie Wahl ihres Aufenthaltsortes, das Recht, dort zu bleiben, wo sie lebt, das Recht, sich frei zu bewegen und sich ohne Auflagen an jedem Ort dieser Erde niederzulassen. (…) Migranten aus der ganzen Welt müssen dieselben Rechte besitzen wie die Staatsangehörigen und Bürger des Wohnsitz- oder Transitlandes (…).“ Goree ist eine kleine, drei Kilometer vor Dakar gelegenen Insel, sie gilt bis heute als wichtiger Erinnerungsort für den transatlantischen Sklavenhandel. Im unmittelbaren Vorfeld des 11. Weltsozialforums sind dort MigrantInnen aus aller Welt zur Verabschiedung besagter Charta zusammengekommen – auch Afrique-Europe-Interact war mit 15 Delegierten vertreten.
Und doch: Trotz unmissverständlicher, durch Gorée gleichsam aufgepeppter Parteilichkeit stand das aktuelle Migrationsgeschehen im Rahmen der Karawane keineswegs unter Denkmalschutz. Hintergrund war, dass zumindest die unerlaubte bzw. irreguläre Migration nach Europa in den Augen vieler afrikanischer AktivistInnen eine hochgradig zweischneidige, ja problematische Angelegenheit darstellt. Betont wurden immer wieder die extremen Schattenseiten der irregulären Migration, vor allem dreierlei kam zur Sprache: Erstens die unzähligen Todesfälle – auf den Meeren genauso wie in der Wüste; zweitens die massiven Ausbeutungs- und Diskriminierungserfahrungen, denen afrikanische MigrantInnen in Europa gemeinhin unterliegen; und drittens die katastrophalen, häufig traumatischen Konsequenzen, welche Abschiebungen für die Betroffenen und ihre Familien mit sich bringen. Karim Sidibe, Präsident einer Abgeschobenenorganisation im südmalischen Yanfolila, hat daraus ganz eigene Schlüsse gezogen – und steht damit keineswegs allein: Er warnt in einer wöchentlichen Sendung im lokalen Radiosender ausdrücklich vor den Risiken der irregulären Migration. Hintergrund ist, dass er selbst zweimal in einem Flüchtlingsboot saß – beide Male sind Freunde bzw. Bekannte ums Leben gekommen.
Darüber hinaus wurde in diversen Beiträgen die von internationalen Entwicklungsagenturen sowie größeren Teilen der malischen Zivilgesellschaft affirmativ ventilierte These in Frage gestellt, wonach migrantische Rücküberweisungen als der eigentliche Motor gesellschaftlicher Entwicklung zu betrachten wären. Wer so argumentiere, verkenne die Tatsache, dass Rücküberweisungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem jene Löcher kompensiert hätten, welche durch die neoliberalen, von IWF, Weltbank & Co. aufgenötigten Strukturanpassungsprogramme in öffentlichen und privaten Haushalten entstanden seien. Der individualisierten Bearbeitung gesellschaftlicher Verwerfungen dürfe insofern nicht Vorschub geleistet werden, gefragt seien vielmehr kollektive Lösungsstrategien – insbesondere sollten die staatlichen Institutionen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, durch partizipative und konsequent auf Armutsbekämpfung zielende Regierungsführung einen ernsthaften Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu leisten. Erreichbar sei dies jedoch nur (von prinzipiellen Veränderungen ganz zu schweigen), wenn der Exodus relevanter Teile der jungen Generation abebben und sich stattdessen in Mali bzw. anderen Ländern Westafrikas breiter Widerstand von unten artikulieren würde.
Kurzum: Die griffige und viel zitierte Formel „Europa oder der Tod“, mit der junge MigrantInnen aus Afrika in den letzten Jahren immer wieder ihre waghalsigen Überfahrten in hochseeuntauglichen Fischerbooten begründet haben, scheint der Vergangenheit anzugehören – wobei die Frage unbeantwortet blieb, ob es sich je um eine von tatsächlich vielen Leuten geteilte Überzeugung oder lediglich medial aufgebauschte Einzelstimmen gehandelt hat. Im Zentrum der Gespräche bzw. Debatten stand demgegenüber eine differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Facetten irregulärer Migration.
