Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

Die Verdammten der Globalisierung

Von Martin Glasenapp

Auf einer Reise durch Westafrika sprach medico in Mauretanien und im Senegal mit lokalen Menschenrechtsaktivisten, Selbsthilfegruppen von Abgeschobenen und mit denen, die auf dem Sprung in die Boote sind.

Afrika weist die größte Mobilitätsrate der Welt auf. Schätzungen gehen davon aus, dass 35 Millionen Afrikaner außerhalb ihres Heimatlandes leben. Längst geht es nicht mehr allein um Zwangsvertreibungen infolge von Bürgerkriegen und politischer Gewalt. Hinzugekommen ist ein Exodus verzweifelter harragas, wie die zumeist papierlosen schwarzafrikanischen Flüchtlinge im arabischen Maghreb genannt werden: “die ihre Vergangenheit verbrennen”, die neuen Verdammten der Erde, die wie Unberührbare durch ihre eigenen und benachbarten Gesellschaftsruinen ziehen.

60% der Menschen Afrikas sind unter 25 Jahre alt. Diese Jugend führt ein Leben zwischen Traum und blanker Existenz. Für viele ist die Emigration die letzte Hoffnung – konkret: das Wagnis, irgendwie nach Europa zu kommen. Lange Zeit waren die spanischen Enklaven von Ceuta und Melilla ihr erstes Ziel. Aber Europa hat seine Tore verschlossen und die Küsten Marokkos unter steter Beobachtung. Das Budget der Grenzschutzagentur Frontex ist der am schnellsten wachsende Haushaltsposten der EU: 17,5 Millionen Euro 2006, 42 Millionen Euro 2007, für 2008 sind 70 Millionen Euro geplant. Die Patrouillen- Boote sollen dauerhaft vor den Küsten Mauretaniens und dem Senegal kreuzen. Mittlerweile starten die kleinen Pirogen aus der Casamance, dem südlichen Senegal oder Guinea-Bissau. Oft mit tödlichen Folgen. Offizielle Schätzungen gehen von ca. 7.000 Opfern allein im vergangenen Jahr aus. 31.000 Flüchtlinge haben die Kanarischen Inseln lebend erreicht.

Durchgangsbahnhof des Elends

Nach der ersten Stunde Fahrzeit wird die Straße zu einem Strich, der sich am Horizont verliert. Wenn man die mauretanische Hauptstadt Nouakchott, eine wild wuchernde Agglomeration aus Verwaltungsbauten und unansehnlichen Wohnsiedlungen, Richtung Norden hinter sich lässt, beginnt ein märchenhaftes Schauspiel. Riesige ockergelbe und orangefarbene Weichsanddünen säumen die schnurgerade Piste. Östlich geht der Blick in die Weite der Sahara, manchmal sieht man das Meer. Und über allem ein Himmel in Matisse-Blau. Die Piste führt nach Nouadhibou, eine Hafenstadt ganz im Norden des Landes, auf der Halbinsel Cap Blanc, in unmittelbarer Nähe zur von Marokko besetzten Westsahara.

Hier ist das wirtschaftliche Zentrum Mauretaniens, endet die Erzbahn aus den Minen des 800 km entfernten F’dèrik, liegen die letzten Überreste der mauretanischen Fischereiflotte vor Anker, wird der traditionelle Fischfang in ca. 10-20 Meter langen hölzernen Pirogen betrieben. Nouadhibou ist Zielort und Durchgangsstation, für viele Migranten und Flüchtlinge die letzte Etappe auf dem Sprung nach Europa, das Amadou M’Bow die “andere Seite der Welt” nennt. Der 49-jährige ist Generalsekretär der Mauretanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH). Zuletzt trafen wir ihn auf dem Alternativkongress gegen den G8-Gipfel in Rostock, wo der charismatische Aktivist das Recht auf Bewegungsfreiheit einforderte. Damals vereinbarten wir den Gegenbesuch in Mauretanien und die folgende Reise vom Maghreb in den subsaharischen Senegal. Gemeinsam sind wir auf der Suche nach potentiellen medico-Partnern zur Unterstützung der harragas, der Flüchtlinge. Vielleicht können wir mit unseren bescheidenen Mitteln den Flüchtlings- und Menschenrechtsinitiativen Internetzugänge zur besseren Vernetzung ermöglichen. Das ist nicht viel im Vergleich zu den EU-Budgets, aber ein erster Anfang. Gemeinsam mit Amadou M’Bow vollziehen wir deshalb den Weg der Fluchten nach. Unsere Route führt durch einen Transitraum, der über 1.000 Kilometer umfasst: von der Küste Mauretaniens bis in die Hauptstadt des Senegal.

