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27. April 2020 | Wer sich zu Militäreinsätzen im Sahel äußert, sollte sich auch für den Sahel interessieren

Antworten von Afrique-Europe-Interact an die Informationsstelle Militarisierung [27.04.2020]

Vorbemerkung: Die Sahelländer Mali, Niger und Burkina Faso sind seit 2012 zunehmend von einer Vielzahl unterschiedlicher Gewaltdynamiken betroffen. Das transnationale Netzwerk Afrique-Europe-Interact ist in allen drei Ländern mit Mitgliedsgruppen vertreten. Schwerpunkt ist Mali, wo sich seit 2010 eine enge Zusammenarbeit zwischen malischen und europäischen Initiativen entwickelt hat. In diesem Sinne hat sich Afrique-Europe-Interact seit 2012 immer wieder zu den verschiedenen Konflikten in der Sahelzone öffentlich geäußert. Unsere letzte Intervention erfolgte im Februar 2020 in Gestalt eines offenen Briefes an die Bundesregierung – dies vor allem mit Blick auf die vom Bundestag jährlich zu entscheidende Frage, ob bzw. wie sich die Bundeswehr weiterhin an der UN-Mission MINUSMA in Mali beteiligen sollte. In diesem Brief haben wir vor allem ausgeführt, dass die verschiedenen Konfliktlagen in Mali ökonomische, politische und soziale Ursachen hätten und insofern nicht militärisch gelöst werden könnten. Entsprechend weisen wir auch darauf hin, dass die militärischen Maßnahmen im Sahel drastisch zu reduzieren und zudem ihr konkreter Zuschnitt zugunsten von MINUSMA und G5 zu verändern sei (die G5 bzw. genauer die G5 Force conjointe setzen sich aus den Armeen der G5-Sahelländer Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad zusammen).

Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen hat am 16.03.2020 auf unseren Brief an die Bundesregierung mit einem Text unter dem Titel „Grundsätzliches Missverständnis der deutschen Außenpolitik in Mali. Afrique-Europe-Interact und das Phantasma militärisch gestützter Selbstermächtigung“ reagiert. Hierauf hat die Mali-AG von Afrique-Europe-Interact am 27.03.2020 eine erste kurze Antwort formuliert – einschließlich der Ankündigung, dass wir unsere Position im Juni nochmal ausführlicher begründen werden, insbesondere hinsichtlich der Frage, was für uns transnationale Zusammenarbeit bedeutet. Derweil hat die IMI am 20.04.2020 mit einem weiteren Text nachgelegt – das ist der Grund weshalb wir uns ebenfalls ein zweites Mal mit einem Debattenbeitrag zu Wort melden, auch wenn wir damit gewisse Vorgriffe auf den schon angekündigten Juni-Text machen müssen.

Wer Interesse an den bislang veröffentlichten Briefen und Diskussionsbeiträgen hat (inklusive der dort veröffentlichten Hinweise auf weitere Studien, Texte etc.), sei auf die jeweiligen Webseiten verwiesen:

Afrique-Europe-Interact: https://afrique-europe-interact.net/1832-0-Aktivitten-Europa.html

IMI: https://www.imi-online.de/category/regionen/afrika/nordafrika/sahel/

Zur Sache selbst:

1. Wir möchten mit der Überschrift des jüngsten IMI-Textes beginnen – denn diese lautet: „Wer Militäreinsätze unterstützt, muss sich auch für deren Dynamiken interessieren.“ Genau betrachtet zeigt bereits diese Überschrift, dass es der IMI nicht um eine echte Debatte geht, sondern darum, Afrique-Europe-Interact einer vorgeblichen politischen Grenzüberschreitung zu überführen. Denn in dem von der IMI kritisierten Brief bringen wir unmissverständlich zum Ausdruck, dass Militäreinsätze keine Lösung für die Gewalteskalation im Sahel darstellen. Doch diese Hauptbotschaft scheint uninteressant zu sein. Interessant – auch im Sinne von skandalös – ist in den Augen der IMI vielmehr, dass ein linkes Netzwerk wie Afrique-Europe-Interact zu der Einschätzung kommt, dass unter den gegebenen Bedingungen militärische Vorgehensweisen nicht in Gänze ausgeschlossen werden können und dass sich daher die Frage stellt, in welchem Rahmen solche militärischen Vorgehensweisen stattfinden sollten: Getragen von nationale Armeen, von der UNO, von afrikanischen Dach- bzw. Regionalorganisationen oder von westlichen Staaten?

