Dezember 2017 | Krankheit als Fluchtursache: Wie Großinvestitionen Entwicklung von unten verhindern

Dieser Text ist erstmalig in der taz-Beilage von Afrique-Europe-Interact im Dezember 2017 erschienen.

In der Region Kita im Westen Malis ist Migration bereits seit Jahrzehnten tief im kulturellen und sozialen Gefüge verankert. Meist sind es die älteren Söhne der Familien, die während der 8-monatigen Trockenzeit Arbeit in anderen Landesteilen oder im benachbarten Ausland suchen, vorzugsweise auf Plantagen oder im Bergbausektor. Aber auch Europa spielt – ebenfalls schon lange – eine nicht zu unterschätzende Rolle. So hat Frankreich im Zweiten Weltkrieg allein in seinen afrikanischen Kolonien rund 1 Millionen Soldaten für die Schlachtfelder Europas zwangsrekrutiert, unter anderem in der Region Kita. In den 1950er und 1960er Jahren folgten Anwerbeprogramme für die französische Automobilindustrie, wobei viele der Arbeitskräfte mit Passagierschiffen von der senegalesischen Hauptstadt Dakar nach Marseille gelangten.

Heute hingegen bleibt westafrikanischen Migrant_innen mit dem Reiseziel Europa einzig die lange und gefährliche Passage durch die Wüste und über das Meer. Und das mit der Konsequenz, dass mittlerweile zahlreiche Familien in der Region Kita den Tod von Familienmitgliedern zu beklagen haben. Vor diesem Hintergrund hat Afrique-Europe-Interact mit einigen dieser Familien im November 2015 Kontakt aufgenommen. Daraus sind mehrere Begegnungen mit Angehörigen verstorbener Migrant_innen hervorgegangen, unter anderem in den beiden Dörfern Balandougou und Koronikoto. Zudem wurden zwei Gedenkdemonstrationen in der gleichnamigen Provinzhauptstadt Kita organisiert, nicht zuletzt um die malische Regierung für ihre Gleichgültigkeit zu kritisieren, mit der sie die brutale EU-Abschottungspolitik einfach geschehen lässt, ohne auf internationaler Bühne offensiv für die Rechte ihre Bürger_innen einzustehen.

Lepra-Erkrankungen
Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Wann immer Migration zur Sprache kommt, stehen auch Entwicklungsfragen zur Debatte, ganz gleich ob es um Wasser, Land, Bildung, Elektrizität oder Straßen geht, kurz: um soziale Infrastruktur. Besonders aufgeladen sind dabei Gesundheitsfragen. Und das dürfte in einem Land wie Mali kaum verwundern, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung vor allem deshalb rund 30 Jahre niedriger als in Deutschland ausfällt, weil in ländlichen Regionen – jenseits naturheilkundlicher Verfahren – weder medizinische Infrastruktur noch irgendeine Form von sozialer Wohlfahrt existiert. Was das im Ernstfall bedeutet, berichtete im Februar 2016 eine verwitwete Mutter bei einem Treffen mit Afrique-Europe-Interact: Ihre Hände und Füße waren durch eine Lepraerkrankung völlig deformiert, gleichzeitig ist ihr Sohn auf dem Weg Richtung Europa ums Leben gekommen. Verzweifelt, ja flehentlich fragte sie, wie es nun mit ihr und den jüngeren Kindern weitergehen solle.

