27. August 2020 | Stellungnahme: Zum Umsturz und zur aktuellen Situation in Mali - Stimmen aus der Zivilgesellschaft
Fokus Sahel ist ein Netzwerk verschiedener NGOs, Organisationen und Netzwerke, die mit unterschiedlichen Partnern vor allem in Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad zusammenarbeiten. Afrique-Europe-Interct ist ebenfalls an Fokus Sahel beteiligt und trägt die vorliegende Stellungname mit.
Am 18. August 2020 trat Präsident Ibrahim Boubacar Keita sowie die gesamte Regierung Malis nach einer Intervention aus den Reihen des Militärs zurück. Das „Comité National pour le Salut du Peuple” (CNSP – „Nationales Komitee zur Rettung des Volkes”) übernahm unter Colonel Assimi Goita die Regierungsgeschäfte und erklärte, das Land durch eine Transitionsphase hin zu Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu führen. Vorausgegangen waren seit Juni anhaltende Massenproteste der Bewegung M5-RFP („Bewegung des 5. Juni / Sammlung der Patriotischen Kräfte“), einer breiten Koalition aus Zivilgesellschaft, politischer Opposition und einer Sammlungsbewegung um den einflussreichen Prediger Mahmoud Dicko (CMAS – „Coordination des mouvements, associations et sympathisants“). Während die M5-RFP anfangs vor allem Wahlfälschung, Korruption und weitreichende Missstände in der Regierungsführung kritisierte, forderte sie später den Rücktritt des Präsidenten. Es kam wiederholt zu Versuchen, diese Proteste durch massive Polizeigewalt niederzuschlagen, dabei wurden mindestens 14 Menschen getötet und über hundert verletzt.
Demgegenüber verlief der Umsturz nahezu unblutig. Trotz einer generellen, von Fokus Sahel geteilten Ablehnung militärisch erzwungener Machtwechsel erkennen wir an, dass eine große Mehrheit der Malier*innen sich erleichtert darüber äußert, dass die politische Blockade überwunden wurde. In den vergangenen Tagen haben bei Fokus Sahel mitwirkende Organisationen zahlreiche Lageeinschätzungen und Stimmungsbilder von zivilgesellschaftlichen Akteuren aus dem Sahel erhalten, meist aus Partnerorganisationen und akademischen Kreisen. Diese betonen, dass die Lage im Land ruhig sei, es herrsche Aufbruchstimmung. Angesichts der prekären Sicherheitslage, gravierender Governance-Probleme und einer weitreichenden, durch Covid19 verschärften humanitären Krise begreifen viele Malier*innen die Machtergreifung der Militärs nicht als illegitim, sondern eher als politischen Durchbruch, der umsetzt, was die Massenproteste seit Monaten forderten. Die Militärregierung wird sich nun daran messen lassen müssen, ob und wie sie ihre Ankündigungen hinsichtlich eines politischen Neuanfangs und eines konstitutionellen Reformprozesses unter Beteiligung von politischen Parteien und Zivilgesellschaft umsetzen wird. Die offizielle Erklärung des CNPS, ein 15-Punkte Plan („feuille de route“1) sichert u.a. den Respekt des Friedensabkommens von Algier zu, ebenso die Aufarbeitung begangener Menschenrechtsverletzungen unter dem alten Regime, und die Einhaltung internationaler Abkommen. Zudem soll kein Mitglied der Übergangsregierung bei den kommenden Wahlen als Kandidat*in für politische Ämter antreten dürfen. Auch wenn es noch keinen bestätigten Zeitplan dafür gibt, ist es wichtig, dass Mali nicht durch Druck aus dem Ausland zu (vor)eiligen Wahlen genötigt wird – die Aufarbeitung der Missstände der vergangenen Regierung, sowie die interne Neuorganisation politischer Parteien braucht Zeit, die dem Land gewährt werden sollte.
Von der internationalen Gemeinschaft wurde die Machtergreifung durch das Militär weitestgehend verurteilt, auch wenn inzwischen – neun Tage nach dem Rücktritt des Präsidenten – kaum noch eine Wiedereinsetzung der Regierung Keita gefordert wird. Die ECOWAS verhängte umfassende wirtschaftliche Sanktionen sowie Grenzschließungen. FONGIM (ein Zusammenschluss internationaler NGOs in Mali) weist in einem Communiqué auf die gravierenden möglichen Folgen dieser Sanktionen hin. FONGIM appelliert an die ECOWAS und die internationale Gemeinschaft, sicherzustellen, dass die Sanktionen die humanitäre Krise im Land nicht verschlimmern und die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung nicht einschränken. Gefordert wird daher auch, humanitäre Projekte und Hilfslieferungen von den Sanktionen auszuklammern.