Wir besuchen die lokale “Antenne” der AMDH, um zu erfahren, was denen widerfährt, die nach fünf Tagen Tortur auf See die Strände der Kanaren erreicht haben, aber von der Küstenwache abgefangen und an die afrikanische Küste zurückgeschoben werden. Der Rechtsanwalt Niyan Yussuf empfängt uns in einer winzigen Ein-Raum-Kanzlei und erzählt uns die Geschichte des großen Sterbens vor den Toren Europas. 1992 führten die EU-Staaten mit dem Vertrag von Schengen ein gemeinsames Grenzregime ein. Bis dahin war der Schiffsverkehr zwischen den afrikanischen und europäischen Küsten frei. Auch ungelernte Arbeiter aus dem frankophonen Senegal und aus Mali konnten in Frankreich und Spanien ein Auskommen finden. Dann dichtete Europa die Straße von Gibraltar ab, die Tragödie nahm ihren unerbittlichen Lauf. Im Oktober 2005 folgte der vergebliche Ansturm auf die Zäune um die spanischen Enklaven. Danach war nichts mehr so wie vorher. Auch nicht am Cap Blanc von Nouadhibou. Neue Passagen nach Europa mussten gefunden werden. “Wenige Wochen nach dem Sturm auf Ceuta und Melilla”, sagt Niyan Yussuf, “schrie jemand in ein Mobiltelefon: 'Wir haben es geschafft!' Der Anruf kam aus Teneriffa und elektrisierte alle. Das erste Boot aus Nouadhibou hatte mit 40 Flüchtlingen den Strand der Kanareninsel erreicht.”

Nothilfe für die Illegalen

Die Nachricht löste einen Sog aus. Zu Anfang starteten die Pirogen direkt im Fischereihafen. Erst täglich, später wöchentlich, mit 50, 60, manchmal bis zu 100 Personen, alle in Richtung Kanaren. Dann wurden am Cap Blanc die ersten Toten angeschwemmt. Überall entlang der Küste fanden sich aufgedunsene und angefressene Leiber, ohne Namen, ohne Papiere. Dann begann die “Rückführung” der Lebenden und die konzertierte Aktion “Cabo Blanco”. Seitdem patrouillieren europäische Schnellboote vor der Küste, um die Boatpeople noch vor den internationalen Gewässern abzufangen. An Bord: spanische Einsatzkräfte und mauretanische Polizisten. Ihr Ausgangshafen: Nouadhibou.

Das kleine AMDH-Team versucht das Schicksal der Abgeschobenen und der Wartenden abzumildern. Dazu gehören regelmäßige Besuche im nahen Internierungslager, das die Leute hier “Guantánamo” nennen, Inspektionen von Polizeiwachen und Verhandlungen mit dem Gouverneur. Etwa wenn Frauen einfach an der Landesgrenze ausgesetzt werden, weil die bei ihnen gefundenen Verhütungsmittel als Beweis für Prostitution gelten. Die ist in Mauretanien verboten und deshalb sofortiger Abschiebegrund. Auch der Rassismus gegenüber allen mit schwarzer Hautfarbe nimmt zu, seitdem systematisch Jagd auf Migrationswillige gemacht wird. Zu Niyan Yussuf kommen aber auch verzweifelte Mütter auf der Suche nach ihren verschollenen Söhnen. Die Menschenrechtler kooperieren dabei, im muslimischen Mauretanien eher ungewöhnlich, mit der katholischen Mission des Ortes, wo nicht nur christliche Flüchtlinge aus dem südlicheren Afrika Trost und Beistand finden. Die AMDH fand erst 2006 offizielle Anerkennung und finanziert sich bisher ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, da sie staatliche Zuwendungen ablehnt, um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Weil selbst die Zentrale in Nouakchott keinen Internetanschluss hat, müssen die Menschenrechtsaktivisten für jede E-Mail ein “Cybercafé” besuchen. Das wenigstens wollen wir ändern.

