April 2019 | Brennpunkt Westafrika. Warum die Debatte um Fluchtursachen zu kurz greift
Von Olaf Bernau. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2019
Spätestens seit der als “Flüchtlingskrise” etikettierten Ankunft von rund drei Millionen Migrant_innen in den Jahren 2014 bis 2016 ist Europa tief gespalten [1]. Ob EU-Türkei-Pakt, verschärfte Abschiebeberegeln oder Internierungsslager in Libyen, keine Maßnahme scheint hart genug zu sein, um die rechtspopulistischen Gemüter zu beruhigen. Ein Umstand, der darauf verweist, dass die offene Ablehnung von Migrant_innen schon längst zu einem kulturellen Code mutiert ist, über den Kritik vor allem daran geäußert wird, was hierzulande AFD-Chef Jörg Meuthen als “links-rot-grün versifftes 68er-Deutschland” bezeichnet hat. Umso bemerkenswerter ist, dass die “Bekämpfung von Fluchtursachen” – und somit das zweite Standbein der EU-Migrationspolitik – allenthalben auf Zustimmung stößt. Sie ist insbesondere auf afrikanische Länder gemünzt und wurde bereits im November 2015 beim EU-Afrika-Gipfel in der maltesischen Hauptstadt Valletta als gemeinsame Strategie verabschiedet. Konkret hat die EU einen Treuhandfonds zur Finanzierung entwicklungspolitischer Projekte ins Leben gerufen – ursprünglich ausgestattet mit 1,8 Milliarden Euro, mittlerweile aufgestockt auf 4,1 Milliarden Euro. Beim G20-Gipfel in Hamburg im Juni 2017 ging der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble noch einen Schritt weiter: Er lancierte die Initiative “Compact with Africa”, die vor allem Privatinvestitionen in ökonomisch prosperierenden Ländern wie Ruanda, Äthiopien oder Senegal fördern soll. Das gemeinsame Credo dieser und weiterer Programme lautet: Ändern sich in afrikanischen Ländern die Lebensbedingungen, werden sich mittel- bis langfristig weniger Menschen auf den Weg Richtung Europa machen. Auf den ersten Blick mag das plausibel erscheinen, doch im Kern handelt es sich um nichts weniger als Realitätsverweigerung:
Erstens wird verkannt, dass Mobilität die Geschichte des afrikanischen Kontinents bereits seit vorkolonialer Zeit stark geprägt hat – ob durch Handel, Wanderfeldwirtschaft oder Pendelmigration im Rhythmus der Jahreszeiten. Eine solche kulturell tief verankerte Alltagspraxis kann durch künstlich errichtete Hindernisse zwar blockiert, langfristig aber nicht ausgehebelt werden. Zweitens gerät der in der Forschung seit den 1970er Jahren unstrittige Sachverhalt ins Abseits, wonach grenzüberschreitende Migration mit steigendem Lebensstandard wächst, nicht zurückgeht. Entsprechend beträgt der Anteil internationaler Migrant_innen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung in den reichen Industrieländern 11,6 Prozent, in Afrika hingegen gerade mal 2 Prozent. Hieraus folgt drittens, dass häufig mit stark überhöhten Zahlen operiert wird. Das immer wieder bemühte Bild der gepackten Koffer ist Stimmungsmache. Die meisten Migrant_innen migrieren innerhalb Afrikas, auch wenn nicht ausgeschlossen werden sollte, dass aufgrund des Klimawandels und der Bevölkerungsentwicklung zukünftig mehr Migrant_innen versuchen könnten, nach Europa zu kommen. Viertens wird in der aktuellen Debatte zur Fluchtursachenbekämpmfung der wichtige Anteil unterschätzt, den Migrant_innen mit ihren Rücküberweisungen zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer oder -regionen leisten. So wurden nach Angaben der Weltbank allein im Jahr 2017 21,9 Milliarden Dollar nach Nigeria geschickt, und jeweils 2,2 Milliarden Dollar nach Ghana und Senegal [2].