Plastischer: Wenn das eigene Dorf der ständigen Gefahr bewaffneter Angriffe ausgesetzt ist, wenn die Lebensmittelpreise nach oben gehen (weil Händler*innen angegriffen werden) oder wenn der Dorfchef, der Lehrer oder der lokale Imam jederzeit getötet oder entführt werden können (weil sie einer bestimmten dschiadistischen Agenda im Wege stehen), dann ist es naheliegend, dass die betroffene Bevölkerung militärischen Schutz einfordert – unabhängig davon, dass militärische Lösungen bestenfalls eine Art Notnagel darstellen, solange die wirklichen Probleme (im Sinne struktureller Konfliktursachen) nicht beseitigt sind.

2. Womit wir bereits beim nächsten Punkt wären: Die IMI wirft uns in ihrem zweiten Papier vor, dass wir all jenen das Recht absprechen würden, sich zum Sahel zu äußern, die nicht ähnlich enge Kontakte zu Menschen in einzelnen Sahel-Ländern unterhalten würden wie Afrique-Europe-Interact. Dem müssen wir deutlich widersprechen, denn das ist ganz offensichtlich nicht unsere Kritik. Unsere Kritik an der IMI lautet vielmehr, dass die IMI ihre Position nicht in Auseinandersetzung mit Akteuren im Sahel entwickelt und dass dieses Manko auch an ihren inhaltlichen Positionen erkennbar ist. Letztlich geht es bei dieser Frage darum, was transnationale Analyse, Zusammenarbeit und Solidarität bedeuten, vor allem, wie sich Perspektiven verschieben, wenn Problemlagen multiperspektivisch betrachtet werden, also nicht nur aus einem nördlichen Blickwinkel, sondern auch aus einem südlichen Blickwinkel, und dort wiederum aus jeweils lokalen Erfahrungskontexten heraus. Denn natürlich gibt es auch im Süden – genauso wie im Norden – vielfältige Positionen. Umso wichtiger ist es, in einem kontinuierlichen Austausch zu stehen und sich auch berühren bzw. herausfordern zu lassen – insbesondere dort, wo eigene Grundüberzeugungen zur Debatte stehen. Im Grunde genommen geht es darum, dass sich Organisationen wie die IMI diverser aufstellen und systematische Kooperationen mit Leuten im Süden aufbauen sollten (was im Zeitalter von Internet ohne jede Reisetätigkeit möglich ist). Denn anders kann es gar nicht klappen: Die Welt ist zu vielfältig und zu komplex, als dass eine kleine NGO wie die IMI über jeden beliebigen Konfliktort dieser Welt angemessen informieren könnte (und wer die Webseite der IMI besucht, wird rausfinden, dass die IMI Analysen zu über 30 Ländern in vier Erdteilen veröffentlicht hat).

3. Genau auf diese Kritik, die wir bereits in unserer ersten Antwort auf die IMI formuliert haben, geht die IMI in ihrem immerhin 9-seitigen zweiten Text nicht mit einer Silbe ein – außer mit dem Hinweis, dass wir Christoph Marischka als Autoren des Textes persönlich angegriffen hätten. Stattdessen kritisiert die IMI, dass wir in unseren Veröffentlichungen einen „gesamtgesellschaftlichen Konsens“ (IMI) in Mali unterstellen würden, den es in dieser Form gar nicht gäbe. Doch diese Feststellung entpuppt sich beim näheren Hinsehen als lediglich hypothetisches Argument, denn die IMI legt sich mangels konkreten Wissens nicht darauf fest, ob die von uns behaupteten Grundtendenzen in der öffentlichen Meinung zutreffend sind oder nicht. Wir möchten daher aushelfen – auch um nachvollziehbar zu machen, wie wir zu unseren eigenen Schlussfolgerungen gekommen sind:

a) Am 10. Januar 2020 haben in Mali landesweit Proteste gegen die Präsenz ausländischer Truppen in Mali stattgefunden. Bemerkenswert war allerdings, dass die Partei SADI – Schwesterpartei der LINKEN, wenn auch deutlich traditionssozialistischer ausgerichtet als die LINKE – bei diesen Demonstrationen zwar das Ende der französischen Antiterror-Operation Barkhane gefordert hat, nicht aber das Ende der UN-Mission MINUSMA. Denn diese Unterscheidung verweist auf die von uns konstatierte Tendenz, wonach die Menschen in Mali aus einer Vielzahl an Gründen zwar sauer auf MINUSMA sind, dass dies aber nicht dazu führt, dass Akteure wie SADI (als die mit Abstand bekannteste linke bzw. antimperialistische Kraft in Mali) den Abzug von MINUSMA fordern würde.

b) Des Weiteren möchten wir auf das Umfrageinstrument „Malimetre“ verweisen – eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako seit 2012 einmal pro Jahr durchgeführte Studie, in der die malische Bevölkerung repräsentativ zu den Konflikten im Norden und Zentrum des Landes befragt wird:

http://www.fes-mali.org/images/Rapport_Final_Malimetre_N11_Site.pdf

Wer dort nachguckt (die letzte Erhebung stammt vom November 2019), kann ein extrem differenziertes Bild der Stimmungen und Einschätzungen in Mali erhalten, auch darüber, dass die Meinungen der Menschen vor allem im Süden des Landes, wo es bislang noch wenig gewalttätige Auseinandersetzungen gibt, ungleich kritischer gegenüber ausländischen Armeen ausfallen als im Zentrum und Norden des Landes, wo die Menschen täglich nicht nur Angriffen ausgesetzt sind, sondern auch die praktischen (sowohl positiven als auch negativen) Auswirkungen von MINUSMA und anderen Militäroperationen erleben. Und auch kann man bei Malimetre lernen, dass 92,1 Prozent der malischen Bevölkerung großes Vertrauen in das eigene Militär haben. Und dieser Wert ist wirklich bemerkenswert: Einerseits, weil die malische Armee bislang hochgradig ineffektiv ist, andererseits weil die IMI (aber auch andere Akteure wie die Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) in Berlin) bezüglich der Sahelländer immer wieder die These vertreten, dass die Bevölkerung Angst vor ihren eigenen Armeen hätte und dass daher deren bessere Ausstattung eine äußerst fragwürdige Angelegenheit sei. Hier gilt es freilich zu differenzieren. Denn das Militär in Mali oder Niger genießt in der Bevölkerung ein vergleichsweise hohes Vertrauen (weil die Soldaten als Söhne des Volkes empfunden werden). Ganz anders in Ländern wie Tschad, Nigeria oder Togo, wo die Armee sehr viel stärker als Arm des repressiven Staates gilt. Aber auch hier ist es erforderlich, Unterschiede zu machen. So gibt es in Teilen der Tuareg- und Fulbe (Viehzüchter-)Communities starke Vorbehalte gegenüber der malischen Armee, einfach deshalb, weil es in den letzten Jahren immer wieder zu willkürlichen Festnahmen, Folterungen oder gar standrechtlichen Erschießungen von Fulbe oder Tuareg gekommen ist, die des Terrorismus verdächtigt wurden. Doch dies betrifft keineswegs alle Tuareg oder Fulbe – verwiesen sei nur darauf, dass allein die Fulbe 11 Prozent der Gesamtbevölkerung in Mali ausmachen (also mehr als die 7,9 Prozent, die kein Vertrauen in die malische Armee haben).