Wir teilen die Skepsis vieler Partner*innen im Sahel hinsichtlich der wesentlichen Frage, ob die aktuelle Militärregierung den angekündigten Übergangsprozess tatsächlich engagiert umsetzt. Es bleibt ebenfalls abzuwarten, welche militärischen und politischen Kräfte versuchen werden, die jetzige Situation für ihre eigenen Agenden auszunutzen. In jedem Fall wird Mali auf lokale und nationale Kräfte setzende internationale Unterstützung brauchen, um die tiefe politische, gesellschaftliche und humanitäre Krise zu überwinden.
Wir appellieren an die Bundesregierung und die Europäische Union, in ihrer Politik gegenüber Mali folgende Positionen und Forderungen aus der malischen Zivilgesellschaft zu berücksichtigen:
- Den offenkundigen Willen großer Teile der malischen Bevölkerung zu respektieren und sich nicht für eine Wiedereinsetzung der gestürzten Regierung einzusetzen, zumal Ibrahim Boubacar Keita ausdrücklich erklärt hat, nicht mehr für das Präsidentenamt zur Verfügung zu stehen.
- Die aktuelle Situation als Chance zu betrachten, die es Mali ermöglichen kann, politischen Stillstand und Kontrollverlust sowie das dramatische Abgleiten in immer neue Gewaltspiralen zu überwinden.
- Das eigene Engagement in Mali auf allen Ebenen kritisch zu überprüfen, da der Kollaps vorhersehbar und vermeidbar gewesen wäre. Dazu gehört auch, anzuerkennen, dass Ertüchtigung (Militärkooperationen, die sich auf Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe richten) und Truppenentsendungen keinen nachhaltigen Frieden in Mali gebracht haben. Stattdessen sollten in der zukünftigen Kooperation zivile Friedens- und Dialoginitiativen in den Mittelpunkt friedenspolitischer Bemühungen gestellt werden. Gleichwohl ist zu klären, wie bzw. durch wen der Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet werden kann.
- Die malische Übergangsregierung in die Pflicht zu nehmen, in einem friedlichen Übergangsprozess – unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft – politische und institutionelle Reformen inklusive einer Verfassungsreform so zu gestalten, dass sie die Bedürfnisse der Bevölkerung in den Vordergrund stellen. Dafür sollten die Ergebnisse des « Dialogue National Inclusif » (2019), der « Conférence d'Entente Nationale » (2017) und des Friedensvertrags von Algier (2015) die Grundlage bilden. Ein klarer Fahrplan und ein realistischer Zeitrahmen sind dabei zwingend erforderlich. Die Übergangsregierung muss einen Schutz der Menschenrechte garantieren und Verantwortliche von vergangenen Menschenrechts-verletzungen zur Verantwortung ziehen.
- Auf eigene Sanktionen, wie Aussetzung von Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, zu verzichten und sich dafür einzusetzen, dass durch die ECOWAS erlassene wirtschaftliche Sanktionen und Grenzschließungen unverzüglich aufgehoben werden, da sie die humanitäre Notlage in Mali verschärfen. Allgemeine Wirtschaftssanktionen sind nicht zielführend, weil sie die verarmte Bevölkerung negativ treffen. Sanktionen müssten sich ggf. gezielt auf die Machthaber und deren Umfeld richten, um Druck auszuüben, die Machtübergabe an demokratisch legitimierte zivile Strukturen vorzubereiten und umzusetzen.
- In der zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit durch mehr Kontrolle und Transparenz bei der Verwaltung der Mittel deren Veruntreuung vorzubeugen. Sollte sich herausstellen, dass veruntreute Gelder in Europa angelegt wurden, sind Maßnahmen zu ergreifen, diese an den malischen Staat zurückzuführen.
- Unterstützung anzubieten, welche die malische Wirtschaft stärkt und bessere Einkommens-möglichkeiten für die Bevölkerung schafft. Dies sollte auch eine Revision sowie eine substanzielle finanzielle Aufstockung der Entwicklungszusammenarbeit umfassen, unter besonderer Berücksichtigung der Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung von der Land- und Viehwirtschaft lebt.
Diese Stellungnahme gibt im Wesentlichen Standpunkte malischer zivilgesellschaftlicher Akteure aus Nichtregierungsorganisationen und akademischen Kreisen im Umfeld der Mitwirkenden von Fokus Sahel wieder. Nicht alle Mitgliedsorganisationen des Netzwerks Fokus Sahel tragen die Inhalte
und alle Forderungen der Stellungnahme mit. Informationen zum Netzwerk finden Sie auf unserer
Webseite: www.fokussahel.de
Kontakt: Grit Lenz, Koordinatorin Fokus Sahel,
lenz@fokussahel.de Tel: 030-68999420 / 0178-1024811