Dezember 2017 | Wachstum als Sackgasse: Gespräch mit Victor Nzuzi zu selbstbestimmter Entwicklung
Dieses Interview ist in der taz-Beilage Nr. 8 von Afrique-Europe-Interact im Dezember 2017 erschienen.
Victor Nzuzi hat Anfang Oktober als Referent an der Konferenz “Selbstbestimmt und solidarisch” in Leipzig teilgenommen (vgl. Kasten). Er ist Kleinbauer und einer der bekanntesten Globalisierungskritiker_innen in der Demokratischen Republik Kongo. 2010 war er an der Gründung von Afrique-Europe-Interact beteiligt.
Victor, was verstehst du unter selbstbestimmter Entwicklung in einem Land wie der Demokratischen Republik Kongo?
Es müsste ein Minimum an stabilem und gutem Leben geben, damit die Menschen das soziale und kulturelle Leben auch in ihrem Sinne entwickeln und erhalten können. Das betrifft grundlegende Bereiche wie Gesundheit, Ernährung, Bildung oder Arbeit. Aber tatsächlich sehen wir das Gegenteil von Entwicklung. In den letzten Jahrzehnten ist die Armut ständig angewachsen und die Jungen wandern immer stärker in die großen Städte ab oder gehen gleich in die Migration.
Was bedeutet Armut ganz konkret?
Ich möchte ein Beispiel aus der Gesundheitsversorgung geben. Bei uns können Frauen, die eine Kaiserschnittgeburt hatten, oft die hohen Kosten von 100 Dollar nicht selber tragen. Sie werden dann so lange im Krankenhaus festgehalten, bis ihre Verwandten das Geld zusammen haben. Das Krankenhaus wird also zum Gefängnis, sie müssen dort bleiben, ihre Verwandten müssen sie ernähren und wenn sie abhauen, werden sie von der Gendarmerie zurückgebracht. Oder guckt euch mein Dorf an: 1923 während der Kolonialzeit wurden die Flächen in meiner Region von einem belgischen Agroindustriellen namens Jules van Lanke geraubt. Die Unabhängigkeit 1960 hat daran nichts geändert, auch wenn der neue Besitzer seit 5 Jahren SOGENAC heißt. Sie bearbeiten 50.000 Hektar mit 50.000 Rindern und 5.000 Zuchtschweinen. Zwischen 18.30 Uhr abends und 5.30 Uhr morgens herrscht zwischen den ca. 100 betroffenen Dörfern eine Ausgangssperre, weil SOGENAC Angst vor nächtlichen Diebstählen hat. Außerdem ist es verboten, Felder weniger als 100 Meter entfernt von ihren Zäunen zu bestellen oder auf dem Gebiet zu jagen und zu fischen.
Und der Klimawandel, spielt der auch schon eine Rolle?
Ja, die Erträge fallen häufig um 60 Prozent geringer als üblich aus. Das liegt unter anderem daran, dass es kürzer und heftiger regnet, außerdem gibt es neuerdings Insektenplagen. Hiergegen könnten die Pflanzen aus unserem traditionellen Saatgut widerstehen. Aber wir sind verpflichtet, neue Sorten aus internationalen Saatgut-Katalogen zu verwenden und können nicht auf unser ursprüngliches Saatgut zurückgreifen. Die Jungen verwenden lieber dieses neue Saatgut, weil es in kurzer Zeit größere Mengen produziert, allerdings nur mit teurem, chemischem Dünger und mit Pestiziden. Sie hören nicht mehr auf uns Alte und halten die neuen Anbauarten für modern.
Wie kommt es zu diesem Gegensatz zwischen den Jungen und den Alten?
Mit der verstärkten Armut hat viele Ältere in den Dörfern der Mut verlassen. Auf der anderen Seite sagen die Jungen, die von ihren Eltern Unterstützung erwarten: Wenn ihr keine Lösung für uns habt, müssen wir sie woanders suchen! Aber auch der Druck der Globalisierung ist stark, etwa wenn es um Telefone geht, oder wenn im Fernsehen zur besten Sendezeit stundenlange Werbesendungen über Pestizide in der Landwirtschaft laufen. Auf der Suche nach dem modernen Leben entfernen sich die Jungen dann von unserer afrikanischen Logik des Zusammenhalts.
