Oktober 2013 | Kritische Anmerkungen zu Helmut Dietrichs Aufsatz „Nord-Mali / Azawad im Kontext der Arabellion“
Von NoLager Bremen (aktiv bei Afrique-Europe-Interact). Erschienen in: Sozial.Geschichte Online, 11/2013)
Unter dem Titel Nord-Mali/Azawad im Kontext der Arabellion hat Helmut Dietrich von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration jüngst in der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online (Heft 10/2013) einen Text veröffentlicht, in dem er am Beispiel Nord-Malis der Frage nachgeht, inwiefern die an verschiedenen Orten der Sahara zwischen Herbst 2010 und Ende 2011 periodisch aufgeflammten Jugendproteste als Teil jenes „historischen Bruchs“ zu begreifen wären, die als „Arabellion“ oder „Arabischer Frühling“ bekannt geworden sind. Der Artikel berührt eine Vielfalt an Fragen und Themen (so vielfältig, wie jene Region halt ist), wobei drei Thesen im Zentrum stehen: Erstens, dass der im Januar 2012 begonnene Tuareg-Aufstand der MNLA („Mouvement national de libération de l'Azawad“) seinen Ausgang von Protestversammlungen von rebellierenden Jugendlichen in Sahara-Städten wie Timbuktu genommen habe, bei denen vor allem der „ungerechte Umgang mit der Region“ durch die Zentralregierung in Bamako sowie die Vertreibung der Armen kritisiert worden seien (letzteres auch im Zuge einer sich seit Anfang 2010 regional zugespitzt habenden Hungersnot). Zweitens, dass diesen Protesten kein nationalistischer Impuls zugrunde gelegen habe, sondern ein inklusives Verständnis des so genannten „Volkes des Azawad“ – bestehend insbesondere aus Peulhs, Songhais, Tuareg und Arabern. Und drittens, dass es seit Oktober 2011 zu einer „Militarisierung“ dieser Jugendrebellion gekommen wäre, die am 6. April in die vorübergehende Eroberung des gesamten Nordens Malis durch die Tuareg-Rebellen der MNLA eingemündet sei (bevor diese ihrerseits von islamistischen Milizen verdrängt wurden).
Insgesamt liest sich dies wie ein flüssiger, offenkundig sozialrevolutionär inspirierter Plot, und dennoch handelt es sich um eine äußerst problematische Argumentation – mit partieller Ausnahme der ersten These, die einen wichtigen Baustein für das bessere Verständnis der sich laut Helmut Dietrich „selbstständig und gleichzeitig“ reproduzierenden Aufstände weltweit darstellt (nicht zuletzt durch ihre Fokussierung auf die Hungerproblematik als einen der zentralen Faktoren). Denn mit der 'Herleitung' der MNLA aus einer weltoffenen Jugendrebellion leistet Helmut Dietrich einer Romantisierung des selbst innerhalb der Tuareg-Community nur von einer Minderheit unterstützten Aufstandes der MNLA Vorschub. Zugleich wird mit dem von der public relations-Abteilung der MNLA gezielt ventilierten Konstrukt eines „Volkes des Azawad“ just jener nationalisierende Diskurs reproduziert, den Helmut Dietrich eigentlich vehement kritisiert.
Nun ist uns durchaus bewusst, dass solche Fragen für viele, deren politischer Schwerpunkt auf Kämpfen hierzulande liegt, nicht all zu relevant sind. Umgekehrt geht es uns als einer an dem transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact beteiligten Gruppe naturgemäß anders. Denn etliche unserer MitstreiterInnen sind in Mali zu Hause und daher unmittelbar von den jüngsten Auseinandersetzungen im Norden betroffen – einschließlich der Frage, welchen (an den Interessen der 'ganz normalen' Menschen orientierten) Beitrag soziale Basisbewegungen zur Lösung der aktuellen Mehrfachkrise in Mali leisten könnten. Insofern möchten wir die Ausführungen von Helmut Dietrich nicht unkommentiert stehen lassen – abgesehen davon, dass auch weitere Gründe für eine offen ausgetragene Debatte sprechen: Erstens, dass es im politischen Tagesgeschaft immer wieder freundschaftliche Berührungspunkte mit Helmut Dietrich bzw. der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration gibt. Zweitens, dass der positive Bezug auf das vermeintlich fortschrittliche Azawad-Volk (und somit den Aufstand der MNLA) auch bei anderen AutorInnen anzutreffen ist – stellvertretend erwähnt seien die in Freiburg ansässige Initiative Menschenrechte 3000 (http://www.menschenrechte3000.de/), die unter anderem maßgeblich am „uranium-network“ beteiligt ist sowie Firoze Manji, den Gründer des panafrikanischen Internetportals Pambazuka News (http://www.kontext-tv.de/sendung/02052013/wsf-tunis-2/mali-intervention-neoliberalismus). Drittens, dass in unseren Augen eine der Herausforderungen transnationaler Arbeit explizit darin besteht, die zur so genannten Peripherie degradierten Weltregionen wieder stärker ins politische Bewusstein sozialer Bewegungen im metropolitanen Europa zurückzuholen.