c) Schließlich möchten wir noch unsere eigenen Diskussionsprozesse etwas genauer schildern – auch um einen Eindruck davon zu vermitteln, was wir meinen, wenn wir von transnationalen Diskussions- und Reflektionsprozessen reden: Die europäische Sektion von Afrique-Europe-Interact arbeitet in Mali sowohl mit Gruppen in der Hauptstadt Bamako zusammen als auch mit bäuerlichen Communities, letzteres nicht nur im Süden des Landes (in der Grenzregion nach Guinea), sondern auch im Office du Niger, das zunehmend von dschihadistischer Gewalt betroffen ist. Aus diesen seit 2010 bestehenden Kontakten rührt ein Großteil unserer Einschätzungen – zumal sich europäische Aktivist*innen von Afrique-Europe-Interact 4 bis 8 Wochen pro Jahr in Mali aufhalten. Darüber hinaus ist unserem offenen Brief an die Bundesregierung ein einjähriger intensiver Diskussionsprozess mit Akteuren in Mali und anderen Sahelländern vorausgegangen: Begonnen hat es mit einer von Afrique-Europe-Interact mitorganisierten Sahel-Konferenz in Frankfurt im März 2019 („Wege aus der Gewalt?“), wo überwiegend Referent*innen aus dem Sahel gesprochen haben – sowohl Vertreter*innen der Zivilgesellschaft als auch Journalist*innen und Wissenschaftler*innen. Unter Bezug auf diese Konferenz – und auf Grundlage der auch auf Französisch vorliegenden Dokumentation der Konferenzergebnisse (https://afrique-europe-interact.net/1834-0-Broschre-deutsch.html) – haben wir im Vorfeld unserer Beteiligung an einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags im Januar 2020 an rund 20 Personen in Mali (aus Wissenschaft, Journalismus und Zivilgesellschaft) zahlreiche Fragen geschickt, wo wir konkret nach Einschätzungen zu den verschiedenen Militärmissionen etc. gefragt haben, auch unter Berücksichtigung der damals sich häufenden Proteste in Mali und Niger gegen die Präsenz ausländischer Truppen.

Kurzum: Wir hoffen, dass deutlich geworden ist, dass wir keineswegs leichtfertig eine Einheitlichkeit der öffentlichen Meinung in Mali unterstellt haben – etwa wenn wir in unserem Brief an die Bundesregierung die Einschätzung formulieren, dass unterm Strich große Teile der malischen Bevölkerung einen Abzug von MINUSMA eher kritisch sehen würden. Vielmehr bemühen wir uns seit vielen Jahren, der deutschen bzw. europäischen Öffentlichkeit ein halbwegs realitätstaugliches Bild der Auseinandersetzungen in Mali zu vermitteln, was angesichts einer derart diversen Gesellschaft wie der malischen (wo eine Vielzahl an Sprachen gesprochen wird) alles andere als einfach ist – und das umso mehr, als viele Menschen auf dem Land oftmals keine oder nur bruchstückhafte Informationen haben (im Übrigen auch über MINUSMA).