In deiner Region gibt es das große Inga-Staudamm Projekt, das von der Weltbank unterstützt wird. Wie siehst du dieses Großprojekt, auch mit Blick darauf, dass die G20-Länder die Entwicklung in Afrika mit Großinvestitionen nach vorne bringen wollen?
Das Staudammsystem Inga soll Schritt für Schritt zum größten Stromerzeuger Afrikas mit einer Kapazität von 40.000 Megawatt werden – das wären ca. 29 Atomkraftwerke. Aber das trägt in keinster Weise zur Entwicklung der Bevölkerung bei. Insgesamt haben nur 10 Prozent der Menschen im Kongo Zugang zu Elektrizität, denn der Strom aus dem Staudamm geht ausschließlich in die Minengebiete Katangas oder nach Südafrika. Die Stromleitungen auf den hohen Masten kommen uns wie Vögel vor, die über uns hinwegfliegen. Was die lokale Bevölkerung davon hat, ist Landraub, der sich mit Inga III noch massiv verschärfen dürfte. Außerdem sind der kongolesischen Regierung bereits durch Inga I und II 12 Milliarden Dollar Schulden entstanden.
Was wären aus deiner Sicht sinnvolle Schritte hin zu einer Entwicklung im Interesse aller Menschen?
Es müsste viel eher die kleinbäuerliche Landwirtschaft unterstützt werden, in der immer noch 70 Prozent der kongolesischen Bevölkerung arbeiten. Denn die Landwirtschaft bietet viele Möglichkeiten. So haben die proteinreichen Soja- und Erdnuss-Kulturen im Kongo sehr hohe Erträge, was auch den vorhandenen Proteinmangel verbessern könnte. Oder landwirtschaftliche Initiativen wie das Papaya-Projekt meines Sohnes, der Landwirtschaft studiert: Es geht darum, Papaya zu produzieren, die schnell wachsen und sehr viel Vitamin A und andere medizinische Wirkstoffe enthalten, besonders gegen Darmwürmer. Diese Initiative soll den Konsum von Vitaminen in der Bevölkerung erhöhen, aber auch Vitamin-A Tabletten ersetzen, die unterernährten Kindern von NGO wie UNICEF gegeben werden. Denn so verdient unsere Jugend etwas und nicht die Pharmaindustrie! Ein alltägliches, sehr pädagogisches Entwicklungsprojekt wäre auch die Aufzucht von Kleintieren wie Hasen oder Meerschweinchen durch Kinder. Denn diese Tierchen sind leicht mit Gräsern zu füttern. Es wäre dann möglich, zweimal im Monat von diesem sehr proteinhaltigen und wohlschmeckenden Fleisch zu essen, und auch könnten die Kinder schon von klein auf lernen, die Ernährung der Familie mitzusichern. Diese Methode könnte obendrein helfen, dass die Kinder nicht den Busch abbrennen, nur um Ratten oder Mäuse zu finden, die sie ansonsten zum Verzehr nach Hause bringen.
Und wie müsste sich die allgemeine Infrastruktur entwickeln?
Wir wollen nicht den Ausbau des Inga-Projekts sondern kleine Dämme! Nach einer wissenschaftlichen Studie wäre es mit einem dezentralen Kleinstaudammkonzept möglich, mit nur 8 Milliarden Dollar die ganze Republik Kongo zu elektrifizieren. Oder die Nutzbarmachung unserer Wasserstraßen: 80 Prozent unserer Gewässer wären befahrbar, wenn der Staat sich darum kümmern würde.
Und die Migration?
Ich bin davon überzeugt, dass Migration sehr viel mehr zur Entwicklung beiträgt als Entwicklungshilfe. Denn der Austausch ist eine Quelle ideellen Reichtums, es geht darum, Neues kennenzulernen. Doch Europa will die Afrikaner_innen nicht, sondern Uran aus Niger, Gold aus Mali, Koltan und Holz aus Kongo und es will seine Investoren herschicken. Wie kann man gleichzeitig eine Sache und ihr Gegenteil wollen?
Und was wäre grundsätzlich nötig?
Unser Widerstand fängt im Kleinen in unseren Dörfern an. Die Afrikaner_innen müssen sich gegen das westliche Entwicklungsmodell wehren, das an seine Grenzen gekommen ist. Es reicht, sich die ökologischen Schäden anzuschauen. Dieses Modell, das Entwicklungsfortschritt an Wachstum misst, ist unmoralisch und ohne Sinn.