Der Afrikanische Gast
Von Bernard Schmid
Frankreich will seine Wirtschaftspräsenz in den ehemaligen afrikanischen Kolonien stärken. Darüber wurde auf dem Afrika-Frankreich-Gipfel in Nizza diskutiert. Afrikanische NGO und französische Sans Papiers versuchten, mit einem Gegengipfel und einem Fußmarsch von Paris nach Nizza auch auf andere Themen aufmerksam zu machen.
Alles muss sich ändern, damit es im Grunde so bleibt, wie es ist: Diese Weisheit, die dereinst der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa formulierte, gilt auch für die Beziehungen zwischen Frankreich und dem afrikanischen Kontinent. Der Afrika-Frankreich-Gipfel, der am Montag und Dienstag zum 25. Mal stattfand und in Nizza tagte, lieferte zu Anfang dieser Wochen einigen Illustrationen dafür.
Alle afrikanischen Staaten waren auf ihm vertreten, also nicht nur die Länder der früheren kolonialen Einflusszone Frankreichs auf dem Kontinent, sondern auch jene des englisch- und des portugiesischsprachigen Afrika – mit zwei Ausnahmen. Zimbabwe blieb ihm fern, weil sein Präsident Robert Mugaba zur unerwünschten Person erklärt worden war und in der Europäischen Union einem Einreiseverbot unterliegt, und Madagaskar, weil das Land mitten in einer tiefen Staatskrise steckt. Es waren die beiden einzigen von 54 afrikanischen Ländern, die keine Vertreter entsandt hatten. 38 waren durch ihren Staats- oder Regierungschef in Person vertreten.
Das Ereignis zog also mehr hochrangige Repräsentanten denn je an. Erstmals seit dem Völkermord an den Tutsi in Rwanda, an dem Frankreich auf der Seite des alten, im Juli 1994 gestürzten Regimes mitgewirkt hatte, war auch die seit sechzehn Jahren amtierende rwandische Führung in Nizza vertreten. Staatspräsident Paul Kagamé war persönlich angereist. Noch vor wenigen Jahren hatte Kagamé die französisch-afrikanischen Gipfel als „neokoloniale Maskerade“ bezeichnet.
Allerdings waren seine Amtskollegen aus den Nachbarländern Demokratische Republik Kongo, Joseph Kabila, und Burundi, Pierre Nkurunziza, nicht persönlich gekommen. Burundi beispielsweise steckt mitten in einem Wahljahr, hat soeben die Kommunalwahlen hinter und die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen kurz vor sich. Die von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy geplante Kaminrunde zur Situation in der zentralafrikanischen „Region der Großen Seen“ fiel also aus. Dennoch ist die seit November, vor allem jedoch seit Sarkozys Besuch in Rwanda im Februar dieses Jahres beschlossene offizielle „Aussöhnung“ nunmehr endgültig besiegelt. Diese soll aus Pariser Sicht dazu führen, dass aus Kigali keine deutlichen Vorwürfe mehr bezüglich Frankreichs Rolle beim Genozid von 1994 laut werden. Kagamés Anreise nach Nizza ist en wichtiger symbolischer und politischer Sieg für Frankreich. Um den Preis, nunmehr den bislang unbehelligten Aufenthalt von rwandischen Völkermordtätern in Frankreich – das ihnen lange Jahre als ruhiges Hinterland diente – zu stören. Am vergangenen Mittwoch wurde der Arzt und mutmaßliche Völkermordtäter Eugène Rwamucyo, der seit November in Belgien wohnhaft war, bei der Beerdigung eines Freundes im Pariser Umland verhaftet. Bis im Herbst letzten Jahres hatte Rwamucyo noch ungestört in Frankreich gelebt, wo ein Abgeordneter der Regierungspartei UMP und das Kabinett des Innenministers sich aktiv für die Erteilung eines Aufenthaltstitels für ihn eingesetzt hatten. Doch im November wurde Rwamucyo durch eine Krankenschwester in der Klinik von Maubeuge, wo er tätig war, enttarnt. Daraufhin hatte er sich ins Nachbarland abgesetzt. Nun ist der Boden in Frankreich für rwandische Genozidtäter anscheinend wirklich heiß geworden.
Der Gipfel von Nizza ist der erste seiner Art seit dreieinhalb Jahren, die letzte Ausgabe hatte im Februar 2007 in Cannes stattgefunden. Ursprünglich war an einen Gipfel zu Anfang des Jahres im ägyptischen Seebad Scharm el-Scheikh eingeladen worden, doch Ägyptens Führung hätte den sudanesischen Präsidenten Omar el-Beschir eingeladen, was den Ländern der Europäischen Union als untragbar galt.
