01. Dezember 2019 | Dschihadismus im Alltag. Zum Rauchen in den Wald, mit Angst auf‘s Feld
Erschienen in der Zeitung Nr. 10 von Afrique-Europe-Interact (Dezember 2019)
Weltweit sinkt die Anzahl islamistischer Terroranschläge. Nur in wenigen Regionen steigt sie, so auch im Sahel. Dort sind wir als Afrique-Europe-Interact in Gegenden aktiv, in denen Dschihadismus eine immer größere Rolle spielt. Davon tagtäglich betroffen sind unsere Mittstreiter*innen von der kleinbäuerlichen Basisgewerkschaft COPON, mit denen wir im November während einer Delegationsreise gesprochen haben. Wir dokumentieren hier die Eindrücke einiger Aktivist*innen der COPON, die ihre richtigen Namen nicht genannt haben wollen. In ihrer Gegend sind vor allem Einheiten aktiv, die sich der Macina-Befreiungsfront unter Führung von Amadou Kouffa zuordnen. Die Erfahrungen unser Mitstreiter*innen machen deutlich, dass Islamisten nicht nur töten, sondern Schritt für Schritt den Alltag durchdringen, soziales Leben zerstören und bäuerliche Organisierung erschweren.
Eher Banditen als gute Muslime
Während wir unter einem alten Mangobaum auf den zweiten Aufguss des zuckrig-starken Grüntees warten, trifft Ousmane ein. Er ist Fulbe und stellt klar: Es stimmt, dass die meisten Dschihadisten Fulbe sind, aber es sind auch die Fulbe – die anderen 99 Prozent –, die unter dem Dschihadismus am meisten leiden [*]. Nicht nur sind wir direkt von der dschihadistischen Unterdrückung betroffen, nein, wir werden auch immer stärker diskriminiert – als seien wir alle Terrorismusunterstützer. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen werden so immer mehr gegeneinander aufgebracht. In der COPON sind wir viele Fulbe, aber es sind auch Bambara, Dogon und Bozo dabei. Die Gewerkschaft ist wichtig für den sozialen Zusammenhalt. Den Dschihadisten schließen sich vor allem junge arme Fulbe-Hirten an. Die Macina-Befreiungsbewegung stellt sich als Fürsprecher dieser Schicht gegen die Fulbe-Aristokratie dar, aber letztlich machen die Jungen das wegen des Geldes. Bei ihrer Rekrutierung bekommen sie ein Motorrad und 1 Million FCFA (1.500 Euro) auf die Hand. Letztlich weiß Amadou Kouffa gar nicht, was die ihm untergeordneten Einheiten in ihren Gebieten treiben. Das sind auf jeden Fall keine besseren Muslime. Das sind überhaupt keine wirklichen Muslime – eher Banditen.
Rechtsprechung mit dem Gewehr über der Schulter
Alaiye ist Bambara und für seinen Zwiebelanbau bekannt: Anfangs waren die Dschihadisten gut. Ihre Rechtsprechung zum Beispiel war gerechter, nicht so korrupt wie die vom Staat. Aber gleichzeitig hatten sie dabei als Überzeugungsmittel eben ein Gewehr über der Schulter. Mittlerweile gibt es aber immer mehr Denunziationen. Ich wurde auch mal bei den Dschihadisten angezeigt. Da war jemand mit der Arbeit der COPON nicht einverstanden und wollte sich rächen. Ich wurde vorgeladen, konnte sie aber überzeugen, dass die COPON im Sinne mittelloser Bauern handelt. Unserem gewerkschaftlichen Projekt, 200 Hektar Land zu erschließen, stehen die Dschihadisten positiv gegenüber, weil es der breiten Bevölkerung zugutekommt. Sie wissen auch davon, dass uns Weiße [Aktivist*innen von AEI aus Deutschland – die Redaktion] dabei unterstützen; sie würden sogar mit den Weißen Gespräche führen, wenn diese dies wünschten. Empfehlen würde ich solch ein Treffen mit den Dschihadisten allerdings nicht, fügt Alaiye lachend hinzu.
