Ein Fahrtenschreiber der Migration
Spuren einer Reise durch das innere Afrika
medico nachrichten 01/2011
Im Vorfeld des 10. Weltsozialforums Anfang Februar diesen Jahres in der senegalesischen Hauptstadt Dakar fuhren ca. 230 Aktivisten aus Europa und Afrika aus der malischen Hauptstadt Bamako in einer einwöchigen Autobusreise entlang der innerafrikanischen Routen der Migration nach Dakar, um gegen das EU-Grenzregime und für die Rechte von Migranten und Abgeschobenen zu protestieren. Ein Bericht von Christian Jakob, der als Journalist diese Reise begleitete.
Gogui besteht aus nicht mehr als einer Ansammlung windschiefer Hütten, zwischen der Sahara und dem Sahel, an der Grenze zwischen Mauretanien und Mali. Weit über eintausend Kilometer sind es bis an die Grenzen des Schengen-Raums und trotzdem hat die Europäische Union hier ein Schild aufgestellt: „Stoppt die irreguläre Migration. Sie ist eine Gefahr für die malische Gesellschaft“, steht darauf. Gogui ist einer der Orte, an denen sich die Strategien des europäischen Grenzregimes überlappen.
Europas Grenzposten in Afrika
Nach Süden, in Mali, verfolgt man den Weg der zivilgesellschaftlichen Vereinnahmung, der „Verantwortungspartnerschaft“. Mit „Bildungs-“ und Lobbyarbeit, mit Propaganda wird vor den Risiken der ungewissen Reise in den reichen Norden gewarnt: Gefängnis, Aids, der Tod im Mittelmeer, absurderweise sogar Schlangenbisse, all dies müsse fürchten, wer sich unerlaubt auf den Weg in Richtung Europa mache. Vor vier Jahren hat die EU für diese Warnungen ein eigenes Institut im malischen Bamako eröffnet: Das „Centre d’Information et de Gestion des Migrations“ (CIGEM). Und auch die europäischen Hilfsgelder an die malische Regierung, als Unterstützung zur Entwicklung etikettiert, sind zunehmend gekoppelt an ein Bekenntnis zur „gemeinsamen Verantwortung“ für die „Herausforderungen der Migration“. Nach Norden, in Mauretanien, wechselt die Strategie. Anders als in Mali ist in Mauretanien die EU-Grenzschutzagentur Frontex tätig. Das Land wird von Europa für die direkte Abwehr der Transitmigration in Richtung Kanarische Inseln und Marokko bezahlt. Mit Patrouillenbooten, Hubschraubern und Nachtsichtgeräten werden irreguläre Migranten aufgespürt und in eigens gebaute Internierungslager gesperrt, bevor sie – nach einer strapaziösen Reise auf der Ladefläche von LKWs der mauretanischen Polizei – an Orten wie Gogui „ausgekippt“ werden. Gogui war deshalb einer der Orte, an denen die „Karawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung“ Anfang Februar Station gemacht hat. In einer symbolischen Aktion erinnerte sie an all die Toten, die das Abschotten Europas bislang gefordert hat.
Mobilität als Alltagsphänomen
In einem Land wie Mali, in dem seit langer Zeit ungefähr ein Viertel der Bevölkerung im Exil lebt, die Rücküberweisungen von Exilanten von enormer Bedeutung für das Einkommen vieler Familien sind, ist Migration keine diskursive Randerscheinung. Die Forderungen der Karawane sind in Mali – wie in ganz Westafrika – politischer Mainstream. Mit ihren Videoteams und ihren als Bolzenschneider kostümierten Stelzenläufern dürfte die Buskolonne auf die Bevölkerung der Dörfer und Städte an denen sie Station machte, überaus exotisch gewirkt haben. Doch ihre politischen Forderungen erschienen den Menschen vertraut: Zu erklären brauchten die Aktivisten sie, anders als in Europa, nicht weiter. „Jede Person auf der Erde hat das Recht auf freie Wahl ihres Aufenthaltsortes. (…) Migranten aus der ganzen Welt müssen dieselben Rechte besitzen wie die Staatsangehörigen und Bürger des Wohnsitz- oder Transitlandes und in allen wesentlichen Bereichen des wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, sozialen Lebens sowie im Bildungswesen dieselben Verpflichtungen übernehmen.“ So beginnt die Charta von Gorée, die am 4. Februar beim „Welttreffen der Migranten“ auf der ehemaligen Sklaveninsel vor Dakar auch von Aktivisten der Karawane verabschiedet wurde. Doch dieses politische Programm wurde auf Ausplündedem Weg der Karawane durch Mali und Senegal immer wieder von den sozialen Realitäten herausgefordert. Sie musste eine Antwort finden auf die Ambivalenz zwischen dem bedingungslosen Eintreten für globale Bewegungsfreiheit und dem Wissen um die immer weiter anschwellenden Kosten für einen selbstbestimmten „Exit“. Alle, die da unterwegs waren, trugen dieses Wissen in sich: Die Aktiven der malischen Abgeschobenenverbände, die europäischen Aktivisten und die Migranten, die es nach Europa geschafft haben und nun mit der Karawane nach Afrika zurückgekehrt waren – auch, um von ihrem neuen Leben zu berichten: der Angst vor Abschiebung, dem Leben im Lager, Residenzpflicht und Asylbewerberleistungsgesetz. Doch