Juni 2016 | Die Geschichte eines Bildes
Martin Kolek wollte keine Menschen aus dem Wasser fischen. Dann hielt er ein totes Kind in den Händen. Er ist einer von vielen. Von Christian Jakob, Quelle: taz, 04.06.2016
Das Geräusch war hoch, ganz hoch. Es durchdrang den Wind und die Motorengeräusche und das Rauschen der Wellen. Martin Kolek kam nicht darauf, was es sein könnte, das wunderte ihn, er kennt sich mit Tönen aus, als Musiktherapeut in Ostwestfalen. Es klang wie Höhen von Technomusik, doch niemand würde hier Musik laufen lassen, inmitten der Kriegsschiffe, Hubschrauber und abdriftenden Rettungsinseln. Martin Kolek fuhr zwischen ihnen in seinem Boot umher, auf der Suche nach den Ertrunkenen, denen er schnell Rettungswesten an die Beine band, damit sie nicht im Meer versinken. Selbst dabei konnte er dieses Geräusch nicht ignorieren. Und es dauerte bis er merkte, dass es die Seilwinde war, auf dem italienischen Kriegsschiff Vega, die das Netz hochzog, trotz Windstärke vier. Wie bei einem Trawler, der seinen Fang einzieht, doch in dem Netz waren keine Fische, es waren die Leichen, die Kolek, der Musiktherapeut aus dem Sauerland, vor dem Untergehen mit Schwimmwesten markiert hatte.
1.000 Menschen starben in der letzten Woche im Mittelmeer, 3.000 in den letzten Monaten. Mehr als jemals zuvor in einem Frühjahr, mehr als in manchem Krieg. Gleichzeitig wurden etwa 40.000 Menschen gerettet. Das ist auch, vielleicht vor allem, das Werk von einem halben Dutzend privater NGOs, die sich im Mittelmeer um Menschen in Seenot kümmern. Es sind Organisationen, wie es sie bisher nicht gab. Sie protestieren nicht nur, sie sind dabei eine Art zweiter Küstenwache zu werden. Sie retten Menschen. Sie tun etwas, was sie eigentlich nicht tun wollten.
Eine dieser Organisationen ist die Initiative Sea Watch, für die Martin Kolek im Einsatz war. Sie fragen sich hier, was passiert wenn sie immer mehr Freiwillige finden, die den Booten mit den Flüchtlingen entgegen fahren? Die Rettungswesten, Halbliterflaschen mit Wasser, Aludecken verteilen wollen? Was, wenn sie immer mehr Spenden bekommen, sie bessere Boote anschaffen können, Funkgeräte, Drohnen, Radare? Sollen sie hier tatsächlich einen Job machen, der eigentlich die Aufgabe der europäischen Staaten wäre?
Jeder 23. Flüchtling kommt nicht an
„Fähren statt Frontex“, fordert Sea Watch, legale Wege nach Europa. Niemand soll auf die Schlepperboote müssen, niemand soll von Menschen wie Martin Kolek oder italienischen Soldaten aus dem Wasser gezogen werden müssen. Die Sea Watch will vor allem aufmerksam machen auf die alltägliche Katastrophe an den Rändern Europas. Die Gleichgültigkeit durchbrechen, sagen ihre Aktivisten, das Abstumpfen der Öffentlichkeit. Wenn es sein muss mit dem Foto des toten Babys, das sie am 27. Mai geborgen haben; dessen Bild Sea Watch an Nachrichtenagenturen gab und so einmal mehr zeigte, was heute mit jedem 23. Flüchtling geschieht, der versucht, über Lybien nach Europa zu kommen.
Aber was, wenn die Fähren trotzdem nicht kommen? Wie viele Tage wie den 27. Mai wird es dann noch geben?
Kurz vor sieben Uhr an jenem Morgen ruft die italienische Rettungsleitstelle MRCC über das Satellitentelefon auf der Sea Watch II an. Die hatte die Nacht am Rand der libyschen Hoheitsgewässer verbracht. In der Nähe treibe ein Schlauchboot mit 120 Menschen, die Küstenwache gibt die Koordinaten durch. Das Boot der Flüchtlinge, ist überladen und ohne Treibstoff, aber intakt. Die Sea Watch verteilt Schwimmwesten. Wie üblich will sie warten, bis ein größeres Schiff die Menschen aufnimmt. Doch nach kurzer Zeit meldet sich die Rettungsleitstelle erneut: Zwei Fahrstunden entfernt gab es ein großes Unglück. Die Sea Watch soll dorthin fahren. Dringend.