4. Wir möchten zu einem weiteren Punkt kommen: Die IMI hält uns vor, dass wir ähnliche Formulierungen wie die Bundesregierung und die ihr „nahestehenden Denkfabriken“ nutzen würden. Schlimmer noch: Zu unserer Forderung, dass zivile Vorgehensweisen Priorität genießen sollten, meint die IMI, dass dieses Argument seit jeher zur diskursiven Strategie deutscher Bundesregierungen gehören würde, um der Öffentlichkeit Ausländseinsätze der Bundeswehr schmackhaft zu machen. Ja, und genau deshalb sei auch Afrique-Europe-Interact nicht zu trauen, da wir ja „grundsätzlich die Notwendigkeit einer internationalen militärischen Präsenz, Ausbildungs- und Ausstattungshilfe“ betonen würden (was in dieser Form nicht zutreffend ist). Dieses an zentraler Stelle im Text platzierte Argument ist nicht nur unlogisch (warum sollten wir die Öffentlichkeit hinters Licht führen wollen?), es versucht absurderweise auch, eine gemeinsame Geisteshaltung zwischen Afrique-Europe-Interact und den deutschen Bundesregierungen der letzten 20 Jahre herbeizukonstruieren. Insofern möchten wir einmal mehr mit Nachdruck betonen: Wenn wir sagen, dass die Konflikte im Sahel nur durch grundlegende sozial-ökologische Transformationen beigelegt werden können (die de facto auf eine „soziale Revolution“ im Sahel hinauslaufen würden, wie es einer der Sahel-Referenten bei der erwähnten Konferenz in Frankfurt formulierte), dann meinen wir das ernst, d.h. dann hegen wir keine sinistren Hinterzimmergedanken und dann wollen wir auch nicht durch die Hintertür europäische Armeen im Sahel aufmarschieren lassen. Wir würden uns freuen, wenn die IMI dies endlich zur Kenntnis nehmen würde.

5. Spätestens an dieser Stelle ist es Zeit, auf das eigentliche Hauptargument des Textes einzugehen: Die IMI wirft uns vor, dass wir die Effektivität und Kontrollierbarkeit militärischer (und obendrein westlich dominierter) Interventionen überschätzen würden, ja dass wir nicht die Eigendynamik sähen, die derartigen Einsätzen innewohne. Das grundsätzliche Argument (wonach Militärinterventionen nur bedingt effektiv und kontrollierbar sind) teilen wir. Umso überraschender ist es, dass ausgerechnet uns vorgeworfen wird, die diesbezüglichen Gefahren nicht zu sehen. Denn gerade weil wir das Argument teilen, machen wir uns für nicht-miltärische Vorgehensweisen stark, wozu im Übrigen auch lokale Versöhnungs- und Dialogprozesse gehören, so wie dies in einer der drei AGs bei der von uns mitorganisierten Konferenz in Frankfurt diskutiert wurde (vgl. die Konferenzdokumentation).

Gleichwohl stellt dies keinen Gegensatz zu unserer Einschätzung dar, wonach es in der derzeitigen Lage (die ja ebenfalls eine Realität ist) flankierender militärischer Vorgehensweisen bedarf. Denn der harte Kern dschihadistischer Gruppen wird sich nicht kampflos zurückziehen – das zeigen auch die jüngsten Anschläge im Westen Malis, wo es bislang noch gar keine Auseinandersetzungen gab. Einerseits, weil besagter Kern sich mittlerweile (anders als von der IMI behauptet) ganz wesentlich auf malische Mitglieder stützt (nicht zuletzt auf junge Fulbe), anderseits, weil er in der Bevölkerung über mehrere tausend Unterstützer*innen verfügt, die es den bewaffneten Gruppen erlauben, sich relativ problemlos im Sahel zu bewegen. Diese Realität zu akzeptieren, hat daher auch nichts mit Naivität militärferner Kreise zu tun (wie die IMI mutmaßt), sondern mit dem von uns erwähnten Perspektivwechsel, wonach je nach Erfahrungskontext Fragen und/oder Antworten ganz anders ausfallen können. Konkreter: Wer – wie eingangs geschrieben – von täglichen Angriffen bedroht ist, ist erst einmal an militärischem Schutz interessiert, auch dann, wenn er bzw. sie kritisiert, dass der Schutz nicht ausreicht oder dass die schützende Armee wie zum Beispiel die MINUSMA-Truppen viel zu stark mit Eigenschutz zu Gange ist (hier unterscheiden sich die Bewohner*innen des Sahel nicht von Menschen in Europa, die ebenfalls bewaffneten Sofortschutz erwarten würden, wenn Nazis, Amokläufer oder andere Bewaffnete die Grundschule, das lokale Rathaus oder das Pfarramt in einem x-beliebigen Ort angreifen würden).