Doch die Harmonie in Punkto Fluchtursachenbekämmpfung ist auch prinzipiell brüchig. Die bislang umgesetzten Maßnahmen sind zahnlose Tiger. Sie dürften vor allem deshalb unstrittig sein, weil sie nicht im geringsten europäische Interessen berühren. Im Gegenteil: Angesichts der restriktiven EU-Abschottungspolitik taugen sie eher als eine Art Trostpflaster für die europäische Öffentlichkeit. Denn natürlich passen Programme zur Ausbildung von Jugendlichen oder zum Bau von Gemüsegärten ungleich besser zum offiziellen EU-Wertekanon als tausende Tote im Mittelmeer oder in der Wüste. Hinzu kommt, dass sich in die Debatte um Fluchtursachen eine gewisse Beliebigkeit eingeschlichen hat: Während die deutsche Bundesregierung vor allem Investitionen für einen zentralen Hebel erachtet, um Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen [3], reden zivilgesellschaftliche Akteure von einzelnen Problemkomplexen wie Überfischung, Dumpinghühnchen oder der Ausfuhr mineralischer Rohstoffe zu Niedrigstpreisen. Nichts davon ist falsch: Es gibt tatsächlich zu wenig Investitionen in Afrika. Und dass die Handels-, Agrar- oder Rohstoffpolitik der EU seit Jahrzehnten fatale Konsequenten zeitigt, bestreitet noch nicht einmal CSU-Entwicklungsminister Gerd Müller. Aber das große bzw. gesellschaftliche Ganze kommt auf diese Weise nicht in den Blick – also die Frage, warum in Afrika über 60 Jahre nach der formellen Unabhängigkeit weiterhin die Mehrheit der Menschen von der Landwirtschaft lebt, während umgekehrt die Industrie mit gerade mal 8 Prozent zum Bruttoinlandprodukt beträgt, warum die meisten Jobs außerhalb der Landwirtschaft im informellen Sektor angesiedelt sind oder warum die Steuerungskapazitäten der Staaten derart schwach sind, dass zum Beispiel 695 Millionen Menschen ohne sanitäre Grundversorgung auskommen müssen. Wer dies verstehen möchte, muss die Bereitschaft aufbringen, in ökonomischer, politischer und sozialer Hinsicht langfristige Entwicklungstrends afrikanischer Gesellschaften zur Kenntnis zu nehmen – samt ihrer Verankerung im kolonialen Erbe. Denn nur so lässt sich – und darum soll es in diesem Artikel gehen – ein wirklich gehaltvolles Verständnis von Fluchtursachen erarbeiten, gleichsam als Voraussetzung dafür, auch solche Interventionspunkte zu identifizieren, die wehtun, die also den bestehenden Status Quo ernsthaft in Frage stellen. Darüber hinaus gilt es, von der hochgradig fragwürdigen Praxis Abstand zu nehmen, Afrika immer nur als Ganzes abbilden zu wollen. Unter gewissen Voraussetzungen mag das sinnvoll sein, etwa wenn es um einzelne Themen wie Landgrabbing oder Verschuldung geht. Aber grundsätzlich ist Afrika ein riesiger Kontinent mit historisch gewachsenen Räumen, die sich keineswegs auf einen gemeinsamen (Fluchtursachen-)Nenner bringen lassen. Konkreter: Derzeit kommen die meisten Migrant_innen aus Ost- und Westafrika, dennoch ist es nicht gewinnbringend, gleichzeitig über so unterschiedliche Länder wie Eritrea und Ghana oder Somalia und die Elfenbeinküste zu sprechen. Das ist der Grund, weshalb ich mich im Folgenden primär auf Westafrika beziehen werde – zumindest auf der Ebene der Beispiele. Denn über 50 Prozent der afrikanischen Migrant_innen in Europa kommen weiterhin aus westafrikanischen Ländern, nicht zuletzt aus Nigeria, wo mit 190 Millionen Einwohner_innen mehr Menschen leben als in allen anderen 15 westafrikanischen Ländern zusammen.