Es ist ein Dilemma. Darf sie die Menschen hier mit den Schwimmwesten zurücklassen? Oder muss sie den neuen Notfall ignorieren? Die Sea Watch ist nur für 30 Menschen ausgelegt, sie nimmt normalerweise selbst keine Flüchtlinge auf. Jetzt entscheidet die Crew anders. Sie räumt das Deck frei, 120 Menschen aus der Elfenbeinküste, Gambia, dem Senegal kommen an Deck. Sie kriegen Wasser und Reis, danach schlafen sie ein, die Sea Watch fährt zur nächsten Unglücksstelle.
Lebende unterscheiden sich kaum von Toten
Hubschrauber kreisen dort neben dem Kriegsschiff Vega. Ein großes Holzboot ist gesunken, 500 Menschen waren an Bord, der Rumpf war leck. Das Wrack ragt an einer Seite aus dem Wasser, Rettungsinseln treiben umher, Leichen, Lebende schwimmen im Wasser. Italienische Kampfschwimmer sammeln mit einem kleinen Boot Geflüchtete ein und bringen sie zur Vega.
Die Sea Watch Crew hilft. Sie fährt mit ihrem Beiboot zu Überlebenden, zieht sie aus dem Wasser. Manchmal sind die Lebenden von den Toten kaum zu unterscheiden. Manche wollen das Brett nicht loslassen, an dem sie sich seit Stunden festhalten. Martin Kolek und die anderen bringen die Geretteten zum italienischen Kriegsschiff.
Irgendwann sind im Wasser nur noch Leichen. Es ist später Nachmittag, Wind ist aufgezogen, die Toten treiben auseinander, auf eine Quadratmeile verteilen sie sich. Die Suche dauert. Wird es dunkel sind die Körper weg, versunken. Die Vega funkt: Kann die Sea Watch Crew helfen bei der Suche?
Das ist nicht vorgesehen. Die Organisation will keine Toten bergen.
Aber Versunkene bekommen kein Grab. Sie werden nicht gezählt. Und die Statistik der Mittelmeertoten ist ein Politikum. Doch solange die Vega-Besatzung Leichen sucht, kann sie die 120 Menschen auf der Sea Watch nicht aufnehmen. Wenn sie im Dunkeln auf das Militärschiff übersetzen müssen, wird es für sie gefährlich. „Wir haben dann entschieden, das zu machen,“ sagt Martin Kolek, der Musiktherapeut.
Die Politik könne das Sterben dauerhaft verhindern
Harald Höppner, der Gründer der Sea Watch, ist ein alternativer Kleinunternehmer aus Barnim im Land Brandenburg. Er wurde bekannt, weil er im April 2015 „eine Talkshow zum Schweigen gebracht“ hat, wie der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo sagte. Höppner war Gast in Günther Jauchs Talkshow, der Moderator interviewte ihn. Später in der Sendung lief er auf die Bühne und forderte die Zuschauer auf, sich zu erheben und den Toten im Mittelmeer eine Gedenkminute zu schenken. Die Leute machten mit. „Jauch verliert die Kontrolle“, schrieb die Bild. Ein paar Tage später sitzt Höppner bei di Lorenzo in der Talkshow. Seine Aktion habe „Millionen Menschen tief beeindruckt,“ sagt di Lorenzo. Er sei „zornig geworden“, sagt Höppner. Er habe das Gefühl gehabt, die Opfer seien bei Jauch zu kurz gekommen.
In wenigen Tagen gehen Beträge in insgesamt sechsstelliger Höhe auf Höppners Spendenkonto ein. Das Geld, das er für den Kauf des Schiffes vorgestreckt hatte, ist wieder drin. Er bekommt 500 Bewerbungen von Freiwilligen, die mitfahren wollen. Höppner hält einen Platz für Journalisten frei. „Es geht darum, dass es endlich Wege geben muss, wie Migranten in die EU kommen können, ohne dafür ihr Leben riskieren zu müssen“, sagt er. Dazu wolle er das Sterben der Flüchtlinge nach Berlin bringen, ins Zentrum der deutschen Öffentlichkeit. Denn nicht Menschen wie er, nur die Politik könne das Sterben dauerhaft verhindern. Er will Aufmerksamkeit, aber nicht die Aufgaben der Europäischen Union bei der Rettung von Schiffbrüchigen übernehmen.