Leben im Transit

Nachts versinkt Nouadhibou in Dunkelheit. Nur wenige Laternen beleuchten die Straßen. Da, wo der Teer aufhört, wo die sandigen Gassen beginnen, wo der Abfall in Jauchegruben verschimmelt, verläuft das Leben der clandestins. Auffällig viele junge Männer stehen an den Ecken, unterhalten sich oder gehen auf und ab. Koloniale Sprachfetzen sind zu hören: Weiche portugiesische Laute: ein Mann aus Guinea-Bissau. Englische Sätze: ein Gambier vielleicht, ein Ghanaer oder ein Nigerianer. Auch wenn die Migranten keine formale Schulausbildung haben, verfügen viele über polyglotte Fähigkeiten, die den europäischen Beobachter nur noch blasser erscheinen lassen. Die Universitäten der Migration sind die Straßen, die nomadischen Kulturen, der allgegenwärtige Transit. Tatsächlich entsprechen die clandestins und harragas dem Idealtypus des durchgängig flexibilisierten Arbeiters der neuen, globalisierten Arbeitsmärkte: Die Männer und Frauen sind jung, vermögen sich fast jeder neuen Situation anzupassen, sind zu jeder ungeschützten Beschäftigung bereit und sprechen im Regelfall zwei bis drei Sprachen. Auch mit dem Internet kennen sie sich aus. Spezielle Webseiten informieren über den aktuellen Wellengang und die Winde: “ab zwei Metern wird es gefährlich.” Und über die durchschnittlichen Tarife: “je nachdem, ob das Boot aus Holz oder aus Stahl ist, ob es einen GPS-Empfänger hat oder nicht.” Es gibt Tipps über die Vor- und Nachteile verschiedener “Reisepakete” nach Europa: per Piroge (“le pack D-Day”), durch Heirat (“Erfolgsquote 100%”), als Homosexueller (“im Senegal verfolgt, möglicher Asylgrund in Frankreich”) oder mit gefälschtem Visum (“Vorsicht am Zielflughafen!”).

Erlebnisse aus der Vorhölle

Wir treffen Cheik Diallo, einen 32-jährigen Mann, der es in Nouadhibou zu lokaler Berühmtheit gebracht hat. Cheik Diallo war nach eigenen Angaben der erste Mauretanier, der eine Piroge auf die Kanarischen Inseln bestieg. Er versteht sich als Komödiant, hat seine Erfahrungen auf den Booten bereits zu Sketchen verarbeitet und mit anderen Boatpeople im spanischen Konsulat aufgeführt. Seinen Lebensunterhalt verdient er in einer privaten Sicherheitsfirma. Er bewacht von 6 Uhr morgens bis zum Abend und dann wieder von Mitternacht bis 4 Uhr früh Privathäuser und Geschäftsgebäude. Sein Monatsgehalt beträgt 45.000 Ouguiya, umgerechnet nur 130 Euro.