konterkariert eine Warnung, die faktisch dasselbe benennt, wie die Propaganda des CIGEM, nicht jede Bemühung eines politischen Kampfes für globale Bewegungsfreiheit? Rokia Karembé, die Präsidentin der malischen „Féderation des Associations des Migrants“, war bei der Karawane dabei, auch in Gorée. Mehrfach hat sie als Mitglied von Delegationen mit Maliern in libyschen Abschiebeknästen gesprochen. Sie kennt die Geschichten von Familien, die mehrere Kinder im Meer verloren. „Als Mutter“, so sagte sie, müsse sie davor warnen, durch die Wüste zu gehen oder sich in ein Boot zu setzen. Auch Karim Sidibe saß zweimal in einem Boot. Beide Male hat es Schiffbruch erlitten, beide Male gab es Tote. Heute macht Sidibe, auch er war bei der Karawane dabei, eine wöchentliche Sendung im Lokalradio von Yanfolila. Dabei warnt er vor den Gefahren der Migrationsrouten und macht Telefoninterviews mit Leuten, die es nach Europa geschafft haben und davon berichten, dass es kein Eldorado ist. Doch weder Karambe noch Sidibe stellen das Recht auf Bewegungsfreiheit in Frage. So wie die Karawane über das Für und Wider von Migration rang, konnte sie zeigen, dass die EU mit ihren Propaganda-Schildern keinen Erfolg hat: Die Bevölkerung sieht die Gefahren, ohne die Mobilität zu denunzieren. Europa öffnet sich nach innen, gleichzeitig regiert es nach Afrika hinein und zwingt es dazu, seine Grenzen zu schließen. Die wirtschaftliche Ausplünderung des Kontinents durch Rohstoffraubbau und als Absatzmarkt subventionierter Güter geht dabei unvermindert weiter. Doch die Begegnungen während der Karawane machten klar: Das Abziehbild der letzten Jahre, nach dem junge Afrikaner der Parole „Europa oder der Tod“ verpflichtet sind, ist nicht zu halten. Viele Malier machten sich bei den Diskussionen für zirkuläre Migration stark: Einige Zeit nach Frankreich oder Europa gehen, das würde ihnen schon reichen.
Perspektiven der Solidarität
Doch der Kampf um bessere Lebensverhältnisse im eigenen Land stand ebenso auf ihrer Agenda. Der Versuch der Karawane, eine internationalistische Praxis zu entwickeln, erforderte vor allem einen Umgang mit extremer Armut als Bedingung politischen Handelns zu finden. Viele der afrikanischen Aktivisten hätten nicht nach Dakar mitfahren können, wenn nicht Bus, Übernachtungen und Essen gezahlt worden wären. Die Ressourcen, mit denen diese sozialen Schranken aufgefangen wurden, kamen aus dem Norden – über 40.000 Euro Spenden wurden gesammelt, insgesamt verschlang das Projekt fast 125.000 Euro. Den Partnern aus dem Süden musste klar gemacht werden, dass sich hieraus keine Ansprüche ableiteten: Die Kasse wurde gemeinsam verwaltet, ausgegeben haben das Budget vor Ort die afrikanischen Organisationen. Immer wieder wurden fundamentale Asymmetrien greifbar: Wenn afrikanische Aktivisten, gewohnt an ein Leben am Existenzminimum um Moskitonetze, Matratzen oder Essen streiten, auch wenn genug für alle da ist, während die Europäer im Zweifel immer noch auf private Versorgung zurückgreifen können. Dies galt es politisch zu übersetzen; etwa: keine rassistischen Bilder zuzulassen, wonach Afrikaner schnell hitzig würden. Der praktische Umgang mit diesen sozialen Widersprüchen ist der einzige Weg, um gemeinsam politisch handlungsfähig zu werden. Auch wenn die Zustände in Mali für viele der Europäer verstörend wirkten, sind apokalyptische Übertreibungen des Mangels unangebracht. Bamako als bloßen Ort des Überlebens zu horrifizieren, wird den Verhältnissen nicht gerecht. Lebensqualität ist multidimensional. Faktoren wie soziale Integration spielen hierbei eine wichtige Rolle – dies machte sich auch bei der Karawane immer wieder bemerkbar. Malische und senegalesische Fernsehsender, Radio und Zeitungen berichteten ausführlich über die Karawane. Vor allem eine Aktion vor dem senegalesischen Frontex-Büro in Dakar erregte viel Aufmerksamkeit – in dem Gebäude residiert auch der senegalesische Geheimdienst, noch nie war es gelungen, hier eine Demonstration durchzusetzen. Der Umstand, dass sich die Karawane aus verschiedenen malischen Organisationen, Afrikanern und Europäern zusammensetzte, wurde in Westafrika sehr genau registriert – so etwas gab es in der Form noch nie. Ebenso ungewöhnlich war, dass es gelang, ein überregionales Bündnis mit Aktiven aus vielen Teilen Malis aufzubauen. Auch das offensive Vorgehen – mit zum Teil unangemeldeten Aktionen an der französischen Botschaft, in der Wüste, an der Grenze und am Sitz von Frontex – wurde in der malischen und senegalesischen Öffentlichkeit mit positivem Interesse wahrgenommen. Insgesamt sahen die beteiligten Gruppen aus Mali die Karawane deshalb als wichtigen Beitrag zur Stärkung zivilgesellschaftlicher und bewegungspolitischer Strukturen in Mali.