Ein Jahr später parkt ein junger Mann einen weißen Kleinbus mit blauen Logo von Höppners Organisation auf dem Seitenstreifen der Küstenstraße von Gzira, einem Vorort von Maltas Hauptstadt Valletta. Bis vor vier Jahren hat Tamino Afrikawissenschaft studiert, dann stieg er als Aktivist in der Berliner Flüchtlingsszene ein. Mit blonden Dreadlocks, Sonnenbrille und dem Funkgerät am Gürtel sieht er aus wie ein Roadie bei einem Konzert. Er trägt Sauerstoffflaschen ins „Aquamarin“, ein Tauchgeschäft. „Bis morgen müssen die nachgefüllt sein,“ sagt er, setzt sich hinter das Steuer und fährt weiter.
Alle zwei Wochen wird es stressig. Dann wechselt die Crew der Sea Watch. So wie heute. Tamino ist der einzige Mitarbeiter, der das Basislager, wie er es nennt, an Land betreut. Seit April ist er in Valletta, unbezahlt.
Er holt Crewmitglieder vom Flughafen, hält Kontakt mit Behörden, der Werft, erklärt den Neuen, was sie wissen müssen.
An einem kleinen, etwas abgelegenen Hafenbecken von Valletta strahlt das Wasser flaschengrün, in der Sonne dümpelt die Sea Watch II. Es ist ein ehemaliges britisches Forschungsschiff aus den sechziger Jahren, über dem Heck hängt die Flagge der Niederlande. „Das ist steuermäßig und so alles schick“, sagt Tamino.
Die Helfer grillen zusammen, sie tauschen Teile
Das Schiff wird gerade klar gemacht für den nächsten Törn, an Bord Kapitän, „Head of Mission“, zwei Navigatoren, drei Maschinisten, Köchin, fünf Mediziner, drei Helfer, alle ehrenamtlich. Eine Gruppe Männer bringt einen Schriftzug an der Bordwand an. „Seerettung“ auf Arabisch. Morgen soll es losgehen, zwei Wochen, wie immer.
Am anderen Ende des Hafenbeckens liegt die kleinere Sea Watch I, das Schiff hat Unternehmer Höppner noch privat bezahlt. Sie wird gerade überholt. „Eigentlich ist unser Plan, sie nach Athen zu verlegen“, sagt Tamino. In der Ägäis wechselten die Routen teils stündlich. „Wenn wir sehen, am Wochenende geht es nach Chios, dann können wir damit, zack, in Chios vor Ort sein“, sagt Tamino. Aber noch sind sie unsicher. „Nach dem, was hier in den letzten Wochen los war, lassen wir es vielleicht auch hier.“
Lebende retten. Tote bergen. Weil die Staaten der Europäischen Union versagen, entsteht widerstrebend eine alternative Gesellschaft zur Rettung von Schiffbrüchigen. Insgesamt acht Schiffe von fünf Initiativen dieser Art gibt es im zentralen Mittelmeer derzeit, alle sind privat finanziert. Sea Watch gehört dazu, die maltesische Migrant Offshore Aid Station, Ärzte ohne Grenzen. Sie sind mit zwei Schiffen hier, dazu noch Sea Eye und SOS Mediterranee aus Deutschland mit je einem Schiff, ab Juli will auch eine Gruppe namens „Jugend rettet“ mitmachen.
Tamino steht auf dem Deck und schaut über das Hafenbecken. Hier liegen auch die Schiffe der Malteser und von Ärzte ohne Grenzen. Abends grillen die Seeretter der NGOs zusammen, erzählt Tamino, sie tauschen Ersatzteile. Mit der Sea Eye stimme man den Törnplan ab, um Lücken auf See zu vermeiden.
„Die Italiener reißen sich den Arsch auf“
Ärzte ohne Grenzen und die maltesische Gruppe haben anders als Sea Watch feste Besatzungen. Die von einem maltesischen Industriellenpärchen finanzierte Migrant Offhore Aid Station überwacht ab Montag das Meer mit Drohnen aus der Luft, um nicht länger auf die Meldungen der Rettungsleitstelle oder den Zufall angewiesen zu sein.