Das Ereignis in Nizza fällt zusammen mit den Feiern zum fünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit von 14 afrikanischen Ex-Kolonien Frankreichs, die alle im Jahr 1960 ihre formelle Souveränität erlangten. Es sei schon bizarr, dass diese Geburtstag der vorgeblichen „Emanzipation“ der afrikanischen Länder in Frankreich stärker begangen werde als in den früher kolonisierten Ländern selbst, merken afrikanische Oppositionelle oder Intellektuelle in diesen Tagen immer wieder an. Tatsächlich wurde auf französischem Boden zu Anfang des Jahres mit großem Trara ein Festkomitee eingesetzt, das vom früheren Justizminister unter Jacques Chirac, Jacques Toubon, geleitet wird. Um dieses Festkomitee, das einige Debatten, Showveranstaltungen und Fernsehsendungen ausrichtete, gab es im März und April eine Polemik, weil es beinahe kein Budget besitzt. Symbolisch bedeutender ist aber die Auswahl seiner Führungsperson. Denn Toubon ist nicht nur Justizminister gewesen, sondern ist auch eine Schlüsselperson der so genannten Françafrique.
Noch vor einigen Jahren war es quasi tabu, die neokolonialen Schattenseiten dieser Beziehungen öffentlich zu benennen. Die Kritiker hatten dafür einen Begriff gewählt, La Françafrique, den der – inzwischen verstorbene – Schriftsteller und NGO-Aktivist François Verschave um die Mitte der neunziger Jahren prägte. Verschave hatte ihn unter Rückgriff auf eine alten Ausspruch des pro-französischen Diktators der Côte d’Ivoire von 1960 bis zu seinem Tod 1993, Félix Houphouët-Boigny, formuliert. Letzterer hatte dadurch die angebliche unverbrüchliche Liebe der Afrikaner zur früheren Kolonialmacht zum Ausdruck bringen wollen. Kritische NGOs und Solidaritätsvereinigungen wie die von Verschave gegründete Nichtregierungsorganisation Survie benutzten den Begriff eher, um eine anhaltende Kontrolle seiner früheren Kolonien durch Frankreich zu beschreiben.
Von herrschender Seite und bürgerlichen Organen wurde dies dagegen als Verschwörungstheorie abgetan, oder als Aufwärmen oller Kamellen aus früheren historischen Perioden bezeichnet. Doch der Umgang mit dem Begriff und dem Konzept hat sich gewandelt. In den letzten zwei bis drei Jahren haben fast alle wichtigen Medien in Frankreich die Vokabel Françafrique mehrfach benutzt – aber fast immer, um just in dem Moment, wo man ihn gebrauchte, hinzuzufügen, jetzt sei es aber endgültig vorbei mit dieser Art von postkolonialer Sonderbeziehung. Als der 42 Jahre lang autokratisch regierende Präsident der einwohnerarmen Erdölrepublik Gabun, Omar Bongo – der im Laufe seines Lebens fast alle etablierten politischen Parteien in Frankreich finanziert hatte – im Juni 2009 verstarb, schrieben etwa viele bürgerliche Zeitungen, nunmehr sei eines Schlüsselfigur der Françafrique verstorben, und auch mit dem Phänomen selbst sei es bald vorbei. Seit der jüngsten Debatte um den fünfzigsten Jahrestag taucht der Begriff erneut auf – wieder verbunden mit der Aussage, dieses Beziehungsgeflecht liege nunmehr in seinen letzten Zuckungen. Der Umgang mit dem Konzept ist unverkrampft geworden, er wird inzwischen locker auch im herrschenden Vokabular zitiert. Verschwunden ist die postkoloniale Kontrolle über Afrika dadurch nicht.
Toubon etwa spielte noch in jüngerer Vergangenheit eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung von Diktaturen, deren Führungspersonal durch Frankreich ausgewählt und ausgerüstet wurde, um eine – indirekte – Kontrolle besonders über rohstoffreiche Länder aufrecht zu erhalten. So, wie es seit 1960 ununterbrochen der Fall war. Im Jahr 1997 kehrte der – fünf Jahre zuvor demokratisch abgewählte – vormalige Autokrat der erdölreichen Republik Congo-Brazzaville, Denis Sassou-Ngessou, durch einen äußerst blutigen Putsch an die Macht zurück. Dass Frankreich und besonders dessen führender Ölkonzern Elf – inzwischen ein Teil des Konzerns Total – ihn dabei ausgerüstet hatten, schrieb im Oktober jenes Jahres auch ein Teil der französischen Presse unverblümt. Im Jahr 2002 ließ Sassou-Ngessou sich bei Wahlen, die allgemein als hochgradig manipuliert betrachtet wurden, im Amt bestätigen. Toubon und sein Parteifreund Patrick Gaubert reisten als „Wahlbeobachter“ vor Ort. Dort mussten die internationale Beobachter feststellen, dass in vielen Wahlbüros die Urnen nicht verschlossen waren, und die Verwaltung jederzeit hinein fassen konnte. Toubon kommentierte trocken, es sei nun einmal „hierzulande schwieriger, ein Vorhängeschloss zu finden, als in einem Pariser Kaufhaus“. Toubon und Gaubert bestätigtem dem Regime, die Wahlen seien angeblich korrekt verlaufen. Alle Welt weiß, dass die Interessen des Familienclans von Sassou-Ngessou enger mit jenen Frankreichs als denen der kongolesischen Bevölkerung verbunden sind: Der Präsident und seine Sippe verfügen über 113 Bankkonten in Frankreich.