Ökonomische Entwicklung seit 1960
“Afrika wird armregiert oder wie man Afrika wirklich helfen kann” – das bei Amazon am häufigsten verkaufte Afrika-Buch in deutscher Sprache stammt von Volker Seitz, einem deutschen Ex-Diplomaten und Autor des neokonservativen Debattenblogs “Achse des Guten”. Nicht alles, was Seitz sagt, ist falsch. Aber die Stoßrichtung ist fatal: Laut Seitz könne die “koloniale Vergangenheit nicht mehr als Entschuldigung für das Versagen in der Gegenwart herhalten”, als ob das in dieser Form irgendeine ernst zu nehmende Person behaupten würde. Entsprechend wimmelt sein Bestseller von einer Vielzahl hemdsärmlig daherkommender Plattitüden: “Viele Länder des Südens sind gar nicht in der Lage, in wesentlichem Umfang Exportgüter zu erzeugen. Dabei könnte fast jedes afrikanische Land mit Ehrgeiz, Zielorientiertheit und harter Arbeit, zumal wenn es vom Norden Unterstützung erhält, eine befriedigende Entwicklung nehmen.” Seitz steht keinesfalls allein, er ist nur eine besonders laute Stimme im Konzert jener überwiegend europäischen und us-amerikanischen Expert_innen, die seit den 1980er Jahren nichts unversucht lassen, um die prekäre Situation in afrikanischen Ländern als hausgemachtes Übel darzustellen, also als Ergebnis schlechter und in wirtschaftlicher Hinsicht inkompetenter (weil keynesianistisch oder gar sozialistisch ausgerichteter) Regierungsführung. Umso wichtiger ist es, immer wieder von Neuem herauszuarbeiten, inwiefern sich die ökonomischen Tiefenstrukturen in afrikanischen Ländern aufgrund globaler Machtverhältnisse über Jahrzehnte kaum verändern konnten, ohne dabei allerdings den Fehler zu begehen, die in vielerlei Hinsicht maßgebliche Rolle afrikanischer Eliten auszublenden.
Anders als häufig kolportiert (gerade von Autor_innen wie Volker Seitz), waren die Entwicklungsindikatoren afrikanischer Länder zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit ungleich schlechter als die vieler asiatischer Kolonien. Denn während zum Beispiel Japan auf dem Gebiet des heutigen Nordkorea Schwerindustrie angesiedelt hat, haben die europäischen Kolonialmächte die afrikanischen Länder von Anfang an zu bloßen Rohstofflieferanten degradiert. Jede Form industrieller Verarbeitung wurde gezielt verhindert oder sogar rückgängig gemacht, etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich in einigen afrikanischen Ländern im Zuge eingebrochener Importe aus Europa eine erste kleine Industrialisierungswelle ergeben hatte. Entsprechend mussten sich viele Kolonien auf den Export weniger mineralischer oder agrarischer Rohstoffe konzentrieren, was im landwirtschaftlichen Bereich eine Entdiversifizierung der bäuerlichen Produktpalette und somit Ernährungsengpässe nach sich gezogen hat. Es kann insofern nicht überraschen, dass entgegen einer in Europa bis heute sorgsam kultivierten Legende auch die Infrastruktur in den Kolonien kaum entwickelt wurde: So wiesen Länder südlich der Sahara erst am Ende des 20. Jahrhunderts jene Einschulungsraten auf, die lateinamerikanische und ostasiatische Länder bereits Mitte der 1950er Jahre erreicht hatten. Ähnlich im Verkehr: 1963 waren gerade mal 10 Prozent aller Straßen asphaltiert. Genauso wenig bestand ein Eisenbahnnetz, das einen innerafrikanischen Handel hätte stimulieren können. Gebaut haben die Kolonialmächte stattdessen zahlreiche Sticheisenbahnen, die lediglich aus dem Landesinneren zum jeweils nächsten Übersee-Hafen führten.
Ungeachtet dieser extrem schwierigen Ausgangslage haben die subsaharischen Länder in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Ihre Ökonomien wuchsen kaum langsamer als die anderer Weltregionen. Vielerorts entstanden Industriebetriebe, nicht zuletzt in den Bereichen Nahrungsmittel, einfache Konsumgüter, Medikamente, Textilien, Zement und Autos. Wegweisend war die aus dem antikolonialen Kampf geborene Maxime der importsubstituierenden Entwicklung: Danach sollten inländische Industriekapazitäten geschaffen werden, um den Import von Konsumgütern und Maschinen reduzieren zu können – analog wurde auch im Lebensmittelbereich Selbstversorgung angestrebt. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung stieg außerdem die Lebenserwartung. Noch spektakulärer war das Wachstum der Schüler_innenzahlen, auch wenn die Werte selbst heute noch niedriger ausfallen als überall sonst auf der Welt. Konkreter: 76 Prozent aller Kinder in Afrika besuchten 2012 zumindest eine Grundschule, die niedrigste Quote findet sich weiterhin in den ehemaligen französischen Kolonien in Westafrika.