In diesem Sinne einige knappe Anmerkungen zu besagtem Text:
a) Die von Helmut Dietrich erwähnten Jugendaufstände im Norden Malis (von denen es auch Pendants in Algerien und Mauretanien gegeben haben soll) seien anfangs von der am 1. November 2010 gegründeten MNA („Mouvement National de l'Azawad“) getragen worden, deren Diskurs, so der Autor, nicht „ethnisch ausgerichtet, nicht verschweigend, sondern inklusiv, weltläufig und flüssig“ gewesen sei und die sich dementsprechend aus Angehörigen unterschiedlicher im Norden lebender (Sprach-)Gruppen wie Peuhls, Songhais, Tuareg etc. zusammengesetzt habe. Es scheint daher auch folgerichtig, dass Helmut Dietrich zustimmend die Ausführungen des damaligen Kommunikationsbeauftragten der MNA zum so genannten „Volk des Azawad“ zitiert, in denen es unter anderem heißt: „Das Volk des Azawad ist unruhig, weil diese Probleme [diejenigen des Nordens – NoLager Bremen] nicht zur Kenntnis genommen werden. Es fragt (…) nach dem Grund für das Schweigen der internationalen Gemeinschaft angesichts der Gefahr des Verschwinden eines Volkes.“ Einziges Manko: Ein „Volk“ oder eine Bewegung des „Azawad“ existiert nicht. Vielmehr handelt es sich um ein rein diskursives, in keinerlei geschichtlichen Prozessen verankertes Konstrukt, mit dem die MNLA unverdrossen versucht, ihren von Anfang an relativ isolierten Aufstand politisch zu rechtfertigen. Und daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass die jugendlichen ProtagonistInnen der von Helmut Dietrich völlig zu Recht als direkte „Vorläuferorganisation“ der MNLA charakterisierten MNA anfangs anderes im Kopf gehabt haben mögen (wie auch AktivistInnen von der an Afrique-Europe-Interact beteiligten Mouvement sans Voix (MSV) aus Bamako bestätigen, die anfangs mit der MNA zusammengearbeitet haben). Denn die MNA wurde buchstäblich von der MNLA geschluckt (mit der Konsequenz, dass erstere im rasenden Tempo ihre zwischenzeitliche Massenbasis verloren hat, so Fasery Traoré von der MSV aus Bamako), während die MNLA wiederum – das zeigen bereits ihre maßgeblichen Kader – eine fast ausschließlich von Tuareg getragene und somit alles andere als pluralistische Organisation ist (und zwar unabhängig davon, dass es ihr gelungen ist, einzelne Mitglieder aus der Gründergeneration der MNA als Web 2.0-affine ÖffentlichkeitsarbeiterInnen zu gewinnen und dadurch von dem progressiven Image der MNA zu profitieren).
