Globale Solidarität als Herausforderung
Über Schwierigkeiten transnationaler Organisierung von unten
Von Transact
Das Netzwerk „Transact“ ist an unterschiedlichen transnationalen Projekten beteiligt – unter anderem an der von Afrique-Europe-Interact initiierten Karawane von Bamako nach Dakar. Dennoch gibt es auch innerhalb von Transact eine Vielzahl offener Fragen, Ambivalenzen und Differenzen. Transact hat deshalb ein Selbst-Interview geführt – die Fragen hat Transact Wien gestellt.
Wien: Vielleicht kommen wir am leichtesten ins Gespräch, wenn ihr kurz berichtet, mit welchen transnationalen Projekten ihr derzeit zu Gange seid.
Hanau: Für uns spielen so genannte Außengrenze-Projekte eine wichtige Rolle – quasi als Reaktion auf die ständige Ausweitung des EU-Grenzregimes. Neben einem „Border Monitoring Project“ an der Grenze zur Ukraine ist in diesem Zusammenhang unsere wichtigste Baustelle die Situation auf der griechischen Insel Lesbos. Beim letztjährigen NoBorder-Camp ist es dort zu fast schon schon unglaublichen Begegnungen mit Flüchtlingen gekommen, auch solchen, die gerade erst in Schlauchbooten gelandet waren. Zudem konnte die Schließung des bisherigen Internierungslagers „Pagani“ durchgesetzt werden, entsprechend sollen die Aktivitäten auf Lesbos bzw. in der Ägäis auch dieses Jahr fortgesetzt werden.
Bremen: In unseren antirassistischen Kämpfen müssen wir immer wieder feststellen, dass die gesellschaftliche Situation in den Herkunftsländern von Flüchtlingen und MigrantInnen weitgehend aus dem Blick gerät – der Druck im hier und jetzt ist einfach zu groß. Das ist nicht nur persönlich, sondern auch politisch äußerst unbefriedigend, und obendrein paradox. Denn natürlich ist das Recht auf Bewegungsfreiheit nicht unsere einzige Forderung, uns geht es auch um die Möglichkeit eines guten und würdigen Lebens weltweit, das heißt um das Recht, zu bleiben oder zu pendeln. Insofern sind wir froh, dass wir seit einiger Zeit in engem Kontakt mit der AME stehen, der „Assoziation der Abgeschobenen Malis“. Denn zusammen mit west- und nordafrikanischen Basis-Initiativen plant die AME, im Februar 2011 eine Karawane für Bewegungsfreiheit von Mauretanien oder Niger nach Dakar/Senegal zum dortigen Weltsozialforum durchzuführen. An dieser Karawane möchten wir uns mit einer größeren Gruppe aus Deutschland beteiligen – gemischt zusammengesetzt aus AktivistInnen mit und ohne Flucht- bzw. Migrationshintergrund. Konkret erhoffen wir uns davon, die in den letzten Jahren entstandenen Kontakte zu BasisaktivistInnen in Afrika ausbauen bzw. vertiefen zu können.
Berlin: Hinsichtlich der Westafrika-Karawane haben wir innnerhalb von transact! vor allem die Frage diskutiert, ob und auf welche Weise der Kampf um „climate justice“ in das Projekt integriert werden könnte. Hintergrund ist, dass der Klimawandel die ohnehin katastrophalen Verhältnisse in Afrika einmal mehr zuspitzen wird. Eigentlich ist das allgemein bekannt, trotzdem passiert herzlich wenig, so wie auch Hunger, Verschuldung oder fehlende Gesundheitsversorgung für große Teile der bewegungspolitischen Linken schon lange keine ernsthafte Rolle mehr spielen – vom Mainstream ganz zu schweigen. Wir glauben deshalb, dass der Klimawandel eine günstige Gelegenheit ist, sich der ohnehin überfälligen Herausforderung zu stellen, im größeren Stil transnationale Organisierungsprozesse zwischen südlichen und nördlichen BasisaktivistInnen anzugehen. Denn wenn überhaupt, dann dürfte es nur durch konkrete Kooperationen gelingen, globale Solidarität zum selbstverständlichen Bezugspunkt der metropolitanen Linken zu machen. Das hat sich auch während der Klimakarawane von Genf nach Kopenhagen gezeigt – unter anderem im Rahmen gemeinsamer Diskussionen darüber, was ein gutes Leben und somit gesellschaftliche Veränderung im Zeitalter des Klimawandels bedeuten.
Wien: Ok, das programmatische Profil dürfte klar geworden sein. Lasst uns also genauer gucken: Wie kommt ihr eigentlich dazu, derart locker eure Fühler an alle möglichen Orte auszustrecken, inzwischen sogar nach Afrika? Immerhin ist die Geschichte des linken Internationalismus alles andere als ruhmreich verlaufen.