Umso schockierter waren Aktivist_innen unseres Netzwerks, als sie im Februar 2017 in Soukoutadala – einem Dorf, mit dem Afrique-Europe-Interact schon länger im engen Austausch steht – die Vorsitzende des Frauenkomitees schmerzverzerrt in ihrer Hütte antrafen. Denn auch Badialla Dionssan war an Lepra erkrankt, ihre Hände waren bereits erstarrt, laufen konnte sie kaum noch. Eigentlich kann Lepra gut mit Antibiotika behandelt werden, doch eine erste Behandlung durch einen Arzt in Kita war fehlgeschlagen. Im Anschluss fehlten unserer Mitstreiterin die rund 80 Euro, die nötig gewesen wären, um mit einer ihrer Töchter in die Hauptstadt Bamako zu reisen und dort im nationalen Leprabehandlungszentrum kostenlos die richtigen Medikamente zu erhalten. Ein im Rahmen von Afrique-Europe-Interact geschaffener Solidaritätsfonds für Gesundheit hat sodann die anstehenden Behandlungskosten übernommen, wobei die Krankheit bereits so weit fortgeschritten war, dass ein 7-monatiger Krankenhausaufenthalt in Bamako unvermeidbar geworden ist. Heute kann Badialla Dionssan wieder laufen und ihre Hände bewegen – noch nicht schmerzfrei, aber die Ärzt_innen sind optimistisch. Individuell ist das ein großes Glück, grundsätzlich verweist dieser Vorgang jedoch auf die existentiell anmutende Problematik eines weitgehend fehlenden Gesundheitsschutzes für große Teile der Bevölkerung in nahezu allen Ländern (West-)Afrikas. Erwähnt sei in diesem Kontext nur, dass die Behandlung von Badialla Dionssan über 1.500 Euro gekostet hat – und somit ein Vielfaches dessen, was einer kleinbäuerlichen Familie in der Region Kita pro Jahr überhaupt als Bargeld zur Verfügung steht.

Ambulanzpiroge als Empowerment
Im Falle von Soukoutadala kommt erschwerend hinzu, dass das Dorf – zusammen mit zahlreichen weiteren Dörfern und Weilern – während der Regenzeit durch mehrere über die Ufer tretende Seitenarme des Flusses Bafing drei bis vier Monate von der Außenwelt abgeschnitten ist. Im Alltag führt das regelmäßig zu nicht behandelten Erkrankungen, mitunter sogar zu Todesfällen, nicht zuletzt bei Geburtskomplikationen. Vor diesem Hintergrund hat Afrique-Europe-Interact zwischen Februar und September 2017 den Bau einer motorisierten Ambulanzpiroge finanziert. Mit diesem Schiff wird es zukünftig möglich sein, Kranke, Verletzte oder Gebärende über den an Soukoutadala vorbeifließenden Bafing innerhalb von knapp zwei Stunden bis zum Dorf Sitanikoto an der Nationalstraße 2 zu transportieren – und von dort mit einem Taxi in 15 Minuten bis ins nächste Krankenhaus. Das Holz für die Piroge haben Bewohner_innen aus Soukoutadala kostenlos geschlagen, gebaut wurde das Boot von vier Fischern, die bei Afrique-Europe-Interact aktiv sind, Aktivist_innen aus Bamako waren für den Kauf des Motors und weiterer Baumaterialien verantwortlich.

Marshallplan und Compact
Zurück zur Migrationsfrage in der Region Kita: Die anhand der Gesundheitsversorgung lediglich angedeuteten Infrastruktur-Verhältnisse in einem ganz normalen malischen Dorf zeigen, wie unangemessen, ja kontraproduktiv die derzeit in Deutschland diskutierten Konzepte zur “Fluchtursachenbekämpfung” sind – etwa die vom Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) vorgelegten „Eckpunkte für einen Marshallplan mit Afrika“ oder der beim G20-Gipfel in Hamburg maßgeblich diskutierte “Compact with Africa” aus dem Bundesfinanzministerium. Denn sämtliche dieser Konzepte beabsichtigen im Kern, die Rahmenbedingungen für Privatinvestitionen aus den reichen Industrieländern zu verbessern. Und das, obwohl unzählige Beispiele in den letzten Jahrzehnten deutlich gemacht haben, dass Großinvestitionen in erster Linie den westlichen Unternehmen und somit auch dem globalen Norden nutzen (ob durch neue Absatzmärkte oder billige Rohstoffe), in Afrika indessen zu massenhaften Vertreibungen, zu vielfältigen Umweltschäden und zur Zerstörung lokaler Ökonomien führen. Demgegenüber wäre es nötig, kleinbäuerliche Haushalte, kleine und mittlere Betriebe sowie die lokale Infrastruktur systematisch zu stärken. Denn nur so lassen sich selbstbestimmte, durch die lokale Bevölkerung initiierte und getragene Entwicklungsprozesse anstoßen. Gleichzeitig verbindet Afrique-Europe-Interact mit Empowerment- bzw. Selbsthilfe-Projekten wie der Ambulanzpiroge das Ziel, die lokale Bevölkerung darin zu unterstützen, ihre Stimme nicht nur gegen globale Ungleichheit, sondern auch gegen Korruption, Klientelismus und Misswirtschaft in der Hauptstadt Bamako zu erheben.