“Zweimal war ich bereits auf den Pirogen”, beginnt er seine Geschichte, die in einem Horrortrip mündet. “Beim ersten Mal war ich 20 Tage auf See, obwohl die Überfahrt auf die Kanaren eigentlich nur vier bis fünf Tage dauert.” Doch die Schlepper hatten sie betrogen: “Nur zwei der für die Überfahrt notwendigen Kanister enthielten Benzin. Der Rest war voll Meerwasser. Nach kurzer Zeit fiel der Motor aus und wir dümpelten auf der offenen See.” Sie waren dreißig, keiner kannte den anderen. “Auf den Booten gibt es keine Solidarität. Gefährlich wird es, wenn die Nacht kommt. Man darf nicht schlafen, weil du nicht weißt, wer neben dir sitzt. Du kannst über Bord geworfen werden oder jemand stiehlt dein Wasser.” Als das Benzin verbraucht war, begann die Hölle: “Wir ruderten 20 Tage mit unseren Händen und verloren jegliche Orientierung.” Dazu das Salzwasser: “Meine Fußgelenke und Hände platzten auf, am ganzen Körper bildeten sich faustgroße Blasen.” Nachts froren sie in der Dunkelheit, tagsüber brannte die Sonne. Die spanische Küstenwache rettete sie schließlich vor dem sicheren Tod. Als er zurück nach Nouadhibou gebracht wurde, sei er ein Zombie gewesen: “Ich zitterte 15 Tage lang vor Kälte und konnte das Bett nicht verlassen.” Wenige Monate später versuchte er es ein zweites Mal. Diesmal war er vorsichtiger und überprüfte alle Benzinkanister. Als er zum Anlegeplatz kam, saßen über 80 Leute dicht gedrängt in einer Piroge. Diallo verzichtete. Ob er es noch mal versuchen wolle? Seine prompte Antwort, ohne Pathos: “Diallo fürchtet nicht den Tod, sondern nur ein trostloses Leben.”

Im alten Herz des Kolonialismus

Amadou M’Bow hat wenig übrig für den Menschenhandel auf den Pirogen. Bitter spricht er vom “neuen afrikanischen Sklavenexport, den Europa nicht verdient hat.” Gemeinsam reisen wir mit dem taxi brousse, dem Buschtaxi, in den Süden Mauretaniens und von dort in den Senegal. Hinter den letzten Ausläufern der Sahara nimmt die Vegetation zu, stehen riesige Baobab-Bäume in der hügeligen Landschaft. Das afrikanische Buschland beginnt und die Bevölkerung gehört den subsaharischen Ethnien der Peul, Soninké und der Wolof an.

Nach drei Stunden Fahrt ereichen wir Rosso, Grenzstadt am Senegal-Fluss. Auf Fähren und Pirogen kommen Leute an, die auf der anderen Seite leben und hier arbeiten. Es kommen aber auch die, die den ganzen Senegal durchquert haben, um weiter in den Norden zu ziehen. Allmorgendlich 2.000 Menschen, darunter viele Frauen, die tagsüber als illegale Prostituierte arbeiten. Die Grenzkontrollen sind noch immer lückenhaft, doch fallen die kleinen modernen Handscanner auf, mit denen die Beamten an dem verwitterten Eingangstor zum Hafengelände die Ein- und Ausreisenden registrieren. Später, bei einem Besuch der internationalen Organisation für Migration (IOM) in Dakar, erfahren wir, dass die Scanner zu einem Pilotprojekt aus EU-Mitteln gehören, in dem die IOM versucht, Daten über die Bewegung der Migranten entlang der westafrikanischen Landesgrenzen zu sammeln.

Unsere Reise führt weiter in den Süden, nach Saint-Louis. Die Silhouette der Stadt, Zentrum des alten französischen Kolonialismus, wirkt surreal: Ein bröckelndes, afrikanisches Venedig über der Mündung des Senegal-Flusses, auf einer Insel zwischen dem Festland und einer vorgelagerten Halbinsel gelegen, hinter der sich der Atlantik öffnet. Man fährt über eine fünfhundert Meter lange Brücke mit stählernen Rundbögen und Pontons, die Gustave Eiffel baute. In den verwitterten Parkanlagen flanieren weiße Frauen Hand in Hand mit deutlich jüngeren Schwarzafrikanern. Moustapha, Abdouleyle und Adrame, drei junge Männer von der Association Aidez les Pêcheurs, bringen uns auf die von Fischern bewohnte Landzunge Langue de Barbarie.

Hier beginnt eine andere Welt, in die sich Touristen höchstens verirren. Die Lagune riecht nach Kloake und Fischabfällen, Schafe und Ziegen laufen umher. Ein Arbeiter schneidet mit einer altertümlichen Sichel Stroh zu, das in Säcken als Tierfutter verkauft wird. Unsere Begleiter sind Fischer, arbeiten in der informellen Ökonomie, zahlen keine Steuern, sind nicht gewerkschaftlich organisiert, haben keine Lobby. Auch deshalb wurden sie clandestins und haben mehrmals versucht, auf die Kanaren zu kommen.