Dass die Länder der EU vieles unterlassen, um Flüchtlingen auf dem Meer zu helfen, lässt einen neuen Typ von NGO entstehen. Sie übernehmen staatliche Aufgaben, doch anders als Wohlfahrtsverbände werden sie dafür nicht vom Staat finanziert. Denn ihre Arbeit unterläuft die staatliche Politik. Sie lehnen die Abschottungspolitik ab und anders als Amnesty International belassen sie es nicht bei Appellen, sondern tun selbst das, was sie fordern. Angetreten als Notlösung bilden sie langsam professionelle, feste Strukturen, fügen sich in die Verhältnisse ein, suchen nach pragmatischen Lösungen. Sie verändern die staatlichen Institutionen. Ein bisschen. Und sie verändern sich selbst.
Lange Zeit haben Flüchtlingsgruppen alle Behörden gleichermaßen für die vielen Toten verantwortlich gemacht. Seitdem manche mit ihrer Arbeit so etwas wie Kollegen staatlicher Seeretter geworden sind, urteilen sie differenzierter. „Die Italiener“ sagt Tamino, „die sind top, die reißen sich echt den Arsch auf.“ Umgekehrt hat MRCC, die italienische Rettungsleitstelle in Rom ihr Misstrauen aufgegeben. „Wenn wir am Telefon sind, werden wir direkt an einen bestimmten Apparat durchgestellt, der Mensch dort ist immer sehr freundlich“, sagt Tamino. Und seit dem Frühjahr lädt die MRCC die privaten Seeretter zu regelmäßigen Treffen ein.
Einer der Maschinisten kommt an Deck. „Gibt es schon genaue ETD?“ fragt Tamino. Estimated Time of Departure. Er will wissen, wann sie losfahren. „Mittags“, sagt der Navigator. „Aber ich brauch' jetzt unbedingt sofort das Teil, dass du besorgen solltest. Sofort.“ Als Tamino gerade losfahren will, kommt ein junger Mann an Deck. „Hier“, sagt er und hält den Zeigefinger an seinen Bart. „Nicht vergessen. Damit kann ich nicht in der Hitze auf See.“ Tamino fährt in die Stadt, Bartschneider und Ersatzteile kaufen.
1.000 tote Flüchtlinge in einer Woche
Kurz nachdem die Sea Watch wieder in Valletta einläuft, tritt am vergangenen Dienstag in Genf Flavio Di Giacomo, Sprecher der Internationalen Organisation für Migration, vor die Presse. Bei einer Serie von Schiffsunglücken im Mittelmeer seien in den vergangenen Woche über 1.000 Flüchtlinge ertrunken. Bis dahin war die UN von niedrigeren Zahlen ausgegangen. 2016 sei bislang ein „besonders tödliches“ Jahr, sagte ein Sprecher des UN-Flüchtlingswerks UNHCR. Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak waren unter den Opfern der jüngsten Unglücke – offenbar Folge der Schließung der Balkanroute.
Am selben Tag stirbt Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur. Er war berühmt geworden, weil er als Redakteur bei der Deutschen Welle kündigte, ein Schiff kaufte, fast 11.000 vietnamesische Flüchtlinge auf See rettete und nach Deutschland brachte.
Ein „wahres Vorbild gelebter Mitmenschlichkeit“, sagt die Bundeskanzlerin. „Er wird uns immer ein Vorbild bleiben“, sagt der Bundespräsident. Er werde als „Beispiel für viele Menschen in Erinnerung bleiben“, sagt der Außenminister.
Der Tod Neudecks macht Deutschlands Spitzenpolitiker betroffen. Auf die Tausenden Toten im Mittelmeer reagiert hingegen kaum jemand. Vielleicht haben sich viele Menschen an solche Nachrichten gewöhnt.
Nicht der Mann der seinen Bart loswerden möchte. Er heißt Florian Pithan, ist Mitte 30, Ingenieur bei einem Forschungsinstitut in Hamburg, früher Greenpeace-Aktivist. Da hat er gelernt, wie man die kleinen High-Speed Schlauchboote fährt, mit denen Aktivisten Walfänger blockieren. Dieses Wissen wird hier gebraucht. Nur mit diesen Booten kann sich die Sea Watch den Flüchtlingen im Meer unmittelbar nähern, die großen Sea Watch-Schiffe sind dafür zu hoch.