Bremen: Stimmt, vor allem in den 1970er Jahren wurde extremer Mist gebaut! Wichtige Schlagworte sind beispielsweise „Glorifizierung nationaler Befreiungsbewegungen“, „Fetischisierung des bewaffneten Kampfes“, „antisemitisch aufgeladener Antizionismus“ oder „simplifizierende Gut-Böse-Weltbilder“. Umgekehrt sollten wir uns davor hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. So finden wir, dass die linke Unterstützung antikolonialer Befreiungsbewegungen im Kern richtig und notwendig gewesen ist – etwa in Algerien oder im südlichen Afrika. Hinzu kommt, dass die erwähnten Kritikpunkte alles andere als neu sind. Bereits die klassische Internationalismus- bzw. Solidaritätsbewegung hat diverse Häutungs- und Transformationsprozesse durchlaufen, und spätestens im Zeitalter der imperialen Globalisierung haben sich die Kräfteverhältnisse ohnehin verschoben: „Der Sieg im Volkskrieg“ ist passé – grundlegende Umbrüche in einzelnen Ländern wie zum Beispiel Bolivien sind zur Ausnahme geworden. Stattdessen stehen heute konkrete, häufig transnational geführte Kämpfe um politische und soziale Rechte im Vordergrund, etwa um den freien Zugang zu Wasser, zu Bildung, zu Land, zu gesundheitlicher Versorgung, zu sanitärer Infrastruktur, zu Mobilität, zu Saatgut und vieles mehr.
Hanau: Wir sehen das ganz ähnlich, vor allem glauben wir, dass wir uns nicht durch Fehler lähmen lassen sollten, die in der Vergangenheit gemacht wurden bzw. die in gewissen antiimperalistischen Nischen bis heute ihr Unwesen treiben. Denn unsere Gegner sind schon längst global aufgestellt – das gilt für transnationale Unternehmen und Banken genauso wie für die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die NATO oder zwischenstaatliche Vertragswerke wie das WTO-Abkommen. Damit müssen wir einen Umgang finden, wir sollten im globalen Rahmen Informationen austauschen, unsere Kämpfe koordinieren und vor allem an gemeinsamen Visionen arbeiten – Stichwort: Globalisierung von unten.
Wien: Was heißt das praktisch? Was müssen wir uns unter einer Koordinierung der Kämpfe vorstellen? Oder allgemeiner: Von welchen Kämpfen sprecht ihr und wie bestimmt ihr eure eigene Rolle darin?
Hanau: Ich glaube, das lässt sich anhand unserer letztjährigen Lesbos-Erfahrungen ganz gut illustrieren: Dass vor, während und nach dem NoBorder-Camp nahezu ständig in Pagani revoltiert wurde, hatte natürlich mit dem Wissen der InsassInnen um die Unterstützung von außen zu tun. Umgekehrt wäre es gar nicht so weit gekommen, hätten die Revoltierenden nicht zunächst einmal ihr Recht auf Bewegungsfreiheit in Anspruch genommen und trotz Frontex & Co. die Überfahrt nach Lesbos gewagt. Mit anderen Worten: Koordinierung der Kämpfe und somit globale Solidarität bedeutet, soziale Kämpfe in ihrer Autonomie anzuerkennen, also ernst zu nehmen, dass Menschen immer schon um ihr Überleben bzw. um größere Teilhabe am gesellschaftlichen Kuchen kämpfen – ganz gleich, ob dies mit oder ohne politische Artikulation einhergeht. Erst wo dies geschieht, können AktivistInnen ihren Teil zum Gelingen der Kämpfe beitragen, das heißt ihre 'komplementäre' Rolle als ÖffentlichkeitsarbeiterInnen, NetzwerkerInnen oder VerstärkerInnen spielen, manchmal sogar als KatalysatorInnen.
Bremen: Wobei an dieser Stelle hinzuzufügen wäre, dass es Situationen gibt, wo bestimmte Personen beide Rollen gleichzeitig ausfüllen oder wo sich das Verhältnis umdrehen kann, etwa wenn AktivistInnen in eigener Sache kämpfen oder wenn – wie letzten Sommer auf Lesbos – aus Flüchtlingen AktivistInnen werden. Und noch etwas: Transnationale Koordinierung der Kämpfe ist ohne materielle Unterstützung nicht zu haben. Schlicht deshalb, weil Menschen in ihren sozialen Kämpfen auf materielle Ressourcen angewiesen sind, ob für Essen, Zugtickets oder einen neuen Computer. Das ist in antirassistischen Kämpfen so, und gilt in der Zusammenarbeit mit Leuten aus dem Süden erst recht.