Zur abwägenden Haltung gehörte im Übrigen auch, dass im Rahmen der Karawane falsche Polarisierungen kaum zu vernehmen waren: Unisono wurde etwa immer wieder darauf hingewiesen, dass als Diskussionsgrundlage einzig das unhintergehbare Recht auf Bewegungsfreiheit zu gelten habe – worunter in Westafrika nicht zuletzt die Möglichkeit zur temporären bzw. zirkulären Migration verstanden wird. Die von der EU verfolgte Strategie, mittels des Begriffs der irregulären Migration transnationale Mobilität als solche zu denunzieren, verfängt also nicht – noch nicht einmal unter Leuten, welche der irregulären Migration mit einem gerüttelten Maß Skepsis begegnen. Um so skurriler wirkte ein Schild, welches die EU zusammen mit malischen NGOs in Gogui, einer winzigen am Rande der Sahara gelegenen Grenzstation zwischen Mali und Mauretatanien aufgestellt hat: Drohend heißt es dort: „Stoppt die irreguläre Migration, sie ist eine Gefahr für die Bevölkerung“. Die Karawane hat an diesem zweifelsohne surreal anmutenden Schauplatz unter anderem deshalb demonstriert, weil seit 2005 über 4.000 Bootsflüchtlinge mit finanzieller und logistischer Unterstützung der spanischen Regierung nach Gogui abgeschoben wurden – die meisten, nachdem sie an der 1.500 Kilometer entfernten Küste Mauretaniens in die Fänge der EU-Grenzschutzagentur Frontex bzw. der mauretanischen Küstewache geraten waren.
Gerade weil die Risiken bzw. Abgründe irregulärer Migration innerhalb der afrikanischen Debatte eine zentrale Rolle spielen, war es fast schon überraschend, dass die vom europäischen Karawane-Flügel bereit gestellten Informationen über Europa – inklusive migrantischer Kämpfe – nicht sonderlich gefragt schienen, jedenfalls auf den ersten Blick: Während die ohnehin zur Migration Entschlossenen vor allem an praktischen Informationen interessiert waren und Hinweise auf etwaige Schwierigkeiten mit dem Argument relativierten, dass es ja die europäischen AktivistInnen mit Migrationshintergrund ebenfalls geschafft hätten, stand für alle anderen die Frage im Vordergrund, wie es in Mali selbst weitergehen könnte – ein Blickwinkel, bei dem Europa tendenziell zu einer Art Nebenschauplatz zusammenschrumpft. Dennoch spricht vieles dafür, dass der diesbezügliche Erfahrungstransfer seine Wirkung eher langfristig – gleichsam homöopathisch – entfalten dürfte. Aufschlussreich war vor allem die Rezeption eines pantomimischen, lediglich mit Geräuschen und Musik operierenden Theaterstücks, welches das Leben des Asylbewerbers Oury Jalloh nacherzählt – angefangen beim Bürgerkrieg in Sierra Leone bis zum Feuertod in einer deutschen Polizeizelle in Dessau. Mitgebracht hatte das Stück ein Mitglied der Initiative in Erinnerung an Oury Jalloh, mehrfach aufgeführt wurde es indessen von Kindern und Karawane-AktivistInnen, die meisten aus Mali. Mittlerweile ist das Stück zum Selbstläufer geworden, es wurde von einer an der Karawane beteiligten Trommel-Combo 'adoptiert' und soll Mitte April anlässlich der Eröffnung eines kulturellen Zentrums in Bamako erneut aufgeführt werden.