Stets griff man sie auf, stieß sie zurück in ein Leben, das sie hinter sich lassen wollten. Nach zwei, drei vergeblichen Fluchtversuchen gründeten sie ihren Verein: “Rettet die Fischer!” So versuchen sie dem “tödlichen Kreislauf der Piroge” zu entkommen: “Wir haben den Mut, aber uns fehlen die Mittel”, erklärt Moustapha. “Natürlich werden wir wieder gehen, aber nur in besseren Booten und auf sicheren Routen.” Solange diese Bedingungen nicht gegeben sind, arbeiten sie weiter im traditionellen Fischfang. Doch der reicht kaum zum Überleben. Früher kehrten sie nach drei Tagen auf See zurück, heute bleiben die Boote bis zu einer Woche draußen, um dann doch nur mit wenigen Kilo Fisch anzulanden. Adrame, der gelernter Bootsmann ist, träumt von einem Job auf den Fischtrawlern vor der Küste, die die EU-Staaten dem Senegal in Abkommen über quotierte Arbeitsmigration zugestanden haben. Das wäre eine Perspektive. Ob sie jemanden kennen würden, der dort arbeite? “Nein, aus unserem Quartier hat das keiner geschafft.”

Der nachdenkliche Regulator

Die IOM verfügt über ein Netzwerk von 320 Büros in 100 Ländern. Die im supranationalen Auftrag agierende und auch von der EU finanzierte Organisation hat sich “der Steuerung der Migrationsprozesse” verschrieben – “zum Wohle aller”, wie ihre Webseite betont. Besonders in Westafrika führt die IOM einen zähen Kampf gegen die “illegale Migration” – ein Begriff, den Amadou M’Bow als “falsche Problemstellung” kritisiert. Laurent de Boeck, Vertreter der IOM in Dakar, ist ein freundlicher, grauhaariger Belgier. Er berichtet, wie die IOM nicht nur die mauretanische Grenzkontrolle mit Scannern ermöglicht, sondern auch versucht, den in enger Kooperation mit den Regierungsbehörden zurückgeführten Senegalesen mit kleinen Krediten einen neuen Start zu ermöglichen.

Angesichts des geringen Umfangs eine Geschichte des Scheiterns. Begonnen haben sie mit 100 Kleinkredit-Projekten unter 5.000 Euro. Auf die Zusammenstellung der Listen mit Zigtausenden von Bedürftigen haben sie keinen Einfluss. “Es ist nur ein kleiner Anfang”, sagt der IOM-Vertreter entschuldigend, “aber hier gelten die senegalesischen Regeln.” Unter die “Verträge zur zirkulären Migration” fallen auch die Arbeitsplätze auf den Schiffskuttern, von denen die jungen Fischer aus Saint-Louis träumen. 1.000 Arbeitsplätze seien zwischen der EU und dem Senegal vereinbart, aufgeschlüsselt nach Fähigkeiten und Ausbildungsgrad. Und wieder: “Einfluss auf die Bewerbungsliste haben wir nicht. Ich habe Leute mit Verträgen gesehen, die nie zuvor einen Fisch in der Hand hatten. Die wenigen legalen Arbeitsvermittlungen versickern im Klientelismus der einflussreichen Familien und der allgegenwärtigen islamischen Mouriden-Bruderschaften.”