Und doch: Trotz dieser positiven Trends geriet der Aufschwung bereits nach 15 Jahren ins Stocken. Zum einen, weil viele Industriebetriebe zwar eine stabile Einkommensgarantie für ihre Beschäftigten boten, nicht aber sonderlich rentabel waren, unter anderem wegen Misswirtschaft und Korruption. Zum anderen, weil es nicht gelungen ist, die koloniale Erblast abzuschütteln: Die gesamtwirtschaftliche Basis war zu schmal und das Steueraufkommen zu gering, sodass die bereits im Kolonialismus entstandene Abhängigkeit von einigen wenigen Export-Rohstoffen nicht überwunden werden konnte (noch 2008/2009 veröffentlichte die Weltbank eine Studie, wonach viele Länder in Westafrika 75 Prozent ihrer jeweiligen Exporteinnahmen mit einer extrem schmalen Produktpalette erzielen: In Nigeria und Niger mit je einem Produkt, in Burkina Faso und Mali mit je zwei Produkten, in Ghana mit 4 Produkten etc.). Gleichzeitig sind in den 1960er Jahren in der westafrikanischen Landwirtschaft kaum substantielle Verbesserungen erreicht worden. Vielmehr wurden den Kleinbauern und -bäuerinnen für ihre Produkte seitens der staatlichen Vermarktungsgesellschaften nur ein Bruchteil des Weltmarktpreises ausgezahlt. Denn mit den so erzielten Extra-Gewinnen sollte die Industrialisierung in den Städten vorangetrieben werden – samt Finanzierung von Lebensmittelimporten aus dem Ausland.
Konsequenz war, dass die Länder extrem anfällig für externe Schocks blieben. Am dramatischsten war der bereits seit 1925 anhaltende Verfall der Rohstoffpreise und somit auch die sinkenden Terms of Trade, also der Umstand, dass sich für die afrikanischen Länder das Austauschverhältnis zwischen Rohstoffen und industriell gefertigten Produkten ständig verschlechterte. Hinzu kamen die beiden Ölpreisschocks 1973/74 und 1979/80, ein generell überhöhtes Schuldenniveau sowie die unter US-Präsident Ronald Reagan buchstäblich explodierten Kreditzinsen Anfang der 1980er Jahre. Wie andere Regionen des globalen Südens saß auch das Gros der afrikanischen Länder in der Schuldenfalle: Ihre Gesamtschulden hatten sich von 6 Milliarden Dollar im Jahr 1970 auf 56 Milliarden Dollar im Jahr 1980 vervielfacht – im Jahr 2000 sind es sogar 280 Milliarden Dollar gewesen. Hiermit waren Strukturanpassungsprogramme beim Internationalen Währungsfonds bzw. bei anderen Geldgebern unausweichlich geworden, das heißt jene mit neoliberaler Programmatik aufgepumpten Schocktherapien, deren dramatischen Auswirkungen in den letzten Jahren insbesondere am Beispiel Griechenlands einer breiteren Öffentlichkeit in Europa bekannt geworden sind. Konkreter: Den Ländern wurde auferlegt, sich erstens noch stärker auf den Export von Rohstoffen zu konzentrieren, um ihre Schulden zu begleichen, zweitens ihre Währungen abzuwerten, um die Exporte anzukurbeln und Importe zu erschweren, drittens ihre Märkte zu öffnen, um sich an den rauhen Wind globaler Konkurrenz zu gewöhnen, viertens Subventionen an kleinbäuerliche Betriebe einzustellen, ebenfalls um reale Konkurrenzverhältnisse herzustellen, fünftens Staatsbetriebe zu privatisieren, um sie rentabel zu machen oder zu schließen und sechsten die Staatshaushalte radikal zu kürzen, um deren Defizite abzubauen.