II. Unterschiedliche Handlungsvoraussetzungen: Auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen belegt Mali den 178. Platz, dahinter kommen nur noch die Zentralafrikanische Republik, Sierra Leone, Afghanistan und Niger. Die damit verknüpften Lebensverhältnisse wirkten auf viele der europäischen AktivistInnen verstörend, mitunter auch schockierend (zumindest auf jene ohne afrikanischen Migrationshintergrund). Ausschlaggebend dürfte zum einen gewesen sein, dass die Karawane durchgehend als gemeinsame, d.h. gemischt bzw. hybrid zusammengesetzte Gruppe unterwegs war, inklusive privater Unterbringung in Bamako. Denn hierdurch haben sich in einem Ausmaß Einblicke in die alltäglichen Abläufe ergeben (samt ihrer Engpässe und Widrigkeiten), wie das ansonsten nur in Ausnahmefällen möglich ist. Ebenfalls wichtig war zudem, dass im Laufe der Karawane globalisierungskritische Themen wie 'Hunger', 'fehlender Zugang zur Gesundheitsversorgung' oder 'rudimentäre öffentliche Infrastuktur' ihren notwendigerweise abstrakten Charakter verloren haben. Die europäischen AktivistInnen hatten es nun nicht mehr – um lediglich ein Beispiel zu nennen – mit einer Milliarde Hungernden 'an sich' zu tun (einer auch von Mainstream-Medien gerne zitierten Zahl), sondern mit konkreten Hungernden, etwa mit Kindern im senegalesischen Tambakounda, wo das Essen für den Karawane-Tross auf einem öffentlichen Platz ausgegeben wurde. Verstörend war in diesem Zusammenhang insbesondere das Tempo, mit dem die Kinder das übrig gebliebene Essen gleichsam verschlungen haben – ist doch erst auf diese Weise das tatsächliche Ausmaß ihres Hungers offenkundig geworden. Solchen und vielen weiteren Erfahrungen ist es jedenfalls zu verdanken, dass bei den europäischen Karawane-AktivistInnen eine durchaus realitätstaugliche Vorstellung von der existentiellen Dramatik entstanden ist, welche das alltägliche (Über-)Leben in der Peripherie auszeichnet – übrigens ein Erfahrungswert (und darauf sei mit Nachdruck hingewiesen), der hierzulande seit dem Kollaps der Internationalismus- bzw. 3. Welt-Solidaritätsbewegung Ende der 1980er Jahre nur noch selten anzutreffen ist.
Praktisch hat sich all dies auf mindestens zwei Ebene bemerkbar gemacht: Auf der einen Seite ist es im Laufe der Karawane mehrfach zu hitzigen Auseinandersetzungen, mithin Rangeleien gekommen, und zwar meist dann, wenn es um die Verteilung irgendwelcher 'Güter' ging – etwa von Schaumstoffmatratzen, Frühstücksportionen oder Moskitonetzen. So harmlos die Auseinandersetzungen als solche waren, sie haben immer wieder in Erinnerung gerufen, wie krass der existentielle Druck ist, der auf vielen lastet. Genauso wenig sollte allerdings aus dem Blick geraten, dass sich derartiger Druck keineswegs automatisch in endemische Gewalt bzw. gesellschaftliche Großkonflikte übersetzt, wie es hierzulande unter Verweis auf Nigeria, Somalia oder den Kongo häufig suggeriert wird. Denn Fakt ist ja auch – und diese Erfahrung war für die europäischen AktivistInnen ungleich einprägsamer, dass soziale Beziehungen in Mali und Senegal in einem Ausmaß von Respekt, Offenheit und Gastfreundschaft geprägt sind, wie es in Europa nur selten anzutreffen ist.
Schwieriger gestaltete sich indessen die Frage, wie mit dem objektiven Ressourcengefälle zwischen afrikanischen und europäischen AktivistInnen zu verfahren wäre. Grundsätzlich bestand Einigkeit darüber, dass dies ein nicht-auflösbares Dilemma darstellt – allein schon deshalb, weil die europäische Fraktion ein Rückflugticket in der Tasche hatte und somit über genau jene Bewegungsfreiheit verfügte, um die viele der afrikanischen Karawane-TeilnehmerInnen schon lange kämpfen – bisweilen auch unter Einsatz ihres Lebens. Dennoch wurde bereits im Vorfeld vereinbart, in materieller Hinsicht zumindest für die Dauer der gemeinsamen Aktivität gleiche Bedingungen herzustellen. Konkret hieß das, dass alle eine eigene Matratze, ein eigenes Moskitonetz und den identischen Verpflegungssatz erhalten sollten – letzteres war vor allem auf die Zeit des Weltsozialforums in Dakar sowie die Pausen während der tagelangen Busfahrten gemünzt, also auf alle jene Situationen, in denen es keine gemeinsame Verpflegung gab.