Auf den Rettungswesten ist Schweiß und Kotze
Drei Wochen unbezahlten Urlaub hat Pithan genommen. Fünf Tage ist er jetzt hier, die letzten hat er damit zugebracht, 600 Rettungswesten in großen Bottichen auf dem Achterdeck zu spülen. „Der ganze Schweiß, und man weiß ja auch nie, ob die Leute draufgekotzt haben, die sind ja alle seekrank.“
Jetzt steht er auf dem Peildeck und erklärt den Schiffskompass, der jedes maritime Museum schmücken würde. „Hier stehen wir mit dem Fernglas und suchen die Flüchtlinge“ sagt er. „Mit dem Radar sieht man die nicht.“ Aktiv suchen kann die Crew allerdings nur tagsüber. „Bei Dunkelheit müssen wir den Motor ausmachen und driften, sonst fährt man noch über die rüber.“ Ein Nachtsichtgerät könnte die Sea Watch gut gebrauchen. „Aber eines, das was taugt, kostet 50.000 Euro.“
Das Standardszenario: Die Flüchtlinge sitzen in einem Schlauchboot mit Außenbordmotor. Sea Watch geht davon aus, dass die Boote containerweise in China nur für diese Zwecke bestellt werden. „Das ist hundsmiserable Qualität, so was schlechtes gibt es sonst gar nicht“, sagt Florian Pithan. 120 Insassen sei der Regelfall. Gefunden werden sie meist zwischen acht Stunden und drei Tagen nach der Abfahrt von der libyschen Küste. „In die 12 Meilen Zone fahren wir nicht rein.“ Im Einflussbereich der Milizen wären sie selbst in Gefahr.
Die Aufgabe der Sea Watch: „Finden, sichern, Erstkontakt.“ Das Benzin in den Booten reiche nicht, also treiben die Boote dahin, ohne Essen, manchmal ohne Wasser. „Die fallen teilweise völlig entkräftet raus und versinken wie ein Stein, schneller, als wir sie fassen können“, sagt er. „Entweder können sie sowieso nicht schwimmen oder die Tage in der sengenden Hitze haben sie fertig gemacht.“ Also bekommen sie als erstes eine Rettungsweste, eine Halbliterflasche Wasser. „Früher haben wir große Flaschen für je mehrere Leute ausgegeben, aber das war nicht gut, dann gab es Zank, das ist ja alles total anstrengend, auch psychisch.“
Während Florian Pithan auf den Bartschneider wartet, bereitet sich Ruby Hartbrich, eine junge Medizinstudentin aus Marburg, auf ihren zweiten Törn auf der Sea Watch vor. Sie soll sich nicht nur um Kranke kümmern, sondern auch um die Presse. Sie hat die Initiative im Vorjahr zufällig auf Facebook entdeckt. Wie steckt man den Anblick Dutzender Leichen weg? „Jeder weiß, was ihn erwartet“, sagt sie. An den Tagen vor und nach dem Törn werden die Crewmitglieder von Mitarbeitern des evangelischen Vereins „Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“ in Valletta betreut. Und dann? „Jeder geht anderes damit um“, sagt Hartbrich. „Was unheimlich hilft, ist zu wissen, dass das, was wir machen gut ist.“ Das sei ein „großer Faktor, der Traumatisierungen verhindern kann.“ Zudem versuche der Verein, Fachpersonal zu finden.
Der Innenminister sagt, das sei schon richtig so
Wie lange soll es weitergehen? „Bis die Politik entscheidet, sichere und legale Wege einzurichten“, sagt sie. Und wenn dies bedeutet, auf Dauer hier bleiben zu müssen? Ging es nicht ursprünglich um öffentlichen Druck? „Wir hoffen natürlich darauf, dass die Zivilgesellschaft sich auflehnt und die Seenotfälle nicht mehr entstehen“, sagt Ruby Hartbrich. Aber danach sehe es im Moment nicht aus. Das Thema rücke aus dem Fokus. „Wir wollten das nicht, aber es hat sich so ergeben, das wir langsam zu einer professionellen Such- und Rettungsorganisation werden.“ Ihnen sei klar, dass Seenotrettung nicht die Lösung und die Sea Watch Teil eines Systems sei. „Die Schlepper rechnen auch damit, dass die Leute gerettet werden. Und trotzdem muss unsere Arbeit gemacht werden.“
„Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig“, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Anfang April, als die EU mit der Türkei ihr Abkommen zur Grenzsicherung schloss. Dass sei genau das Problem, sagt Hartbrich: Dass die Öffentlichkeit immer schneller bereit sei, harte Bilder auszuhalten. Und trotzdem hat Sea Watch in der letzten Woche ein „hartes Bild“ an die Nachrichtenagentur Reuters gegeben: Das Bild des toten Babys, geborgen am 27. Mai von einem Sea Watch Freiwilligen.