Aus heutiger Sicht ist zwar unstrittig, dass sich im Zuge der Strukturanpassungsprogramme einige der makroökonomischen Parameter verbessert haben (etwa die Teuerungsrate), dass aber die sozialen Auswirkungen und die volkswirtschaftlichen Langzeit-Effekte ausgesprochen negativ waren. So musste in der Elfenbeinküste die Regierung noch 1997 die Hälfte des Staatshaushaltes für den Schuldendienst aufbringen (denn Verhandlungen über eine echte Entschuldung begannen erst 1996), im Gegenzug stieg der Anteil der armen Bevölkerung zwischen 1985 und 1995 von 10 auf 36,8 Prozent – unter anderem durch Massenentlassungen bei Staatsbediensteten. In gleicher Weise wurden vielerorts die Ausgaben für Gesundheitsversorgung und Bildung gekürzt, was unter anderem die gerade erst verbesserte Schulbesuchsquote wieder schrumpfen ließ. Auch die Marktöffnungen erwiesen sich als desaströs: Überall in Westafrika kam es zu flächendeckender Deindustrialisierung, weil die schwachen Industriebetriebe der neuen Konkurrenz nicht mehr gewachsen waren. Beispielsweise gab es in Nigeria Mitte der 1980er Jahre 175 Textilfabriken, im Jahr 2010 waren es nur noch 25. Ganz ähnlich im landwirtschaftlichen Bereich, wo es durch subventionierte Dumping-Exporte aus der EU (Gemüse, Milchpulver, Hähnchen, Getreide etc) ebenfalls zu massiver Verdrängung gekommen ist, unter anderem wegen des erzwungenen Abbaus von Subventionen für Kleinbauern und Kleinbäuerinnen. Gleichzeitig entpuppten sich die krisengeplagten Ökonomien als wahres Schnäppchenparadies – einmal mehr auf Kosten der Bevölkerung: So kaufte ein kanadischer Investmentfonds 2004 die Eisenbahnline zwischen Bamako (Mali) und Dakar (Senegal), nur um kurz darauf den Personenverkehr weitgehend einzustellen. Hundertausende waren über Nacht von ihrem Zugang zu überregionalen Märkten dauerhaft abgeschnitten. Am gravierendsten dürften unterdessen die flächendeckenden Steuergeschenke für transnationale Konzerne gewesen sein: So hat die durchschnittliche Umsatzrendite im Bergbau in den 1990er Jahren 5 Prozent betragen (pro investiertem Dollar entspricht dies 5 Cent Gewinn), um sodann bis 2008 auf 27 Prozent zu klettern. Milliardenbeträge also, die den afrikanischen Ländern als Steuern entgangen sind – auch in Mali, wo das Steueraufkommen von internationalen Bergaukonzernen gerade mal 10 Prozent ihrer Nettogewinne entspricht. Die Liste ließe sich beliebig verlängern, aber bereits die wenigen Beispiele dürften verständlich machen, weshalb viele Entwicklungsökonom_innen die 1980er und 1990er Jahre als “verlorene Dekaden” bezeichnen. Wirtschaftlich bergauf ging es erst wieder in den frühen 2000er Jahren. Damals zogen die Rohstoffpreise an, was vor allem in Nord- und Ostafrika – mit Abstrichen auch in Westafrika – zu ungewöhnlich hohen Wachstumsraten führte. Alle Welt frohlockte – nicht nur der taz-Journalist Dominic Johnson sah bereits den “afrikanischen Löwen” kurz vor dem Sprung, auch in einem Beitrag für die “Blätter” (4/2011). Doch 2015 kippte die Stimmung erneut. Die Rohstoffpreise sanken, zudem zeichneten sich neue Verschuldungendynamiken ab, unter anderem in Ghana, das zu den wirtschaftlich stärksten Ländern in Wesafrika gehört.
Insgesamt zeigt die Entwicklung seit 1960, dass die ökonomische Marginalisierung des afrikanischen Kontinents kein Betriebsunfall ist. Dass Afrikas Anteil an der globalen Industrieproduktion heute weniger als 1 Prozent beträgt (samt einer Landwirtschaft, in der vielerorts Hacke, Machete und Feuer weiterhin als zentrale Arbeitsmittel fungieren), verweist auf eine globale Arbeitsteilung, die in dieser Form gewollt war: Afrika sollte Rohstoffe liefern und industrielle Fertigprodukte abnehmen, in jüngerer Zeit auch als Investitionsstandort für überschüssiges Kapital herhalten, unter anderem bei Geschäften mit Ackerland. Andere Optionen spielten für die Industrieländer – ähnlich wie für China heute – keine entscheidende Rolle, vor allem wurden zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen unternommen, Afrika pro-aktiv darin zu unterstützen, den Fußfesseln des weiterhin kolonial imprägnierten Weltmarktes zu entkommen. Dies zeigt auch eine Industrialisierungsbremse ganz anderer Art: Der IWF geht davon aus, dass Afrika pro Jahr bis zu 175 Milliarden Euro durch illegale Steuerhinterziehung verloren gehen, insbesondere seitens transnationaler Konzerne. Andere Studien veranschlagen niedrigere Zahlen. Das ändert aber nichts an dem Umstand, dass diese für afrikanische Verhältnisse exorbitant hohen Summen durch ernsthafte Kapitalverkehrskontrollen, faire Doppelsteuerabkommen und ähnliche Maßnahmen im Sinne steuerlicher Gerechtigkeit abgeschöpft, d.h. in die öffentlichen Kassen umgelenkt werden könnten. Einziger Haken: Es fehlt der diesbezügliche Wille, nicht nur auf westlicher, sondern auch auf afrikanischer Seite, was einmal mehr die Frage aufwirft, auf welche (Ab-)Wegen die politische Klasse in (West-)Afrika wandelt.