Konkreter: Es stimmt zwar, dass es unter großen Teilen der im Norden lebenden Bevölkerung (allerdings nicht nur dieser, wie noch zu zeigen sein wird) massive Kritik an den klepokratisch-klientelistischen Eliten in der Hauptstadt Bamako gibt, vor allem an der Politik des im vergangenen Jahr gestürzten Präsidenten Amadou Toumani Touré, der jahrelang die verschiedenen Gruppen des Nordens gezielt gegeneinander ausgespielt hat, um auf diese Weise seine klammheimliche, von Helmut Dietrich ebenfalls beschriebene Kooperation mit islamistischen Gruppen im Norden fortzusetzen (und das nicht nur bei Drogengeschäften). Allerdings hat das jenseits der Tuareg-Communities niemand im Namen einer wie auch immer gearteten nordmalischen Azawad-Identität getan. Im Gegenteil: Der erklärtermaßen auf ein unabhängiges Azawad zielende Aufstand der MNLA war von Anfang an bei den übrigen Bevölkerungsgruppen des Nordens regelrecht verhasst (wie vielerorts nachzulesen ist), insbesondere aufgrund der massiven Zerstörungen öffentlicher Infrastruktur, der Plünderungen privater und öffentlicher Gebäude bzw. Geschäfte sowie der zahlreichen Vergewaltigungen durch MNLA-Rebellen in den ersten drei Monaten des Aufstands (inklusive des bis heute nicht aufgeklärten Massakers an 82 malischen Soldaten in Aguelhoc im Januar 2012). Stattdessen wurde immer wieder betont, dass im Norden sämtliche Gruppen Minderheiten seien – und nicht etwa nur die Tuareg, bezüglich derer die MNLA (in Fortführung des diesbezüglichen MNA-Diskurses) das Recht auf indigene Selbstbestimmung reklamiert. Entsprechend ist es auch kaum verwunderlich, dass sich weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart irgendwelche Gruppen jenseits der Tuareg für die Existenz eines Gebildes namens Azawad ausgesprochen haben. Was zirkuliert, sind vielmehr diverse Erklärungen, in denen sich verschiedenste im Norden beheimatete Communites als Teil der malischen Gesellschaft positionieren, ohne jedoch den malischen Staat in irgendeiner Form mit Kritik zu verschonen. Und genau so haben es auch AktivistInnen der europäische Sektion von Afrique-Europe-Interact im März 2013 bei einer Delegationsreise nach Mali erlebt: Bei Gesprächen mit Vertriebenen aus dem Norden (die seinerzeit in Bamako untergekommen waren) wurde immer wieder betont, dass sämtliche im Norden Malis lebenden Menschen im gleichen Boot säßen, dass daraus allerdings keinerlei Autonomie- oder Unabhängigkeitswünsche resultieren würden (oder etwaige identitäre Azawad-Gestimmtheiten), ganz zu schweigen davon (und dies wurde ebenfalls immer wieder geäußert), dass legitime Kritik keinesfalls bedeuten würde, diese auch mit der Waffe durchsetzen zu dürfen.
Ähnlich bei den Tuareg, die ebenfalls alles andere als homogen sind, wie der Tuaregnahe (und von vielen als Quasi-Insider betrachtete) Journalist Andy Morgan in einem am 4. Februar 2013 veröffentlichten Aufsatz unter dem programmatischen Titel „Secular nationalist? Loyalist? Die-hard Islamist? What are the currents of opinion among the Touareg of Northern Mali? “ hervorhebt. Danach würde zwar eine Mehrheit der Tuareg den Traum eines eigenen Tuareg-Siedlungsgebiets unverändert hegen, dennoch gäbe es viele, die sich aus prinzipiellen oder pragmatischen Gründen als so genannte LoyalistInnen verstehen würden (d.h. als ganz normale Mitglieder der malischen Gesellschaft) – darunter Angehörige von der Iwellemeden-Konföderation der Menaka-Region, von den Kel Antessar aus Timbuktu und Goundam sowie von den Chamanamas aus der Region Gao (wobei in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt sei, dass zu den LoyalistInnen nicht zuletzt die zahlenmäßig überproportional große Gruppe der Bellah gehört, das heißt der fast ausschließlich schwarzen Vasallen- und Ex-Sklaven-Kaste der Tuareg).
b) Militarisierung: Diesbezüglich schreibt Helmut Dietrich von einem „militärischen Schwenk der nordmalischen Aktivisten“, der eine „zivile Aufstandsphase“ zwischen Mitte 2010 und Oktober 2011 vorausgegangen sei. Auch diese These scheint mehr als fragwürdig. Denn die so genannten Vorstadt-Jugendlichen der MNA waren nur ein sehr kleiner Teil derer, die sich im militärischen Aufstand der MNLA wiedergefunden haben. Stattdessen sind neue (aber aus früheren Zeiten bestens bekannte) Akteure auf den Plan getreten, die bereits umfassend militarisiert waren und daher keineswegs der Inspiration durch die Militarisierung der Aufstände in Libyen und Syrien bedurft haben (wie indes Helmut Dietrich vermutet). Gemeint sind hiermit zum einen die nach dem Sturz Gadaffis schwerbewaffnet aus Libyen zurückgekehreten Tuareg-Söldner, zum anderen die islamistischen Kräfte (ob aus der Region selbst oder eingeflogen). Denn es sollte nicht aus dem Blick geraten, dass MNLA und Islamisten bereits zu Beginn des Tuareg-Aufstandes eng miteinander kooperiert haben, wozu auch passt, dass nach dem Sieg der Islamisten