Das sei ein großes ethisches Problem gewesen: „Die Identität ist nicht geklärt, wir wissen nicht ob die Eltern überlebt haben.“ Sie habe mit anderen Gruppen und Journalisten beraten und dann entschieden, das Bild zu veröffentlichen. „Wir haben das nicht getan, um Spenden zu generieren. Wir wollen demonstrieren, was die Realität ist.“
Und die Realität sah so aus, dass Martin Kolek, der Musiktherapeut aus Ostwestfalen, den Tag damit verbracht hatte, die Überlebenden an Bord der Sea Watch II mit Reis und Decken zu versorgen. Und jetzt am Nachmittag fürchtete er, dass es Nacht würde bevor die Geflüchteten an Bord der Vega gehen könnten. Und so stieg L. in das Beiboot der Sea Watch und suchte nach Toten, damit die Lebenden in Sicherheit gebracht werden konnten.
Mit drei anderen Aktivisten fuhr er in immer weiteren Kreisen um die Unglücksstelle. Die Wellen waren einen Meter hoch, die Leichen schon starr. An Bord hatten sie 25 Rettungswesten, sie banden jedem Toten, den sie fanden, eine davon ans Bein, damit die Italiener sie bergen können.
„Ich gehe in dieses Boot und ich suche nach Zukunft“
„Ich habe beschlossen, jedes Gesicht einmal anzuschauen,“ sagt Kolek. Manche hatten „sehr feine, geflochten Haare, rote Tücher.“ Die jüngsten waren Säuglinge, 10 bis 14-jährige waren darunter, Jugendliche, die älteste war keine 40 Jahre. Ihr Schuhe und Jacken trieben auf den Wellen, es gab ein Paar, das in Leichenstarre ineinander verschlungen war. Wenige Meter entfernt von ihnen schwamm ein Baby, schon ein Stück unter der Oberfläche.
Kolek glaubte, es müsse ein Junge sein, genau kann er es nicht sagen, das Kind trug Windeln. Es war die einzige Leiche, die sie nicht markierten, sondern in ihr Boot nahmen. „Ich habe selbst drei Kinder, das war ein Automatismus.“
Dann machten sie das Bild, das wenige Tage später Zeitungen auf der ganzen Welt drucken würden. Sie fuhren zum Boot der Italiener und Kolek reichte das Baby dem Leiter der Kampfschwimmer und er sagte „Thank You“ dann markierten sie weiter Leichen und als die Rettungswesten verbraucht waren, gaben die Kampfschwimmer ihnen neue und Kolek sang „afrikanische Lieder, um nicht schreien zu müssen“, sagt er, „ich war unter Intensität, ich kann es gar nicht richtig sagen, unter Lebenswille.“
Und irgendwann war es vorbei und er kehrt an Bord der Sea Watch zurück und hörte immer noch das Sirren der Seilwinde, bis er einschlief.
„Die Dinge, die vorgefallen sind, habe ich mir vorher so im Kopf vorgestellt“, sagt er später. „Das war im Rahmen dessen, was ich befürchtet hatte. Nur an Säuglinge habe ich nicht gedacht.“ Kolek ist ein Mann von vielleicht Mitte 40, mit rotem Bart und blauen Augen. Tage nach dem Einsatz werkelt er auf der Sea Watch. Er trägt blaue Arbeitshandschuhe und trotz der Hitze eine schwarze Wollmütze. Er ist zertifizierter Traumaberater. „Ich beobachte mich schon“ sagt er. Die Konzentrationsschwächen. Das nächtliche Aufwachen. Den hohen Puls.
Es war sein erster Einsatz auf der Sea Watch. Dass sie Helden sind, davon will er nichts wissen. „Die echten Helden,“ sagt Martin Kolek, das sind die Leute, die entschieden haben: Ich gehe in dieses Boot und ich suche nach Zukunft.“