Allein: Diese und weitere Maßnahmen konnten selbstredenderweise nicht verhindern, dass die Karawane immer wieder von der harten Wirklichkeit eingeholt wurde. Zwei Beispiele: a) Dreizehn der europäischen TeilnehmerInnen wurden nach ihrer Ankunft in Bamako bei der ARACEM untergebracht, einer Anlaufstelle für MigrantInnen aus zentralafrikanischen Ländern, die über den Landweg aus Nordafrika nach Mali abgeschoben wurden. Bereits einige Stunden später war die Luft dick – sinngemäß und für die europäische Gruppe reichlich überraschend hieß es: 'ihr versorgt euch einfach, während wir bereits seit Tagen nichts mehr richtig gegessen haben' (Hintergrund ist, dass die ARACEM eine von MigrantInnen gegründete Basisorganisation ist und selber nur über sehr beschränkte Mittel verfügt). Gelöst wurde das Problem auf simple Art: Für die entsprechende Zeit wurde mit Unterstützung der Karawane-Kasse gemeinsam für alle eingekauft – ein Schritt, der zumindest die Situation an Ort und Stelle merklich entspannte. b) Aktivismus in Mali ist voraussetzungsvoll – darauf haben afrikanische AktivistInnen während der Karawane immer wieder hingewiesen. Denn jedeR muss gucken, woher das Geld für die jeweils nächsten Tage kommt – so etwas wie bezahlter Urlaub, Arbeitslosengeld oder Gespartes sind Dinge aus einer anderen Welt. Insofern hätten viele an der Karawane gar nicht teilnehmen können, wären die Kosten für Fahrt, Verpflegung und Unterkunft nicht anderweitig getragen worden. Und doch: Etliche AktivistInnen standen seitens ihrer Familien unter einem erheblichen Legitimations- bzw. Erwartungsdruck – einfach deshalb, weil auch in Mali die pragmatische und dennoch verhängnisvolle Überzeugung weit verbreitet ist, wonach politische Arbeit einzig unter der Voraussetzung Sinn mache, dass sie sich mehr oder weniger direkt in barer Münze auszahle. Vor diesem Hintergrund wussten sich manche nicht anders zu helfen, als immer wieder einen gewissen Anteil der wahrlich nicht üppig kalkulierten Tagessätze für Verpflegung auf die Seite zu legen.
Last but not least: Die soziale Lage in Ländern wie Mali oder Senegal trägt desaströse Züge, so viel steht fest. Dennoch sollte auf Horrifizierungen ausdrücklich verzichtet werden – eine Tendenz, die in globalisierungskritischen Analysen regelmäßig zu Tage tritt, etwa wenn mit Blick auf Westafrika von „Ausschussbevölkerungen“ oder „Zonen des Todes“ die Rede ist, oder wenn Mike Davis ist seiner viel beachteten Untersuchung „Planet der Slums“ Städte wie Lagos, Dakar oder Bombay pauschal als „stinkende Kotberge“ denunziert. Derlei Begrifflichkeiten sind nicht nur analytisch fragwürdig, sie gehen auch an der überaus widersprüchlichen Komplexität vorbei, wie sie anlässlich der Karawane immer wieder zum Ausdruck gekommen ist – beispielsweise in Bamako (als jenem Ort, an dem sich die Karawane am längsten aufgehalten hat): Denn hier ist eine ins Fatalistisch-Resignative abdriftende Stimmung der Hoffnungslosigkeit nur die eine Seite der Medaille, auch wenn der in vielen Gesprächen deutlich gewordene Umstand reichlich deprimierend ist, dass selbst kleinste Initiativen mangels finanzieller Ressourcen ständig ausgebremst oder verhindert werden. Genauso charakteristisch sind allerdings auch tief in der Bevölkerung verankerte Eigenschaften wie Hartnäckigkeit, Gleichmut oder Stolz, ohne die es wahrscheinlich gar nicht möglich wäre, im alltäglichen Überlebenskampf den Kopf über Wasser zu halten. Oder das überproportional hohe Maß sozialer, nicht zuletzt familiär organisierter Integration bzw. Kohäsion, welches mit der bereits erwähnten Kultur von Respekt, Gastfreundschaft etc. korrespondiert und als eigenständige Quelle von Lebensqualität keineswegs mit rückwärtsgewandter Traditionalität verwechselt werden sollte. Nur wer dies berücksichtigt, also auch den Umstand, dass der jeweilige Entwicklungstand einer Gesellschaft nicht auf makroökonomische Parameter reduziert werde sollte, wird dem weiter oben bereits skizzierten Spannungsverhältnis zwischen Migration und Entwicklung ernsthaft gerecht (d.h. dem in Mali bzw. anderen westafrikanischen Gesellschaften gleichermaßen stark artikulierten Wunsch, wahlweise zu bleiben oder zu gehen – inklusive des Postulats der zirkulären Migration als potentieller Brücke zwischen den beiden Polen).