Todesangst und keine Musik
Stark gestikulierend drückt Ousmane seinen Unmut aus: Seit ein paar Jahren können wir uns nicht mehr frei bewegen. Bei ihrer Ankunft haben wir noch gedacht, dass sie tatsächlich auf das Wohlergehen der Bevölkerung bedacht sind. Aber sie haben letztlich zu nichts Gutem geführt, sie zerstören einfach alles und wir finden keine Ruhe mehr. In unserem Dorf darfst du keine Musik hören. Wenn du Zigaretten kaufen willst, sagt dir der Ladenbesitzer, dass es so was bei ihm nicht gebe. Anschließend schickt er allerdings einen Jungen hinter dir her, der dir die Zigaretten übergibt. Zum Rauchen musst du dann in den Wald. All die Dinge, die Geist und Seele beleben, können wir nicht tun. So wie wir hier sitzen, Tee trinken und diskutieren, das kann man nicht mehr überall.
Almamy, ein junger Reisbauer, nickt und fügt hinzu: Wir können nur zu bestimmten Zeiten auf unsere Felder. Früh morgens und abends versuchen wir, uns dort nicht sehen zu lassen. Das ist dann die Zeit der Dschihadisten, die in der Nähe ihr Camp haben, bei uns an den Feldern vorbeikommen und nicht gesehen werden wollen. Wenn sie denken, dass wir sie beobachten, laufen wir Gefahr, getötet zu werden. Eine Frau wurde von ihnen bei der Feldarbeit ohne Kopfbedeckung gesehen und gewarnt, dass sie sich richtig kleiden soll. Kurze Zeit später haben sie die Frau wieder unbedeckt angetroffen. Sie haben die Frau dann so zusammengeschlagen, dass sie an den Folgen gestorben ist.
Die ehemalige Bäuerin Aissatou, die sich heute vor allem um ihren erblindeten Mann kümmert, erzählt von ihrem Sohn Ibrahim: Mein Ältester hatte in der nahe Bamako gelegenen Stadt Koulikoro bei der Steuerbehörde einen Job als Bote gefunden. Vor sechs Monaten wurde Ibrahim für einen Auftrag in die kleine Stadt Kouri nahe der malisch-burkinischen Grenze geschickt. Dort wurde er mit vier anderen einfach von Dschihadisten umgebracht. Ohne die finanzielle Unterstützung durch meinen Sohn ist es für mich noch schwieriger geworden.
Konfliktverschärfung bei gekauften Schiedsrichtern
Ndiaye ist seit der ersten Stunde bei der COPON: Gestern erst waren sechs, sieben Dschihadisten in unserem Dorf. Sie kamen bewaffnet und auf Motorrädern und riefen die Leute aus dem Dorf zusammen. Sie teilten uns mit, dass die Herden der Fulbe im Rahmen der Wanderweidewirtschaft schon in den nächsten Tagen bei uns durchziehen werden und wir uns ihnen nicht in den Weg stellen sollten. Unsere Felder sind aber teilweise noch gar nicht abgeerntet.
Das Glas mit dem dritten dünnen Teeaufguss lässt Alaiye an sich vorbeiziehen – für „Pferdepipi“ sei er nicht zu haben: Einige Großgrundbesitzer haben einen Deal mit den Dschihadisten abgeschlossen. Damit diese dafür sorgen, dass die aus dem Norden kommenden Rinder nicht ihre Felder niedertrampeln, denn die gestutzten Reispflanzen wollen sie als Futter für ihr eigenes Vieh. Vorher war es der Staat, der den Durchzug der Rinder organisierte. Die Dschihadisten sind sowas wie Schiedsrichter geworden, aber eben keine Unparteiischen, weil sie sich anheuern lassen. So funktioniert das Zusammenspiel zwischen Viehhaltern und Ackerbauern immer weniger. Wollen wir kleinen Bauern unseren noch ungeernteten Reis vor den durchziehenden Rindern schützen, müssen wir Nachtwachen machen, denn unsere Felder beschützen die Dschihadisten nicht. Wenn dann die Hirten mit ihren Herden kommen, gibt es natürlich Konflikte. Sie haben auch ein Interesse, dass ihre Tiere auf nicht-abgeerntete Felder gelangen, denn da können sie gut weiden. Die Konflikte verstärken sich, wenn der Regen im Norden ausbleibt und die Herden früher als üblich zurückkehren. Aber auch, wenn wir später ernten müssen, weil beispielsweise starke Regenfälle unseren Reis in Mitleidenschaft gezogen haben und der langsamer reift.
[*] Die Fulbe sind auch unter ihrem französischen Namen „Peul“ bekannt.