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Juni 2016 | Die Geschichte eines Bildes

Martin Kolek wollte keine Menschen aus dem Wasser fischen. Dann hielt er ein totes Kind in den Händen. Er ist einer von vielen. Von Christian Jakob, Quelle: taz, 04.06.2016

Das Geräusch war hoch, ganz hoch. Es durchdrang den Wind und die Motorengeräusche und das Rauschen der Wellen. Martin Kolek kam nicht darauf, was es sein könnte, das wunderte ihn, er kennt sich mit Tönen aus, als Musiktherapeut in Ostwestfalen. Es klang wie Höhen von Technomusik, doch niemand würde hier Musik laufen lassen, inmitten der Kriegsschiffe, Hubschrauber und abdriftenden Rettungsinseln. Martin Kolek fuhr zwischen ihnen in seinem Boot umher, auf der Suche nach den Ertrunkenen, denen er schnell Rettungswesten an die Beine band, damit sie nicht im Meer versinken. Selbst dabei konnte er dieses Geräusch nicht ignorieren. Und es dauerte bis er merkte, dass es die Seilwinde war, auf dem italienischen Kriegsschiff Vega, die das Netz hochzog, trotz Windstärke vier. Wie bei einem Trawler, der seinen Fang einzieht, doch in dem Netz waren keine Fische, es waren die Leichen, die Kolek, der Musiktherapeut aus dem Sauerland, vor dem Untergehen mit Schwimmwesten markiert hatte.

September 2015 | Auf der Route des Löwen

Lieber auf riskantem Weg nach Europa als in Gambia bleiben, sagt Mohammad Cisse. Dass viele umkommen, hält ihn nicht ab. Von Katrin Gänsler. Quelle: taz, 15.09.2015

NIAMEY/AGADEZ taz | Muhammad Cisse* hat sich sein Basecap tief ins Gesicht gezogen und trägt eine Daunenjacke. Er musste die Nacht im Freien verbringen und hat nicht geschlafen. Ihm ist kalt und schlägt die schlacksigen Arme um die Brust. Ab und zu redet er ein wenig mit ein paar anderen Männern. Er ist größer als die meisten und die Zähne seines Unterkiefers stehen hervor. Alle sprechen Mandinka und ein wenig Englisch. Jeder der Passagiere merkt sofort, dass keiner unter ihnen aus dem Niger stammt. Um halb vier am Morgen ist es soweit. „Muhammad Cisse!“, ruft ein Mitarbeiter des Busunternehmens. Der 23-Jährige nimmt seinen Rucksack und muss noch einmal das Ticket vorzeigen. 20.500 CFA-Franc, umgerechnet 31 Euro, hat es gekostet. In vielen Ländern der Region ein halber Mindestlohn. Cisse klettert in den Überlandbus und sitzt zwischen zwei anderen, die wie er aus Gambia kommen. Der Bus bringt sie von Niamey, der Hauptstadt des Niger, nach Agadez und so 1000 Kilometer näher an Europa.

Januar 2010 | Durch die Ténéré

Als Illegaler auf dem Weg von Afrika nach Europa

Von Fabrizio Gatti

Es ist kurz vor Tagesanbruch. Ich muss gehen. Man versammelt sich im Autogare. “Start um acht Uhr”, heißt es vor dem Fahrkartenschalter. Viele Menschen laufen hin und her, erfrischt von der morgendlichen Kühle. Der große Lkw steht mitten auf dem Platz bereit. Die ganze Nacht hindurch ist er beladen worden und sieht jetzt, aufgebläht von den vielen daran baumelnden Wasserkanistern, wie eine riesige Traube aus.

April 2007 | Die Verdammten der Globalisierung

Von Martin Glasenapp

Afrika weist die größte Mobilitätsrate der Welt auf. Schätzungen gehen davon aus, dass 35 Millionen Afrikaner außerhalb ihres Heimatlandes leben. Längst geht es nicht mehr allein um Zwangsvertreibungen infolge von Bürgerkriegen und politischer Gewalt. Hinzugekommen ist ein Exodus verzweifelter harragas, wie die zumeist papierlosen schwarzafrikanischen Flüchtlinge im arabischen Maghreb genannt werden: “die ihre Vergangenheit verbrennen”, die neuen Verdammten der Erde, die wie Unberührbare durch ihre eigenen und benachbarten Gesellschaftsruinen ziehen.