im Juni 2012 viele Angehörige der MNLA direkt zur islamistischen Ansar Dine-Miliz übergelaufen sind (was seinerseits mehr als deutlich machen dürfte, dass die weltoffen daherherkommende Rhetorik der MNLA in erster Linie ihrer Imagewerbung dient, nicht aber Ausdruck eines real im Aufstand verankerten progressiven Bewusstseins der so genannten Azawad-Bewegung ist). Hinzu kommt, dass viele BeobachterInnen allein wegen der riesigen Waffenlager davon ausgehen, dass die militärische Rebellion mehrere Jahre lang vorbereitet worden sein muss. Der bereits erwähnte Andy Morgan glaubt etwa, dass der langjährige (unter ungeklärten Umständen im August 2011 ums Leben gekommene) Tuaregführer Ibrahim Ag Bahanga den jüngsten Tuareg-Aufstand bereits seit 2009 von Libyen aus geplant habe (so wie auch das zwischen 1994 und 2011 in Nord-Mali gelebt habende Autoren-Team Rocksloh-Papendieck/Papendieck in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung darauf hinweist, dass die MNLA in ihrem Gründungsprozess insbesondere auf die noch aus den 1990er Jahren übrig gebliebenen militärischen Kerne der Tuareg-Rebellenorganisationen ARLA und FPLA zurückgegriffen hätte). Kurzum: Es ist ein handfester Trugschluss, im Falle der MNA von einer Militarisierung des Aufstands zu sprechen, womit zugleich eine mehr oder weniger große personelle Überschneidung bzw. Kontinuität zur MNLA suggeriert wird. Vielmehr scheint es so, dass die GründerInnen der von Helmut Dietrich mit derart viel Lob bedachten MNA ohne die geringsten Skrupel ihre zweite politische Heimat in der MNLA gefunden haben. Und zwar unbeschadet dessen, dass der Anfang 2012 begonnene Aufstand noch nicht einmal innerhalb der Tuareg-Community auf großen Zuspruch gestoßen ist, sondern in erster Linie von einigen schon seit jeher zur Tuareg-Elite gehörenden Clans (vor allem rund um Kidal) getragen wird und somit zunächst einmal als Ausdruck hochgradig partikularistischer an eigenen ökonomischen und politischen Einflusssphären orientierter Interessenpolitik zu sehen ist.
c) Zu den Hintergründen des Aufstands: Hier benennt Helmut Dietrich zwar ganz verschiedene Motivlagen, bedient im Fahrwasser der von ihm länglich zitierten MNA allerdings auch die mittlerweile selbst von Tuaregnahen AutorInnen ausdrücklich in Frage gestellte These der diskriminierenden Lebensumstände, welche die MNLA zum neuerlichen Aufstand gedrängt hätten. Denn dreierlei ist kaum von der Hand zu weisen (zumindest vor dem Hintergrund, dass es bis Anfang der 1990er Jahre tatsächlich eine erhebliche politische, ökonomische und kulturelle Diskriminierung der Tuareg gegeben hat): Erstens, dass in Mali als einem der ökonomisch ärmsten und zudem mit am stärksten von klimawandelbedingter Trockenheit betroffenen Länder der Welt nicht nur die Bevölkerung im Norden, sondern das gesamte Land unter der massiven Korruption der politischen Klasse in Bamako leidet (inklusive der in den letzten 20 Jahren durch sämtliche Regierungen 'mustergültig' durchgeboxten Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank). Zweitens, dass gerade die Region Kidal (als Hort des aktuellen Aufstands) im Zuge der Friedensabschlüsse 1996 und 2006 ökonomisch vergleichsweise gut da steht. Beispielsweise heben Rocksloh-Papendieck/Papendieck hervor, dass manche Infrastruktureinrichtungen in der Stadt Kidal für das zehnfache der Bevölkerung ausgelegt seien oder dass im Vergleich zum restlichen Mali der Standard von Orten wie Tessalit oder Aguelhoc eher „am oberen Ende angesiedelt“ sei. Und drittens, dass die den jüngsten Aufstand maßgeblich auf den Weg gebracht habenden Tuareg-Eliten (ob laizistisch oder islamistisch orientiert) selber massiv in die von ihnen öffentlich beklagte Veruntreuung der für den Norden vorgesehenen Entwicklungshilfegelder involviert waren. Problematisch ist in diesem Zusammanhang zudem, dass Helmut Dietrich zwar explizit darauf hinweist, dass viele Mitglieder der MNA ihre „sozialen Aspirationen“ im Zuge ihrer schulischen oder universitären Ausbildung in „vergleichsweise prosperierenden Wüstenstaaten“ wie Libyen, Algerien, Saudi Arabien oder Katar entwickelt hätten (und nicht im Abgleich mit der durchschnttlichen Lebensrealität in Mali), just dies allerdings nicht kritisch in Frage stellt, sondern vielmehr als transnationale (Aneignungs-)Errungenschaft interpretiert. Denn so verständlich es ist, dass niemand in solcher Armut leben möchte, wie sie im Norden Malis de facto herrscht (jedenfalls gemessen an wirklich würdigen Lebensbedingungen), so fragwürdig und partikularistisch ist es dennoch, wenn unter solchen Voraussetzung eine einzelne Gruppe loszieht und mit Waffengewalt das für sich durchsetzen möchte, was der Mehrheit ebenfalls fehlt (und dabei sogar in Kauf nimmt, dass ein riesiges Land mit 15 Millionen EinwohnerInnen noch stärker in den Abgrund gerissen wird, als es ohnehin bereits der Fall ist).