Und in Bälde wird es noch besser kommen. Denn zum Nationalfeiertag am 14. Juli werden die Präsidenten und Truppenteile von vierzehn afrikanischen Staaten, die früher von Frankreich kolonisiert werden, bei der Militärparade auf den Champs-Elysées mit aufmarschieren. Dabei werden auch die so genannten Cobras – Abkürzung für Combattants de Brazzaville -, eine nach dem Putsch von 1997 in die kongolesische Armee integrierte brutale Söldnertruppe, mit von der Partie sein. Sie hatten beim Vorrücken Sassou-Ngessous gegen den gewählten Präsidenten Pascal Lissabou eine wichtige Rolle gespielt, und die Zivilbevölkerung in den Kampfzonen massakriert. Dass 14 afrikanische Staatschefs – von ihren Oppositionellen verächtlich als roitelets (Kleinkönige, von den Kaisers Gnaden) bezeichnet – auf den Champs-Elysées aufmarschieren, dürfte im übrigen das beste Dementi für die Behauptung von der „Unabhängigkeit“ ihrer Staaten sein.
Nicht alle afrikanischen Staatschefs sind so gefügig wie die der französischsprachigen Einflusssphäre. In der Nacht vom Sonntag zum Montag, beim informellen Treffen vor Eröffnung des Gipfels, gab es heftigen Streit: Die Staaten des englischsprachigen Afrika, wie Tanzania und Südafrika, forderten lautstark eine bessere Vertretung des Kontinents im UN-Sicherheitsrats, wo die 54 afrikanischen Ländern insgesamt nur über drei Sitze als nicht ständige Mitglieder verfügen.
Der diesjährige Gipfel, zu dem sie alle anreisten, stand im übrigen weitgehend im Zeichen der Wirtschaft. Erstmals nahmen hochrangige Wirtschaftsdelegationen – 80 Unternehmenschefs aus Frankreich und 150 aus verschiedenen afrikanischen Ländern – offiziell am Gipfel teil. Einen Teil des Montags nahm eine Diskussion über eine „Charta“, eine Ehrenkodex für die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards, durch in Afrika tätige Unternehmen ein. Dabei handelt es sich freilich um einen Propagandagag der französischen Industrie, die das Dokument selbst verfasst hat. Seit Jahren standen ihre Firmen in der Kritik – Total wegen der massiven Umweltzerstörung in Nigeria, der französische Holzkonzern Rougier wegen des Kahlschlags in Kamerun und zum Teil in Gabun, oder der Transportkonzern Bolloré wegen seiner monopolistischen Praktiken in allen westafrikanischen Häfen. Nunmehr glauben sie, die Parade gefunden zu haben, in Form eines Katalogs freiwilliger Selbstverpflichtungen. Darüber wird nun in den Medien eifrig kommuniziert.
Einige Änderungen sind aber tatsächlich zu verzeichnen. Seit 2002 etwa entwickelte die internationale NGO-Kampagne Publish what you pay erheblichen Druck. Sie möchte Firmen wie etwa in Afrika tätige Ölkonzerne dazu zwingen, die von ihnen an örtliche Regimes bezahlten Summen offen zu legen. Einerseits, um zu vermeiden, dass im Zusammenspiel zwischen korrupten Diktaturen und den Konzernen jeweils zu niedrige Rohstoffpreise – zum Schaden der Ländern, zum Nutzen der Bezieher dicker Schmiergeldzahlungen – berechnet werden. Dies war Jahrzehnte lang in fast allen Erdölstaaten des Kontinents der Fall. Zum Anderen soll der Verwendung der Einnahmen innerhalb der Länder nachgespürt werden.