III. Zur (medialen) Rezeption der Karawane: Die von der Karawane in der Öffentlichkeit erzielte Resonanz war ausgesprochen groß, insbesondere malische bzw. senegalesische TV- und Radiosender haben regelmäßig und viel berichtet. Verschiedene Faktoren dürften dabei eine Rolle gespielt haben: a) Auch wenn in Mali bzw. Senegal formal das Recht auf Versammlungsfreiheit gilt, ist es keineswegs selbstverständlich, dass größere Aktionen unbehelligt stattfinden können, vor allem dann, wenn auch die jeweilige Regierung im Fokus der Kritik steht. In diesem Sinne wurde sowohl der „Erinnerungsmarsch für die Toten der Festung Europa“ im malischen Nioro als auch die Demonstration vor dem Büro der EU-Grenzschutzagentur Frontex in Dakar als absolut ungewöhnlich bewertet. b) Durch zahlreiche Workshops ist es der Karawane auf dem Weltsozialforum in Dakar gelungen, eine vergleichsweise hohe Sichtbarkeit innerhalb des migrationspolitisch interessierten Segments der afrikanischen Zivilgesellschaft zu erzielen. Wichtig war diesbezüglich auch der Sachverhalt, dass ein Fronttransparent der Karawane am vorletzten Tag auf Seite 1 der täglichen Massenzeitung des WSF erschienen ist. c) Dass die Karawane nicht von etablierten NGO getragen wurde, sondern von Basisbewegungen, in denen sich so genannte Betroffene – in diesem Fall: MigrantInnen – selbst organisieren, ist ebenfalls sehr genau registriert worden, einfach deshalb, weil dies in Afrika aus Ressourcengründen immer noch die absolute Ausnahme darstellt. Entsprechend wurde seitens der afrikanischen AktivistInnen mehrfach darauf hingewiesen, dass die Karawane auch – quasi als Nebeneffekt – einen wichtigen Beitrag zur Vernetzung sozialer Basisbewegungen in Mali bzw. Westafrika geleistet hat. Demgegenüber war die öffentliche Resonanz in Europa naturgemäß kleiner, dennoch konnten insbesondere in Deutschland und Österreich diverse Beiträge auch in Mainstream-Medien platziert werden. Für großen Wirbel – auch in der französischen Presse – hat indessen der (auch auf Video dokumentierte) Umstand gesorgt, dass einige der europäischen AktivistInnen auf dem Hinflug zusammen mit weiteren Passagieren erfolgreich eine Abschiebung verhindert haben.