Schlechte Regierungsführung und westliche Interessenpolitik
Ob milliardenschwere Industrieruinen, Alimentierung riesiger Patronagenetzwerke aus öffentlichen Kassen oder gefälschte Wahlen – es gibt viele Gründe, weshalb die politische Klasse afrikanischer Länder immer wieder am Pranger steht, nicht zuletzt in Afrika selbst. Denn Fakt ist, dass schlechte Regierungsführung die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten massiv torpediert hat. Genauso wenig sollte in Vergessenheit geraten, dass es afrikanische Regierungen gewesen sind, die als inländische Vollstreckungshelfer Steuergeschenke, Strukturanpassungsprogramme oder den Ausverkauf von Bergbaukonzessionen unter Wert überhaupt erst möglich gemacht haben. Dies zeigt auch: Die in der öffentlichen Debatte immer wieder ventilierte These, wonach nicht westliche Interessenpolitik, sondern schlechte Regierungsführung als das eigentliche Hauptübel Afrikas zu gelten habe, ist ein Pseudogegensatz, der die wechselseitige Abhängigkeit beider Dimensionen verkennt. Demgegenüber lautet die wirklich wichtige Frage, worin die Ursachen für die Herausbildung derart hemmungslos um die eigenen Interessen kreisender Führungscliquen liegen. Denn auch hier konkurrieren zwei Lesarten: Die einen – darunter afrikanische Akteure – operieren mit der These, wonach das kritisierte Verhalten Ausdruck all jener tief in der afrikanischen Kultur verankerten Werte sei, sich wechselseitig zu unterstützen und Respekt zu zollen (Geschenke als Kitt der Gesellschaft). Andere halten solche Positionen für fatal: Der Mainzer Ethnologe Thomas Bierschenk bestreitet ausdrücklich, dass es eine afrikanische “Essenz” bzw. “Maserung” des Staates gäbe [4]. Er plädiert vielmehr für dessen Historisierung, ebenfalls beginnend beim kolonialen Erbe:
Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich der koloniale Staat zum repressiven Kommandostaat – ohne Gewaltenteilung und Rechenschaftspflicht. Eine Partizipation seitens der Bevölkerung bestand nicht, die große Diversität vorkolonialer Systeme von checks and balances war aufgehoben. Stattdessen erfolgte die Einsetzung so genannter Chiefs und anderer Co-Eliten. Sie erledigten die alltägliche Arbeit für die Kolonialmächte, wozu vor allem die wirtschaftliche und infrastrukturelle Zurichtigung der Kolonien gehörte, inklusive Steuererhebung und Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften und Soldaten. Umso folgenreicher, ja tragischer war, dass die jungen Regierungen mangels Alternativen ausgerechnet dieses despotische Gebilde übernommen, nicht aber umgebaut haben. Krisenverschärfend wirkte zudem, dass die Unabhängigkeitsführer_innen auf ihr neues Tätigkeitsfeld in keiner Form vorbereitet waren, während gleichzeitig westliche Wert- und Ordnungsvorstellungen eine herausragende Rolle spielten. Viele Angehörige der neuen Politikergeneration hatten in Europa studiert oder kleinere Positionen in der Kolonialverwaltung bekleidet. Einige der späteren Staatsführer waren sogar Mitglieder des französischen Parlaments gewesen, und das mit hochgradig paradoxen Effekten. Beispielsweise musste der langjährige Präsident der Elfenbeinküste Félix Houphouët-Boigny vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle buchstäblich zur Unabhängigkeit seines Landes gedrängt werden. Der Befreiungstheoretiker Frantz Fanon hat hierfür die berühmte Formulierung “Schwarze Haut, weiße Masken” geprägt. In seinem 1961 erschienen Klassiker “Die Verdammten dieser Erde” schreibt er: „Der kolonisierte Intellektuelle lässt seine Aggressivität dem kaum verhüllten Willen zugutekommen, sich der kolonialen Welt anzupassen. Er stellt seine Aggressivität in den Dienst seiner eigenen, seiner individuellen Interessen. So entsteht leicht eine Klasse von individuell befreiten Sklaven, von Freigelassenen.” Auch auf dem afrikanischen Kontinent galt also: Die Befreiung fraß ihre Kinder, viele Unabhängigkeitsführer reagierten auf die erheblichen politischen und ökonomischen Schwierigkeiten mit Einführung von Einparteienregimen. Korruption und Vetternwirtschaft nahmen dramatisch zu, Militärputsche und sämtliche Spielarten autoritärer Herrschaft wurden gleichsam zur Normalität. Kein Land in Westafrika blieb hiervon verschont.
Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden in den meisten Ländern Mehrparteiensysteme eingeführt. Manche Historiker_innen verbinden dies mit der Einschätzung, dass die Einschnitte auf politischer Ebene im Epochenjahr 1990 tiefgreifender waren als die im viel zitierten Unabhängigkeitsjahr 1960 – vor allem hinsichtlich der Ausübung politisch-ziviler (Menschen-)Rechte. Und doch: Die grundsätzlichen Schwierigkeiten waren damit keineswegs behoben. Vielmehr haben die Haushaltskürzungen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme die Steuerungskapazitäten der einzelnen Länder massiv eingeschränkt, was wiederum schlechter Regierungsführung erheblich Vorschub geleistet hat – einschließlich antidemokratischer Tendenzen. Eines der diesbezüglich prominentesten Beispiele dürfte der Umstand sein, dass bis heute die ehemaligen Kolonialsprachen als offizielle Regierungs- und Verwaltungssprachen fungieren – und das obwohl in vielen Ländern (West-)Afrikas gerade mal 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung englisch, französisch oder portugiesisch beherrschen. Verstörende Konsequenz: Die große Mehrheit der Bewohner_innen kann den Verlautbarungen ihrer Politiker_innen und Regierungen nicht oder nur rudimentär folgen und somit ihrer Rolle als Souverän noch nicht einmal theoretisch gerecht werden. Hinzu kommt, dass offizielle Formulare, Gesetzestexte, Verordnungen etc. oftmals unzugänglich bleiben, was die ohnehin dominante Informalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten einmal mehr forciert.
Zurück zur Entstehungsgeschichte schlechter Regierungsführung. Es würde zu kurz greifen, postkoloniale Eliten lediglich als gedemütigte und ihrer ökonomischen Steuerungskomptenz beraubte Wiedergänger kolonialer Herrschaft zu begreifen. Nicht minder bedeutsam ist der Umstand, dass Europa – häufig vertreten durch Frankreich – immer dann schlechte Regierungsführung geduldet oder gar vorangetrieben hat, wenn dies wegen eigener Interessen angezeigt erschien. Aktuell etwa in Togo, wo seit über 51 Jahren eine Familiendiktatur fest im Sattel sitzt: Die jüngsten Parlamentswahlen im Dezember 2018 wurden von der gesamten Opposition boykottiert, schlicht deshalb, weil aus ihrer Sicht Wahlen unter der Ägide des Autokraten Faure Gnassingbé einzig zur Legitimierung des Status quo beitragen, nicht aber zu echter Veränderung führen können. Gleichwohl spricht die deutsche Bundesregierung davon, dass sich Togo in einem “Demokratisierungs-, Versöhnungs- und Reformprozess” befinde. Hintergrund ist, dass Togo als wichtiger Bündnispartner gegen islamistische Terroristen in Westafrika gilt, was auch der Grund dafür ist, weshalb sich die deutsche Bundeswehr an der UN-Friedensmission in Mali beteiligt. Derlei Beispiele gibt es unzählige aus den letzten Jahrzehnten, das dramatischste dürfte sicherlich die Ermordung von Thomas Sankara in Burkina Faso im Oktober 1987 gewesen sein. Denn Thomas Sankara ist – zusammen mit Nelson Mandela und dem früh ermordeten Patrice Lumumba – einer der ganz wenigen Staatschefs im unabhängigen Afrika gewesen, der mit seinem praktischen Tun tatsächlich für einen Bruch mit der Vergangenheit eingestanden ist. Hierzu gehörte auch (und dieser Zusammenhang ist wichtig), dass er in seiner bekanntesten Rede am 29. Juli 1987 bei der Afrikanischen Union in Addis Abeba die anderen afrikanischen Staatschefs zu einem kollektiven Schuldenrückzahlungsboykott aufgefordert hat. Nicht einmal drei Monate später war er tot, ermordet von seinem Mitstreiter Blaise Compaoré, der sich fortan als starker Mann Frankreichs bzw. Europas in Westafrika gerieren konnte.