Und dennoch ist die Frage elementar, wer diesen Schutz gewährleisten soll. Aus Sicht von Afrique-Europe-Interact wäre es am besten, wenn dieser Schutz in erster Linie durch die Sicherheitskräfte der Sahelländer selbst umgesetzt würde – zumindest, was Mali, Niger und Burkina Faso betrifft (Tschad ist eine brutale Diktatur, weshalb dort die Fragen nochmal anders diskutiert werden müssen, Mauretanien ist ebenfalls ein eigener Fall). Denn je weniger ausländische Armeen im Spiel sind, desto kleiner ist das von der IMI zu Recht ins Feld geführte Eskalationspotential. Gleichzeitig spricht im Moment wenig dafür, dass die Armeen der Sahelländer diese Aufgabe alleine erledigen könnten. Vielmehr sagen unsere Gesprächspartner*innen in Mali, dass die Dschihadisten die malische Hauptstadt Bamako im Handumdrehen erobern bzw. mit taktischen Nadelstichen schachmatt setzen würden, wenn sich MINUSMA und Frankreich auf einen Schlag zurückziehen würden (und ähnliche Prognosen bestehen auch für Burkina Faso und Niger). Und genau das ist der Punkt, wo MINUSMA und die Regionalorganisation G5 ins Spiel kommen (die G5 setzen sich – das zur Erinnerung – aus den Armeen von Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad zusammen). Denn über die französische Militäroperation Barkhane, an der mittlerweile verschiedene europäische Länder beteiligt sind, wird offenkundig westliche Interessenpolitik durchgesetzt – im Sinne davon, dass die Terrorbekämpfung von Frankreich dafür genutzt wird, seine seit Kolonialzeiten im Sahel bzw. in Westafrika bestehenden Interessen mit Nachdruck zu verfolgen. Demgegenüber ist MINUSMA ein ungleich neutralerer Akteur, und die G5 ohnehin. Aus Sicht von Afrique-Europe-Interact ist das der Grund, weshalb schnellstmöglich ein Doppelweg eingeschlagen werden sollte: Einerseits massive Tranformationssprozesse auf ökonomischer, politischer und sozialer Ebene anstoßen (als die hauptsächliche Problemlösungsstrategie), andererseits schnellstmögliche Übergabe sämtlicher militärischer Aktivitäten an MINUSMA und G5 bewerkstelligen, wobei Expert*innen davon ausgehen, dass die G5 erst in 5 bis 10 Jahren in der Lage sein wird, ähnlich entschieden gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen, wie dies derzeit im Rahmen von Barkhane der Fall ist.

Grundsätzlich gefällt uns der zweite Teil dieses Szenario nicht, auch wenn wir glauben, dass der Bedarf militärischer Lösungen sich relativ schnell erheblich reduzieren dürfte, sobald die zivilen Maßnahmen greifen – einfach, weil es dann für junge Leute keinen wirklichen Grund mehr gäbe, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen, die zwar viel Geld versprechen, ansonsten aber ein hartes und vor allem gefährliches Pflaster darstellen, mit einer extrem hohen Gefahr, früher oder später getötet zu werden (hierüber gibt die sehr empfehlenswerte UN-Studie “Journey to Extremism in Africa” Auskunft, für die Mitarbeiter*innen des UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) über zwei Jahre fast 500 ehemalige Mitglieder radikaler Gruppen auf dem Kontinent befragt haben: https://journey-to-extremism.undp.org/content/downloads/UNDP-JourneyToExtremism-report-2017-english.pdf).