“Die jungen Leute haben jedes Vertrauen in den Staat verloren”, resümiert der IOM-Vertreter. Seit Jahren schon liegt die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten über 40%, und auf dem Land herrschen nach der Schockprivatisierung der Erdnussplantagen chaotische Zustände. Die aktuelle Regierung von Abdoulaye Wade privatisiert in rascher Folge sämtliche öffentlichen Güter. Die Fischereirechte an der Küste? Korea bekam den Zuschlag, weil Wade sich so noch über die minimalen Schutzbestimmungen für die traditionelle Küstenfischerei hinwegsetzen konnte, auf denen der europäische Bieter bestand. Die in Bau befindliche Stadtautobahn von Dakar betreibt ein Investor aus den Golfstaaten. Der Flughafen, die industriellen Hafenanlagen, die Trinkwasserversorgung, die Telefongesellschaft: verkauft zu undurchsichtigen Konditionen. “Durch die Ölverbrennung ist jede Kilowattstunde trotz öffentlicher Bezuschussung bereits teurer als in Europa. Und der IWF verlangt jetzt den staatlichen Subventionsverzicht – das bedeutet eine weitere Preissteigerung um 50%.” Der Migrationsmanager klingt jetzt fast wie ein linker Globalisierungsgegner.

Barça ou Barsaax!

Dass Hoffnungslosigkeit auch in Trotz und Verweigerung umschlagen kann, erfahren wir in dem kleinen Fischerdorf Hann am Rande von Dakar. Wir treffen Aktivisten der Association des Repatriés et Rescapés et Familles Affectées, der Vereinigung der Repatriierten, der Überlebenden und betroffener Familien. Die jungen Männer sind allesamt Deportierte. Wir kommen nur zögerlich ins Gespräch. Ihren Gesichtern ist anzumerken, dass sie es leid sind, europäischen Journalisten oder NGOs ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Dann platzt es aus einem von ihnen heraus: “Es ist doch alles völlig verrückt hier. Mittlerweile ist ein Flug von Dakar nach Paris mit 300 Euro nur noch halb so teuer wie ein Platz auf der Piroge aus Hann.” Mody Dia ist der Vorsitzende der Gruppe, er ist Informatiker. Er erzählt von ihren Versammlungen mit über 600 Mitgliedern, die sich zur Beratung auf dem Dorfplatz treffen, um über Alternativen zur Emigration zu beratschlagen. Vergeblich haben sie sich an staatliche Stellen gewandt. Sozialpolitik? “So was gibt’s hier nicht.” Der Minister für Jugend und Arbeit? “Kümmert sich nur um seine Parteifreunde.” Und nach all dem Gerede kämen sie doch nur wieder auf das eine: “Barça ou Barsaax – Barcelona oder sterben!” Die Jungs taxieren uns kritisch, ein Foto verweigern sie. “Man hat uns schon so oft fotografiert, das ändert an unserer Situation nichts”, sagt Mody Dia beim Abschied und lässt uns seine Wut spüren.

Europa verdient dieses Opfer nicht

Die Anzahl der Nichtregierungsorganisationen füllt im Telefonbuch von Dakar mehrere Seiten. Einige versuchen erste Antworten auf die stete Flucht zu finden. Die Radiokampagne Tukki Takhul Tekki (“Eure Wünsche werden nicht erfüllt”) will mit kleinen Jingles alle jene erreichen, die auf dem Weg in die Boote sind. Aber ob dies reicht, um die Perspektivlosigkeit aufzubrechen? Die Solidarität beginnt erst nach dem Scheitern. Amadou M’Bow bleibt Realist: “Wir haben nicht das Recht, sie aufzuhalten. Aber wir müssen ihnen sagen, was sie auf dem Meer und in Europa erwartet. Europa verdient dieses Opfer nicht.” In der Sprache der Wolof heißt der Senegal Sunu gal, zu deutsch: “unsere Piroge”.

Quelle: medico Rundschreiben 04/2007

Projektstichwort

Die „Malische Vereinigung der Abgeschobenen“ (AME) setzt sich nicht nur in ihrem Heimatland Mali für die Rechte und die Gesundheitsversorgung von Abgeschobenen ein. Der medico-Projektpartner ist mittlerweile auch ein wichtiger Akteur in einem Netzwerk von Menschenrechtsgruppen, migrantischen und antirassistischen Initiativen, das sich im subsaharischen Westafrika, dem Maghreb und in Europa gebildet hat. Unser Spendenstichwort lautet: Migration.
Konto: Spendenkonto von medico international: Konto-Nr. 1800, Frankfurter Sparkasse BLZ 500 502 01, medico international ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Ihre Spende ist daher steuerlich absetzbar.