IV. Fazit & Ausblick: Insgesamt war die Karawane ein voller Erfolg, darin sind sich europäische wie afrikanische AktivistInnen weitgehend einig. Ganz oben auf der Hitliste steht (jenseits des im vorherigen Abschnitt bereits Gesagten), dass es überhaupt gelungen ist, das Vorhaben umzusetzen und somit so etwas wie gemeinsame Handlungsfähigkeit (inklusive wechselseitigen Vertrauens) herzustellen – und zwar trotz zahlreicher Buspannen auf der insgesamt über 3.600 Kilometer langen und immer wieder von Schlaglöchern übersäten Strecke, trotz eines geradezu unglaublichen Organisationschaos beim 11. Weltsozialforum in Dakar, trotz dessen, dass es in Mali eine vergleichbare Karawane noch nie gegeben hat und daher sämtliche Logistik erst einmal organisiert werden musste, trotz der Schwierigkeiten, vor und während der Karawane in einem gemischt zusammengesetzten Team einen (nicht zuletzt auf Spenden basierenden) 100.000-Euro-Etat gemeinsam zu verwalten, trotz der extrem nervenaufreibenden Koordinationsprozesse mit den anderen Karawanen, und trotz der Tatsache, dass es für die allermeisten der 240 Beteiligten die erste gemeinsame Aktion überhaupt gewesen ist. Kurzum: Die Feststellung scheint keineswegs übertrieben, dass die im Vorfeld der Karawane explizit erklärte Zielsetzung realisiert werden konnte, in kritischer Anlehnung an die Praxis des so genannten Neuen Internationalismus der 1980er Jahre eine zeitgemäße Variante 'transnationaler Organisierung von unten' auf den Weg zu bringen.
Und doch – die Überschrift des vorliegenden Artikels ist weder Zufall noch Koketterie. Denn bei aller Freude über das bislang Erreichte dürfte es sich von selbst verstehen, dass Afrique-Europe-Interact immer noch am Anfang steht. Das weitere Gelingen hängt insofern auch von einem sorgfältigen Umgang unter anderem mit folgenden Fragen bzw. Herausforderungen ab: a) In der Vorbereitung der Karawane haben auf afrikanischer bzw. europäischer Seite jeweils nur wenige Gruppen weitergehende Verantwortung übernommen – das sollte sich zukünftig ändern, auch im Zusammenhang mit der Frage, an welchem Ort grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden (Plenum vs. Kommission). b) Die kritische Auseinandersetzung mit patriarchalen Strukturen – ob in der Gesellschaft, der Familie oder sozialen Basisbewegungen – ist immer wieder zur Sprache gekommen, unter anderem bei einer feministischen Konferenz im senegalesischen Kaolack sowie im Zuge mehrerer „Frauentreffen“ (in Nioro zusammen mit Frauen aus der lokalen Bevölkerung). Auch hier dürfte weiterhin erheblicher Diskussions-, Klärungs- und Veränderungsbedarf bestehen. c) Auch wenn Entwicklungsfragen generell eine große Rolle gespielt haben, ist es nur selten richtig konkret geworden – allenfalls bei landwirtschafts-, privatisierungs- und korruptionsbezogenen Problematiken. Hier ist langfristig eine genauere Fokussierung erforderlich, vor allem mit Blick auf konkrete Konflikte. d) Die Mehrheit der AktivistInnen in Mali steht ökonomisch mit dem Rücken zur Wand. Auch wenn Afrique-Europe-Interact keine NGO ist, wirft das dennoch die Frage auf, inwiefern die einzelnen Gruppen – jenseits der gemeinsamen politischen Arbeit – finanziell unterstützt werden können (etwa für den Kauf einer Saftpresse oder die Einrichtung eines Friseursalons).
Worin die nächsten Schritte konkret bestehen, ist demgegenüber nur teilweise spruchreif. Unmittelbar geplant ist eine praktische Zusammenarbeit hinsichtlich der aktuell in großer Zahl nach Mali zurückkehrenden bzw. vertriebenen (Arbeits-)MigrantInnen aus Libyen bzw. der Elfenbeinküste. Zudem ist eine Rundreise mit GenossInnen aus Mali angedacht – genauso wie eine neuerliche Karawane im Februar 2012.
Olaf Bernau/NoLager Bremen
Mehr Infos unter: www.afrique-europe-interact.net. Anfang Mai erscheint unter dem Titel “…denn wir leben von der gleichen Luft” eine 45-minütige Video-Dokumentation der Karawane, das Netzwerk kann gerne für Veranstaltungen angefragt werden.