Was die Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe betrifft, sind wir – auch das sei nochmal betont – zwar keineswegs froh, dass es dieser bedarf. Denn natürlich nutzt die EU die Ausbildungsmission EUTM in Mali, um eigene Interessen zu verfolgen – nicht zuletzt Deutschland, dass in der Wahrnehmung vieler Malier*innen als „good cop“ gilt, während Frankreich die Rolle des „bad cop“ zugeschrieben wird (in völliger Verkennung dessen, dass Deutschland und Frankreich eine strategische Einheit bilden). Und doch gilt auch hier: In der aktuellen Situation scheint das der einzig gangbare Weg zu sein. Umso wichtiger ist es, mit Nachdruck auf eine wirklich umfassende „Sicherheitssektorreform“ zu drängen, wie es in der offiziellen Politik heißt (zur einer umfassenden Sicherheitssektorreform gehört nicht nur eine angemessene Ausbildung von Militär und Polizei, sondern auch eine funktionstüchtige Justiz und gut funktionierende politische Institutionen). Denn natürlich gilt es zu verhindern, dass gut ausgerüstete, aber schlecht ausgebildete Soldat*innen brutal und willkürlich gegen vermeintliche „Terroristen“ vorgehen und damit die Konfliktdynamiken einmal mehr anfachen (ggf. auch auf Anweisung der Regierung oder der Armeeführung hin).

Genau deshalb ist es so wichtig, die diversen Zielsetzungen nunmehr anzugehen – und genau deshalb ist es umgekehrt so unverständlich, dass die IMI ausgerechnet Afrique-Europe-Interact die Unterstützung westlicher „Militäreinsätze“ anzudichten versucht. Denn das, was wir als Strategie vorschlagen, zielt darauf, schnellstmöglich den Einfluss westlicher bzw. nicht-afrikanisch getragener Militäreinsätze weitgehend zurückzudrängen – dies jedoch unter Berücksichtigung davon, dass es im selbsterklärten Interesse vieler Menschen in Mali liegt, diesen Übergang als Transitionsphase zu gestalten und nicht als simples „MINUSMA raus aus Mali“.

ODER UMGEKEHRTUND ALS FRAGE: Wenn all dies falsch sein soll, was schlägt denn die IMI vor? Wie könnte aus Sicht der IMI ein guter Weg nach vorne aussehen – allerdings unter Berücksichtigung der konkreten Macht- und Gewaltverhältnisse vor Ort, inklusive der eben geschilderten Gefahr, dass bei einem sofortigen Abzug von MINUSMA und Barkhane (und ohne Vorbereitungszeit für G5) der Sahel in kürzester Zeit in die Hände gewalttätiger Dschihadisten fallen würde?

8. Wir möchten zum letzten Punkt kommen: Unter der Überschrift „Fragen statt Polemik“ stellt uns die IMI auf den letzten zwei Seiten ihres Briefes 11 Fragen. Viele der Fragen sind interessant bzw. wichtig und dennoch erschließt sich uns nicht, warum wir auf all diese Fragen antworten sollten (was für sich genommen locker 10 Seiten beanspruchen würde). Denn wenn man sich die Fragen anguckt, wirken sie wie eine kleine Anfrage an die Bundesregierung – entsprechend könnte überall dort, wo die Mali-AG von Afrique-Europe-Interact angesprochen wird, auch die Bundesregierung oder das Verteidigungsministerium adressiert werden. Eine Kostprobe: „Welche Ressourcen sollen die G5 zur militärischen Bekämpfung des „Dschihadismus“ in einem Gebiet zur Verfügung stellen bzw. zur Verfügung gestellt bekommen, das von der afrikanischen Atlantikküste bis in den Tschad reicht? Wie viele Kampf- und Transporthubschrauber, Flugplätze, taktischer Lufttransport und Aufklärungsdrohnen sind dafür nach Auffassung der Mali-AG nötig bzw. angemessen und wie soll dies aus den nationalen Haushalten der betreffenden Staaten bzw. internationaler Unterstützung finanziert werden?“.