So berichtet Brice Makosso, der vorige Woche zu einem französisch-afrikanischen Gegengipfel von Bürgerrechtlern in der Pariser Vorstadt Aubervilliers anreiste, von seiner Tätigkeit als Aktivist der Kampagne in Congo-Brazzaville. Vor 2003, so Makosso, wurden die Öleinnahmen grundsätzlich nicht als Staatseinnahmen verbucht, sondern direkt auf Konten des Präsidenten im Ausland einbezahlt. Seitdem die Kampagne Druck entwickeln konnte und auch die britische Regierung unter Tony Blair sich ihr offiziell anschloss, werden die Ölgelder nunmehr erstmals offiziell in den kongolesischen Staatshaushalt integriert. „Jetzt beginnt der konkrete Kampf vor Ort, mit den Leuten in den Stadtteilen“, fügt Makosso hinzu: Früher verschwanden die Gelder ungefragt in den Taschen von Regimefunktionären. „Jetzt wird ihr Verbleib dadurch gerechtfertigt, dass etwa in jenem Stadtteil eine Schule errichtet werde. Dies erlaubt es uns, die örtliche Bevölkerung zu organisieren, um durch Protest Druck zu entfalten: Wo ist denn nun die Schule, die Ihr uns versprochen habt, von der wir aber keine Spur sehen?“ Beim letzten Gegengipfel zur Afrikapolitik, der in Frankreich stattfand, war Brice Makosso noch in Pointe-Noire unter Hausarrest gestellt worden. In diesem Jahr konnte er anreisen. Die Dinge ändern sich langsam, aber manchmal ändert sich doch etwas.
Druck auszuüben versuchen auch die sans papiers, die „illegalisierten“ Migranten in Frankreich, von denen viele aus afrikanischen Ländern stammen. Seit Oktober befinden sich 6.000 von ihnen ununterbrochen im Streik, um ihre „Legalisierung“ zu erreichen, prallen aber vielerorts an einer eisenharten Haltung der Regierung und der Behörden ab. Etwa 80 von ihnen, zusammen mit fünfzehn Personen aus der Unterstützerszene, marschierten wochenlang quer durch Frankreich, um von Paris aus Nizza zu erreichen. Überall, wo sie durchkamen – sie legten 35 bis 40 Kilometer pro Tag zurück, zum größeren Teil zu Fuß und zu einem Drittel mit dem Zug -, wurden Unterstützungsveranstaltungen und Demonstrationen unterstützt. Die französische Linke, Solidaritätsinitiativen und zum Teil Gewerkschaften organisierten sich dafür vor Ort. Am kommenden Samstag wird zudem in Paris, anlässlich ihrer Rückkehr, eine Demonstration in der Hauptstadt stattfinden.
Am Montag haben sie Nizza erreicht. Sie wollen die versammelten Staatschefs auf ihre Lage aufmerksam machen. Und sie wollen erreichen, dass die konsularischen Vertretungen der afrikanischen Staaten keine „diplomatischen Passierscheine“ mehr ausstellen, die es den Behörden Frankreichs erlauben, auch Personen ohne gültige Reisedokumente – mangels vorhandener Ausweispapiere – dennoch abzuschieben. Die Konsulate der meisten afrikanischen Länder verhalten sich dabei sehr gefügig gegenüber französischen Forderungen. Im Gegensatz etwa zu jenen mehrerer Staaten Lateinamerikas, seitdem deren Linksregierungen – allen voran jene Ecuadors unter Rafael Correa – vor anderthalb Jahren erklärten, dass die bei Abschiebungen unerwünschter Immigranten aus Europa grundsätzlich nicht länger kooperieren.
Die meisten afrikanischen Potentanten reagierten bis Redaktionsschluss nicht auf die Forderungen der Protestmarschierer. Die Regierung des westafrikanischen Mali zeigten sich hingegen bereit, die protestierenden Sans papiers – unter ihnen einige ihrer Landsleute – zu empfangen. Mali, das zudem eines der wenigen positiven Beispiele für eine gelungene Demokratisierung „von unten“ ist, seitdem die Bevölkerung im Frühjahr 1991 den Diktator Moussa Traoré verjagte, hat in den letzten Jahren immer wieder französischem Druck zur „Rücknahme“ unerwünschter Einwanderer widerstanden. Ein halbes Dutzend mal wurde in den letzten Jahren die Unterzeichnung eines „Rücknahmeabkommens“ von französischer Seite angesetzt – und durch Mali verweigert. Vor Ort bestehen mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen, die zum Thema arbeiten, zwangsrückgeführte Migranten und die Behörden erheblich unter Druck setzen.
Am Montag Nachmittag erklärte auch Denis Sassou-Ngessou, er habe „ein offenes Ohr“ für die Anliegen der Sans papiers. Aus dem Munde des kongolesischen Potentanten ist dies zwar reine Demagogie. Es belegt aber, dass die Aktion der „Illegalisierten“ breite Aufmerksamkeit erwecken konnte.
Quelle: Jungle Word 22, 3. Juni 2010