d) Es dürfte deutlich geworden sein, dass es aus unserer Sicht schlicht falsch ist, wenn Helmut Dietrich unter der programmatisch Überschrift „Die soziale Basis des Aufstands“ die MNLA auf die jugendliche Massenbasis der MNA zurückführt und aus dieser Engführung ausgerechnet den anti-unversalistischen Ego-Aufstand der MNLA in einen progressiven Kontext einzuordnen versucht (zumal die protestierenden Jugendlichen wenig mit der bereits von der MNA propagierten Azawad-Identität am Hut hatten). Vielversprechender scheinen stattdessen Ansätze, die nicht spezifische Anknüpfungspunkte in einer bestimmten Region oder gar in einem (vermeintlichen) Volk suchen, sondern in sozialen Bewegungen, die für eine Veränderung der gesamten Gesellschaft eintreten – wie es bei manchen der von Helmut Dietrich zitierten Jugendaufstände im Nord-Mali anfangs gewiss der Fall gewesen ist. Oder zugespitzter: Es macht einfach keinen Sinn, lobend ein Strategiepapier der MNA zu erwähnen, welches einen „allmählichen und irreversiblen Vertrauensverlust zwischen nördlichen Communities und Zentralregierung“ ins Zentrum rückt. Denn just jener Bruch – und nur auf diesen kommt es an – ist keineswegs auf den Norden Malis beschränkt (wie aber das MNA-Papier in krypto-partikularistischer Gesinnung behauptet und damit einen identitär aufgeladenen Nord-Süd-Gegensatz heraufbeschwört). Vielmehr handelt es sich um ein breiteres Phänomen – nicht nur in Mali, sondern überall in Westafrika, weshalb es auch ungleich näher gelegen hätte, nicht den MNLA-Aufstand in den Kontext der Arabellion einzuordnen, sondern den demokratischen Aufbruch, der sich im Anschluss an den von großen Teilen der südlichen und (sic) nördlichen Bevölkerung Malis bis heute begrüßten Putsch gegen die politische Klasse rund um Ex-Präsident Amadou Toumani Touré im März 2012 entwickelt hat.
Vor diesem Hintergrund sei abschließend auch betont, dass die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact am 4. Mai eine eintägige (Friedens-)Konferenz mit 300 VertreterInnen aus allen gesellschaftlichen Bereichen Malis veranstaltet hat (inklusive Tuareg und Vertriebenen aus dem Norden), und zwar ausgehend von zwei Prämissen: Einerseits, dass jedes „Amalgam“ zu vermeiden sei – also die Ineinssetzung von Rebellen, Terroristen und Drogenhändlern mit Tuareg oder Arabern. wie sie insbesondere in den ersten Wochen der französischen Militärintervention in zahlreichen Übergriffen der malichen Armee gegenüber vermeintlichen Kollaborateuren aus den Tuareg- bzw. arabischen Communitys zum Ausdruck gekommen ist. Andererseits, dass auf dieser Basis ein interkommunitärer auf drei Ebenen angesiedelter Dialog erfolgen müsse: Unter den Tuareg selbst (auch mit Blick auf die Diskriminierung schwarzer Tuareg – den oben bereits erwähtnten Bellah), unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Nordens sowie unter sämtlichen Teilen der malischen Bevölkerung. Ziel eines solchen Dialogs solle dabei ein neuer „sozialer Vertrag“ zwischen Bevölkerung und Regierung bzw. der gesamten politischen Sphäre sein, weshalb die Konferenz seitens der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact lediglich als Auftakt für einen langfristig ausgerichteten Organisierungsprozess bezeichnet wurde.
Mehr Hintergrundinformationen zur Krise in Mali (unter besonderer Berücksichtigung des Konflikts im Norden) finden sich an folgender Stelle auf unserer Webseite: http://afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=682&clang=0