Berlin: …mhm, hier möchten wir mal einhaken: Eigentlich finden wir das alles richtig. Dennoch haben wir Bauchschmerzen, insbesondere was das Karawane-Projekt in Westafrika betrifft: Einerseits, weil wir es oft noch nicht einmal in unseren hiesigen Netzwerken schaffen, kontinuierliche Beziehungen mit selbstorganisierten Flüchtlingen und MigrantInnen aufzubauen. Warum also in die Ferne schweifen, anstatt zunächst einmal die transnationale Lücke zu Hause zu schließen?! Andererseits, weil wir fürchten, dass uns in Westafrika das postkoloniale Setting auf die Füße fällt. Was immer wir selber wollen, der materielle Unterschied ist einfach zu riesig, ein wirklich gleichberechtigter Kontakt ist unter solchen Bedingungen kaum möglich. Denn als AktivistInnen, die in Europa leben, sind wir automatisch in einer NGOartigen Position, das heißt wir dürften mit Erwartungen konfrontiert werden, die wir eigentlich nur enttäuschen können.
Hanau: Da haben wir ganz andere Erfahrungen gemacht: Ob auf Lesbos oder in Bleiberechtskämpfen, immer wieder ist es in den letzten Jahren gelungen, trotz erheblicher Unterschiede in der sozialen Ausgangssituation authentische und zum Teil auch stabile Beziehungen zu entwickeln. In Lesbos haben zum Beispiel nachts Flüchtlinge am Infopoint in Mitilini stundenlang davon berichtet, was sie in den Wochen und Monaten zuvor auf ihrer 'Reise' nach Lesbos erlebt hatten. Derlei Begegnungen setzen allerdings voraus, offen mit den Unterschieden umzugehen, also immer wieder Organisationsdruck und Tempo rauszunehmen und sich respektvoll auf die Realitäten des Gegenüber einzulassen. Denn nur so kann Vertrauen und langfristig gemeinsame Handlungsfähigkeit entstehen.
Bremen: Keine Frage, es ist nicht einfach, gesellschaftlich produzierte Unterschiede zu überbrücken. Umgekehrt sind Geldbeutel oder Pass nicht der einzige Maßstab für gleiche Augenhöhe. Maßgebliches Kriterium ist vielmehr die Vielfalt unserer jeweiligen Erfahrungen. Denn sie ermöglicht so etwas wie Gleichheit in der unmittelbaren Kommunikation, vor allem wenn es um Fragen kollektiver Kämpfe oder Zukunftsgestaltung geht. Wenn ich das sage, denke ich beispiesweise an Erfahrungen von Frauen im Alltagswiderstand gegen islamistische Warlords in Somalia, wie sie uns am Infopunkt in Lesbos erzählt wurden, oder an kommunitäre Eigentumsverhältnisse in Mali oder an andere Formen des Umgangs mit äußerer Natur in indigenen Communities. Es greift insofern auch zu kurz, transnationale Organisierung lediglich als bloße Notwendigkeit zu bestimmen. Vielmehr handelt es sich um spannende und horizonterweiternde Lernprozesse, also um die Herstellung hybrider Widerstandskulturen, was keineswegs mit hippiesker Esoterik verwechselt werden sollte!
Wien: Wie wollt ihr damit umgehen, dass zwar niemand die Notwendigkeit globaler Solidarität in Frage stellen dürfte, dass es unterm Strich jedoch um handfeste Interessenkonflikte geht – was bereits an kleinsten Dingen deutlich wird wie etwa der ewigen Debatte ums Fliegen?
Berlin: Klar, das ist ein riesiges Problem – vielleicht sogar das größte. Insofern sollte es sich von selbst verstehen, dass der moralische Vorschlaghammer an diesem Punkt nicht weiterführt, zumal viele Menschen durchaus nachvollziehbare Gründe für ihre Haltung haben: Sei es, dass sie in materieller Hinsicht selber mit dem Rücken zur Wand stehen oder dass die Wucht des globalen Problemdrucks – vor allem im Zusammenhang mit dem Klimawandel – absolut überfordernd, ja demotivierend wirkt. Und doch, es gibt keinen einzigen benennbaren Grund, weshab große Teile der Menschheit unter oft nur schwer vorstellbaren Bedingungen um ihr Überleben kämpfen müssen. Der diesbezüglichen Herausforderung können wir uns als bewegungsorientierte Linke nicht ewig entziehen, auch wenn das hierzulande mit Veränderungen einhergehen sollte, die – jedenfalls in einem Schritt – als schmerzlicher Einschnitt oder Verzicht empfunden werden könnten.
Wien: Nun, wir müssen hier aufhören, es ist klar, dass vieles noch gar nicht angesprochen ist, etwa das Verhältnis zu NGOs oder zu Regierungen wie in Bolivien, die Räume für emanzipatorische Prozesse eröffnen, aber dazu ein andermal…
Quelle: Transact Zeitung Nr. 3 – transact