Sorry, werte IMI, aber das ist doch Realsatire! Warum soll denn die Mali-AG von Afrique-Europe-Interact auf solche militärlogistischen Fachfragen Antworten formulieren (können)? Glaubt die IMI wirklich, uns damit vorführen zu können – nach dem Motto: Wer Ausrüstungshilfe fordert, der muss auch Auskunft darüber geben können, wie viele Aufklärungsdrohnen die G5 in den nächsten 10 Jahren brauchen wird?!? Ganz ehrlich, für derartigen Klamauk sind wir nicht zu haben, dafür ist die Lage der Menschen im Sahel viel zu ernst! Konkreter: Wir sind täglich mit Bauern und Bäuerinnen über eine bambarasprachige Whatsapp-Gruppe im Kontakt – was glaubt ihr, was die sagen würden, wenn wir ihnen berichten würden, dass uns zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland bitten würden, auf solche Fragen zu antworten? Nein, statt sich auf derartige Abwege zu begeben, fordern wir euch zu einer ernsthaften Debatte auf, und zwar entlang der eben formulierten Frage, was denn unter den gegebenen Bedingungen die richtigen nächsten Schritte sein könnten.

Lediglich auf zwei Fragen möchten wir abschließend noch Antwort geben, einfach, weil wir sie berechtigt finden:

a) IMI: „Warum nennt die Mali-AG die Präsenz russischer Militärberater und „Verträge zur Erneuerung des militärischen Geräts“ durch Russland, sowie einen „gewissen Russland-Hype“ als Teil des „Akzeptanzproblems“ der MINUSMA, wo die Mali-AG doch grundsätzlich von der Notwendigkeit von Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für die Streitkräfte der Region überzeugt ist?“

Hierzu können wir nur sagen, dass wir in die russische Großmachtpolitik genauso wenig Vertrauen haben wie in die Großmacht- bzw. Militärpolitiken von Frankreich, Deutschland, der Türkei oder Saudi Arabien. Insofern glauben wir, dass eine stärkere Beteiligung von Russland die Probleme im Sahel nur noch vertiefen würde. Daher wäre es uns am liebsten, wenn die von uns geforderte Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe ebenfalls unter dem organisatorischen Dach von MINUSMA oder afrikanischen Organisationen wie der Afrikanischen Union erfolgen würde.

b) IMI: „Wie bewertet Afrique-Europe-Interact die Einschätzung u.a. der Forschungsstelle Flucht und Migration, dass es sich bei der auszurüstenden und auszubildenden G5-Sahel-Truppe um „Grenztruppen zur Verhinderung von Migrationen in europäischem Auftrag“12 handelt […]“.

Wir teilen – zusammen mit Akteuren aus Mali oder Niger – die Einschätzung nicht, wonach es sich bei der G5 primär um Grenzabschottung handeln würde. Grenzabschottung gehört zwar ebenfalls zu den Zielsetzungen von G5, aber grundsätzlich sind für migrationspolitische Maßnahmen andere Akteure bzw. Maßnahmen zuständig. Dies wird auch aus dem Haupteinsatzgebiet der G5 deutlich, das zukünftig im Liptako-Gourma liegen soll – einem Gebiet im Dreiländereck Mali-Burkina Faso-Niger, wo schon lange keine Hauptmigrationsrouten durchlaufen (weder die über Gao noch die über Agadez). Jenseits davon lehnen wir die Konditionalisierung bei Ausbildungs- und Ausrüstungshilfen ab, also den von der EU ausgeübten Zwang, auch im Rahmen von G5 Grenzabschottung zu betreiben. Denn die Grenzabschottung ist eine europäische Erfindung, sie liegt nicht im Interesse der Sahelländer.

Es gäbe bestimmt noch vieles andere zu sagen, aber unsere Antwort ist schon lang genug ausgefallen, deshalb möchten wir an dieser Stelle einen Punkt machen – einmal mehr in der Hoffnung, dass wir zukünftig dort kooperieren und voneinander lernen können, wo das Sinn macht. Denn es ist Kapazitätenverschwendung, wenn sich die IMI ausgerechnet an Akteuren wie Afrique-Europe-Interact abarbeitet, anstatt uns als Bündnispartner*innen zu betrachten – nicht zuletzt im Interesse der von Gewaltkonflikten im Sahel betroffenen Bevölkerung.

27.04.2020, Mali-AG von Afrique-Europe-Interact

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