Offener Brief an UnterzeichnerInnen (25.03.2011)
25. März 2011
Liebe Freundinnen und Freunde, werte Initiativen und Organisationen!
Die Deklaration „Freiheit statt Frontex“ wurde von Euch/Ihnen unterzeichnet, in vielen Rückmeldungen gab es ausdrücklichen Zuspruch für unseren Text. Für diese Bestätigung und Ermutigung möchten wir uns zunächst herzlichst bedanken. Auf den unten nochmal genannten Webseiten finden sich – gelistet entsprechend der Eingangsdaten – alle bisher angekommenen Unterschriften wieder.
Als der Text geschrieben wurde, waren die Machthaber in Tunesien und Ägypten verjagt und auch der libysche Despot schien kurz vor dem Fall zu stehen. In dieser Situation – mit dem gleichzeitigen Wegbrechen mehrerer Wachhunde des EU-Grenzregimes in Nordafrika – wollten wir aus migrationspolitischer Perspektive eine grundlegendere Position formulieren und verbreiten, die sich offensiv gegen die verlogene Freiheitsrhetorik derer wendet, die einmal mehr Frontex gegen Flüchtlinge und MigrantInnen in Stellung brachte.
Die vielfältigen Unterschriften und Rückmeldungen bestätigen uns, dass diese Positionierung offensichtlich vielen aus dem Herzen sprach und insofern eine zumindest ermutigende Wirkung hatte. In der neuen Ausgabe der linken Monatszeitung „analyse und kritik“ wurde die Deklaration auf der Titelseite abgedruckt, in Artikeln z.B. des „Freitag“ wurde der Text zitiert, im Labournet und auf einigen anderen Webseiten lässt er sich an prominenter Stelle finden.
Doch eine breitere Diskursintervention, also über ein bewegungspolitisches Spektrum hinaus, kann und will damit natürlich nicht behauptet werden. Ob solch eine Deklaration an sich oder im Zusammenspiel mit realpolitischen Initiativen von NGOs – in der vorliegenden Situation z.B. mit den Aufrufen zur Flüchtlingsaufnahme bzw. Evakuierung von Pro Asyl und Medico International – indirekten Einfluss gewinnen kann, ist sicherlich eine umstrittene Frage. Dazu bräuchte es vielleicht (Geld)Mittel zur breiteren Veröffentlichung, über die wir nicht verfügen. Für entscheidender halten wir allerdings, dass solch eine Diskursinitiative im lebendigen Wechselspiel mit praktischen Interventionen stehen müßte. Das erschien schon schwierig, als der Text erstmals veröffentlicht wurde. Und auch wenn in einigen Städten Solidaritätsaktionen mit den Aufständen in der arabischen Welt stattfanden (in Bremen gemeinsam mit einer „Freiheit statt Frontex“-Demonstration), sind Proteste und Aktivitäten dazu unter heutigen Bedingungen nicht einfacher geworden.
Denn wie wir mittlerweile wissen, kam es in Libyen anders als Anfang März noch erhofft und erwartet. Dem Rollback des Gaddafi-Regimes gegen die Aufstandsbewegung folgte mittlerweile der Beginn militärischer Angriffe aus dem Westen. Das absehbare Blutbad an der Opposition in Bengazi konnte damit vielleicht gestoppt werden, doch der neue Krieg dient zweifellos den eigenen imperialen Machtinteressen – mit den üblichen „Kollateralschäden“. Die verfahrene Situation ist das Resultat einer fatalen machtpolitischen Dynamik, in dem polarisierten Diskurs pro und contra Militärintervention können und wollen wir so nicht mitspielen. Dem Gaddafi-Regime wünschen wir weiter den Umsturz, ob sich die von der libyschen Opposition massiv geforderte Einrichtung einer so genannten Flugverbotszone als tatsächlich hilfreich erweist, muss hingegen die Geschichte zeigen. Die politische Einflussnahme des Westens wird der libyschen Bevölkerung jedenfalls kaum die autonome, freie und sozial gerechte Gestaltung ihrer Gesellschaft ermöglichen.
Wie weiter mit der Deklaration?
Wir hatten – über den Versuch der Diskursintervention hinaus – keinen konkreten, weiteren „Plan“ mit unserer Deklaration. Allerdings haben wir den Text auch nicht „aus dem hohlen Bauch“ geschrieben. Zum einen sind wir seit mehreren Jahren an der Kampagne gegen Frontex beteiligt, die zumindest im deutschsprachigen Raum dazu beigetragen hat, dass die sog. Grenzschutzagentur über enge Bewegungskreise hinaus als Symbol oder jedenfalls mitverantwortlich für eine tödliche Ausgrenzungspolitik wahrgenommen wird. Daran konnten und wollten wir anläßlich der Operation Hermes mit dem Text und der plakativen Überschrift anknüpfen.
Zum anderen sind wir auf unterschiedlichen Ebenen in die wachsende euro-afrikanische Vernetzung migrationspolitischer Initiativen involviert. Seit Jahren gibt es gute Verbindungen nach Marokko, und mit dem Karawaneprojekt von Bamako nach Dakar vor wenigen Wochen hat sich aktuell die Zusammenarbeit mit Gruppen in Westafrika intensiviert. Insofern lag es auf der Hand, sich angesichts der Umbrüche in Nordafrika öffentlich und offensiv zu positionieren, nicht zuletzt um neue Kontakte in die Länder zu entwickeln, wo diese bislang rar erscheinen: in Tunesien, Algerien, Libyen und Ägypten.
In diesem Sinne ist die Deklaration mittlerweile nicht nur auf englisch, französisch, spanisch und italienisch verfügbar sondern auch auf arabisch. Wir bitten diesbezüglich alle UnterzeichnerInnen um Weiterleitung an ihre jeweiligen politischen und/oder persönlichen internationalen Kontakte – insbesondere in die arabische Welt. Und gleichzeitig erscheint uns zumindest für einige weitere Wochen wichtig, dass der Text auf möglichst vielen Webseiten gut plaziert bleibt oder zumindest verlinkt wird.
Denn auch wenn es – zunächst durch die Katastrophenereignisse in Japan, dann durch die Militärangriffe auf Libyen – aus den Hauptschlagzeilen der letzten Wochen verschwunden war, die Migrationsbewegungen aus bzw. über Tunesien nach Lampedusa gingen und gehen beständig weiter. Die gesamte Frage der Migrationskontrolle in Nordafrika ist und bleibt für das EU-Grenzregime von entscheidender Bedeutung. Wie sich die revolutionären Prozesse in Tunesien und Ägypten weiterentwickeln, ist nach wie vor offen, die Proteste und Aufstände im gesamten arabischen Raum setzen sich unvermindert fort. Und insofern bleiben Botschaft und Inhalt von „Freiheit statt Frontex“ nach wie vor aktuell.
Etwa Mitte April werden wir noch einmal einen Info-Brief an alle UnterzeichnerInnen und Interessierten schicken, um über weitere Entwicklungen und Kontakte im Kontext der Deklaration zu berichten. In Vorplanung ist u.a. eine Besuchsreise nach Tunesien. Wer mehr unmittelbares Mitgestaltungs- und Beteiligungsinteresse hat, möge sich ebenfalls kurz melden. (Und umgekehrt: wer genug Informationen hat und von uns nicht weiter beschickt werden will ebenfalls.)
Mit besten Grüßen aus dem Redaktionsteam von
Welcome to Europe
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