Das „1991-er Syndrom“
Warum es in Mali mehr politische Freiheiten gibt als anderswo in Afrika
Von izindaba
„Nieder mit der Diktatur!“ schrien die Demonstrant_innen in den Straßen Bamakos, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Mali, als die Armee an jenem 23. März 1991 das Feuer auf die Menge eröffnete. Mindestens 200 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, starben im Kugelhagel oder verbrannten bei lebendigem Leib in einem Kaufhaus, wohin sie geflüchtet waren. Das Militärs hatte das Gebäude abgeriegelt und dann in Brand gesetzt.
Bereits am Vortag hatten die Auseinandersetzungen begonnen, als Student_innen für die Zahlung ausstehender Stipendien demonstrierten, Regierungsgebäude verwüstet wurden und die Armee mit Tränengas und Maschinengewehrfeuer antwortete. Außerdem hatten Gewerkschaften zu einem unbefristeter Generalstreik „bis zum Rücktritt des Diktators Moussa Traoré“ aufgerufen.
Am 26. März verhafteten Fallschirmjäger Präsident General Traoré, der sich 1968 an die Macht geputscht hatte. Mit seiner Einheitspartei wollte er die Gesellschaft bis in das kleinste Dorf kontrollieren. Zugleich stützte sich das Regime auf ein korruptes Patronage-System, dass den Parteigänger Traorés und seinem Clan einen gewissen Reichtum in einem Meer von Elend sicherte. Der Diktator selber zählte zum Zeitpunkt seines Sturzes zu den zehn reichsten Personen Afrikas: Er hatte über 2,5 Mia. US-$ auf ausländischen Konten.
Die Plünderung der Staatskasse wurde durch massive Repressalien gegen Oppositionelle begleitet. Bereits Ende der 60er Jahre war ein Arbeitslager für Strafgefangene mitten in der Wüste eingerichtet worden, aus dem kaum jemand lebend heraus kam.
Ab Mitte der 80er Jahre wuchs die Zahl klandestiner oppositioneller Zirkel. Ab 1989 mobilisierte das Vorbild der „Intifada à l'africaine“ in anderen afrikanischen Ländern immer größere Massen gegen das Regime. Der Unmut über mangelnde politische Rechte, über den Diebstahl der Staatskasse und über die von IWF und Weltbank aufgedrückten Strukturanpassungsmaßnahmen (Entlassung von Staatsangestellten, Kürzung der Sozialausgaben, Privatisierung von Staatsbetrieben, „Liberalisierung“ des Getreidemarktes etc.) wuchs rasant. Ab Januar 1991 spitzten sich die Konfrontationen zu.
Die Proteste wurden von einem breiten demokratischen Bündnis getragen: Vor allem Schüler_innen und Student_innen, aber auch Frauen und Arbeiter_innen. Eine besondere Bedeutung für die Militanz der Bewegung hatten die Jugendlichen, die jedes Jahr im Januar, wenn auf dem Land die Ernte zu Ende geht, in die Städte ziehen und Arbeit und Ausbildung suchen.
Das harte Vorgehen von Polizei und Militär richtete sich besonders gegen diese Jugendlichen. Bereits im Januar 1991 wurden mehrere bei einer Demo erschossen. Das führte sowohl zu einer Radikalisierung der Bewegung, wie auch zu einer breiten Solidarisierung anderer.
Nach dem Sturz des Diktators setzten junge Offiziere unter Führung des jetzigen Präsidenten Amadou Toumani Touré („ATT“) einen „Nationalen Rat der Versöhnung“ ein.
Damit gaben sich die Revoltierenden jedoch nicht zufrieden, die Mobilisierungen gingen weiter. In größeren Betrieben und Schulen fanden laufend Versammlungen statt, bei denen die Entwicklung diskutiert wurde. Über 1.500 Inhaftierte brachen aus Gefängnissen aus. Es wurde immer wieder gegen den Verbleib von Traoré-Leuten in Spitzenpositionen demonstriert, aber auch für die Abschaffung der (vom IWF durchgesetzten) Mehrwertsteuer, für höhere Löhne und für Stipendien.
Gezielt wurden Geschäfte von Kollaborateuren des alten Regimes geplündert und verwüstet. Einzelne Mitglieder der Traoré-Regierung wurden erschlagen. Betriebe wurden bestreikt, um die Entlassung des Direktors zu erwirken, wenn er Verbindungen zur alten Herrschaftsclique hatte. Fast täglich wurden Angehörige des Traoré-Clans verhaftet. Die Vergangenheit der Kandidat_innen für die anstehenden Wahlen wurde öffentlich durchleuchtet.
Die gesamte ehemalige Staatsspitze blieb bis zum Beginn des Gerichtsprozesses gegen sie im Juni 1992 hinter Gittern. Dieses Mammut-Verfahren wurde im ganzen Land live im Radio übertragen und mit Spannung verfolgt.
Die konsequente Entmachtung aller Personen, die Teil des alten Regimes waren, und die Verhinderung ihrer Re-Integration in das neue politische System macht die „demokratische Revolution“ von 1991 in Mali so einzigartig in Afrika.
Hinzu kommt, dass das Trauma des Massakers vom 23. März sich tief in das kollektive Bewusstsein eingebrannt hat. Kein Militär und keine Regierung könnte es heute wagen, Proteste mit Gewalt zu beantworten und den „Bluthund“ zu geben wie einst Traoré .
Diese beiden Momente haben nach 1991 ein roll-back verhindert. So existiert heute in Mali ein offenes politisches Klima mit einer Vielzahl von Selbstorganisationen und staatskritischen Initiativen. Politische Gefangene gibt es nicht, was selten ist in Afrika.
Die ökonomische Situation der Malier_innen hat sich jedoch nicht verbessert – nach wie vor zählen sie zu den Ärmsten der Welt.
Von: izindaba