Fluchtursachen bekämpfen, aber richtig
Zu Recht ist von Fluchtursachen meist nur im Plural die Rede und doch sollten sie immer im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen in einzelnen Ländern oder Regionen betrachtet werden. In diesem Sinne seien abschließend acht zentrale Forderungen zur Debatte gestellt:
Erstens sollte Europa im ökonomischen Bereich auf jede Form toxischer, d.h. auf Verdrängung, Ausbeutung oder Zerstörung basierender Strategien ausdrücklich verzichten (asymmetrische Handelsabkommen, Strukturanpassungsprogramme, Land- und Fishgrabbing etc.). Zweitens gilt es, sowohl den Aufbau von Industrieclustern in afrikanischen Ländern pro-aktiv zu fördern (Ausbildung, Infrastruktur, Technologietransfer etc.), als auch Exporte nach Europa – selbst dann, wenn diese in Preis und Qualität (noch) nicht konkurrenzfähig sind. Europa sollte drittens – ebenfalls im Rahmen einer pro-aktiven Haltung – faire Preise für agrarische und mineralische Rohstoffe zahlen, ggf. auch über dem Weltmarktniveau. Viertens gilt es, afrikanische Länder im Aufbau einer umfassenden Infrastruktur zu unterstützen, unter anderem in den Bereichen Verkehr, Gesundheitsversorgung, Energie, Wasser, Wohnen, sanitäre Einrichtungen und Bildung. Fünftens ist eine systematische Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft nötig – auch im Rahmen umfassender Anpassungsmaßnahmen an die Folgen des Klimawandels. Hierfür hat der 2008 veröffentlichte Weltagrarbericht bereits wichtige Leitplanken formuliert, auch was die zentrale Bedeutung agrarökologischer Methoden betrifft. Sechstens sollte Europa die Weiterentwicklung staatlicher Institutionen und zivilgesellschaftlicher Strukturen fördern. Dies erfordert umgekehrt, auf die enge Kooperation mit solchen Regierungen zu verzichten, für die schlechte Regierungsführung konstitutiv ist. Siebtens sollten Migrant_innen in ihren Rechten gestärkt, nicht bekämpft werden. Bezugspunkte hierfür sind unter anderem die UN-Wanderarbeiter_innenkonvention und der jüngst verabschiedete UN-Migrationspakt. Achtens setzen sämtliche dieser und weiterer Maßnahmen voraus, dass sich Europa selbstkritisch mit seiner Geschichte gegenüber Afrika auseinandersetzt, auch mit Blick auf Rassismus und kolonial aufgeladene Überlegenheitsphantasien. In diesem Zusammenhang ist insbesondere ein echtes Bekenntnis Europas zu seiner historischen Verantwortung überfällig – samt seiner Bereitschaft, die hier aufgelisteten Maßnahmen als Reparationen nicht nur für koloniales Unrecht, sondern auch für die Auswirkungen des in Afrika bereits heute besonders heftig spürbaren Klimawandels zu begreifen.
Fußnoten
[1] In Anlehnung an den alle zwei Jahre erscheinenden Migrationsberichts der UN werden unter dem Terminus “Migrant_innen” sowohl Migrant_innen als auch Geflüchtete gefasst.
[2] Vgl. zu den Ausführungen in diesem Abschnitt: Olaf Bernau, Zwischen Gewalt, Sachzwang und alltäglicher Praxis. Zur Geschichte von Migration und Flucht in bzw. aus Afrika. Unterrichtsmaterialien (2018), 83 Seiten: www.afrika-gibt-es-nicht.de
[3] Olaf Bernau, Anlageplatz Afrika: Das Ende der Entwicklungshilfe? »Blätter« 9/2017
[4] Thomas Bierschenk, Staaten in Arbeit, und arbeitende Staaten in Afrika: Sedimentierungen, Fragmentierung und normative Dilemmata. In: Thomas Bierschenk, Eva Spieß (Hg), 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika. Kontinuitäten, Brüche, Perspektiven, Köln 2012
+++++++++++++
Olaf Bernau, geb. 1969 in Ulm, Journalist und Referent für Erwachsenenbildung, ehrenamtlich aktiv im Koordinationskreis des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact.