04. Dezember 2020 | Europa als letzter Ausweg - Migrantinnen in Marokko während der Corona-Pandemie (Interview)
Emmanuel Mbolela ist Mitglied von Afrique-Europe-Interact und lebt in Frankreich. Seit 2015 ist er Koordinator des Rasthauses „Baobab” für geflüchtete Frauen in der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Emmanuel Mbolela ist Autor des Buches „Zwischen Widerstand, Flucht und Exil. Mein Weg von Kongo nach Europa“, das mittlerweile in 5 Sprachen vorliegt. Das Interview basiert auf mehreren Telefongesprächen.
Wie hat sich die Corona-Pandemie in Marokko seit März entwickelt?
Zu Beginn der Corona-Pandemie waren die Infektionszahlen in Marokko relativ niedrig. Mit den Grenzschließungen und strikten Einschränkungen des öffentlichen Lebens konnte der marokkanische Staat im Frühjahr eine Ausbreitung des Virus verhindern. Doch jetzt in der zweiten Welle scheint die Situation aus dem Ruder zu laufen. Die Zahl der Kranken und Toten steigt von Tag zu Tag.
Was bedeutet die Pandemie für Migrant:innen, die in Marokko im Transit sind?
Für die Migrant:innen bedeutet diese Pandemie ein weiteres Kapitel in der langen Liste ihres alltäglichen Leidens. Bei den staatlichen Maßnahmen zum sozialen Schutz der Bürger:innen wurden sie vergessen. Wie auch vor der Corona-Krise sind die Migrant:innen in Marokko sich selbst überlassen. Die kleinen und prekären Arbeiten, von denen sie vor der Krise gelebt haben, können sie momentan nicht mehr verrichten. Manche haben kaum genug Geld, um Essen zu kaufen. Andere haben ihr Zuhause verloren, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können. Diese Situation zwingt Menschen dazu, ihr Leben bei einer Überfahrt nach Europa zu riskieren. Viele Migrant:innen sind in dieser schwierigen Zeit gestorben. Nicht an Covid-19, sondern bei der Überquerung des Meeres. Darüber wird in Europa zu wenig gesprochen.
Aktuell versuchen viele Migrant:innen Europa über den Seeweg zu den Kanarischen Inseln zu erreichen. Laut IOM sind seit Jahresbeginn mindestens 414 Menschen auf den Migrationsrouten im Atlantik gestorben. Warum begeben sich Menschen auf diese gefährliche Reise?
Angesichts des Mangels an Perspektiven und der Ungewissheit, wie es weiter geht, würden die meisten Menschen das Gleiche zu tun. Die Menschen sind verzweifelt und hoffen darauf, dass sie ihre Situation verändern können, wenn sie nach Europa kommen. Dass immer mehr Migrant:innen versuchen, zu den Kanarischen Inseln zu gelangen, ist auch eine Reaktion darauf, wie schwierig es geworden ist, über den Norden Marokkos aufs spanische Festland zu gelangen. Der Ausbau der Grenzanlagen, staatliche Repressionen und nicht zuletzt die europäische Politik der Vorverlagerung des Grenzregimes nach Nordafrika sind dafür verantwortlich.
Migrant:innen-Konferenz in Rabat/Marokko, organisiert von ARCOM & Rasthaus Baobab, 2018 [Afrique-Europe-Interact]
Die EU möchte die Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften in den nordafrikanischen Transitländern ausbauen, um die Migration nach Europa zu begrenzen. Lassen sich Migrant:innen durch verstärkte Kontrollen aufhalten?
Migrationskontrollen und Repressionen führen lediglich zu einer Anpassung der Migrationsrouten und drängen Migrant:innen dazu, gefährlichere Routen einzuschlagen. Dies gilt für die Überquerungen im Mittelmeer und im Atlantik, genauso wie für die Migrationsrouten durch die Wüste. Trotz aller Repressionen und Gefahren kommen jeden Tag neue Migrant:innen nach Marokko, mit dem Ziel, Europa zu erreichen. Deutlich zugenommen hat dabei in den letzten Jahren die Zahl der Minderjährigen und der Frauen in Begleitung kleiner Kinder.
Die ARCOM betreibt in Rabat das Rasthaus „Baobab“ für geflüchtete Frauen. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Auf meiner Flucht habe ich mehrere Jahre in Marokko verbracht. Dort habe ich erlebt, wie schwierig die Lage für Migrantinnen ist, die sich auf den Weg nach Europa machen. Die Probleme gab es ja schon vor der Corona-Krise. 2005 haben wir die ARCOM gegründet, um die Rechte von Migrant:innen in Marokko zu verteidigen. Im Kontext von Afrique-Europe-Interact ist dann vor etwa sechs Jahren die Idee entstanden, in Marokko eine Struktur aufzubauen, die praktische Hilfe für Migrantinnen in Notsituationen bietet. Daraus hat sich dann das Rasthaus entwickelt, auch durch weitere Unterstützer wie die NGO medico international.
Wie erfahren die Frauen von dem Rasthaus? Wie kommen Sie zum Baobab?
In den meisten Fällen erfahren die Frauen durch andere Migrant:innen vom Rasthaus. Viele sind erst kürzlich in Marokko angekommen und haben keinen gesicherten Schlafplatz. Immer wieder passiert es, dass die marokkanische Polizei an den Aufenthaltsorten von Migrant:innen Razzien durchführt. Bei diesen Aktionen zerstören die Polizisten oft das Eigentum der Migrant:innen oder nehmen ihnen alles weg. Andere Frauen im Baobab haben vorher in marokkanischen Familien als Hausangestellte gearbeitet und dort wie moderne Sklavinnen geschuftet. In diesen Notlagen hören die Frauen vom Rasthaus. Wir arbeiten auch mit der Caritas zusammen, die ebenfalls Migrantinnen zu uns schickt.
Aus welchen Ländern kommen die Frauen und wie kommen sie nach Marokko?
Die Frauen, die im Baobab unterkommen, sind eigentlich auf dem Weg nach Europa. Sie kommen aus verschiedenen Ländern südlich der Sahara, unter anderem Mali, Guinea, Côte d'Ivoire, DR-Kongo und Burkina Faso. Die große Mehrheit der Frauen reist über Niger und durchquert die Wüste Richtung Norden nach Algerien. Anschließend reisen sie weiter nach Marokko. Andere Frauen reisen über Mauretanien.
Was sind die größten Risiken, denen Frauen unterwegs ausgesetzt sind?
Die Reise ist für Männer wie Frauen mit großen Risiken verbunden. Doch für Frauen sind die Gefahren doppelt so groß. Sie werden häufiger ausgeraubt. Viele werden Opfer von Gewalt. Nahezu alle Frauen in unserem Rasthaus haben auf ihrer Reise sexualisierte Gewalt erfahren.
Welche Unterstützung bekommen die Frauen im Rasthaus?
Das Baobab ist für die Frauen zunächst einmal ein sicherer Ort, an dem sie zur Ruhe kommen können. Der Aufenthalt ist eigentlich auf drei Monate begrenzt. Immer wieder müssen wir von dieser Regelung abweichen, etwa wenn eine Frau kurz vor der Entbindung steht oder gerade ein Kind zur Welt gebracht hat. Im Rasthaus erleben wir, dass es für die Frauen sehr schwierig ist, über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen. Generell gibt es in Marokko kaum psychologische Betreuungsstrukturen für Betroffene sexualisierter Gewalt. Wir versuchen die Frauen bei der Bewältigung des Alltags in Marokko unterstützen. Neben Unterkunft, Verpflegung und medizinischer Grundversorgung erhalten die Frauen auch Zugang zu Alphabetisierungskursen und Berufsqualifizierungsangeboten.
Welche Perspektiven haben die Migrantinnen in Marokko? Was machen die Frauen nach der Zeit im Rasthaus?
Leider ist es so, dass ihre Situation sehr schwierig bleibt. Manche finden eine Beschäftigung als Hausangestellte in einer marokkanischen Familie. Aufgrund der Pandemie gelingt das aber momentan nur den Allerwenigsten. Andere Frauen müssen am Straßenrand betteln, um über die Runden zu kommen. Wer Glück hat, findet zumindest eine Unterkunft, das heißt die Frauen teilen sich ein Zimmer mit zwei, drei oder auch fünf anderen Migrantinnen. Die Mehrheit der Frauen versucht über das Meer nach Europa zu kommen, trotz aller Risiken, die damit verbunden sind. Sie haben kaum andere Optionen.
Hinweis: Dieser Text ist in der AEI Zeitung im Dezember 2020 erschienen. Die vollständige Ausgabe steht als PDF unter folgendem Link zum Download zur Verfügung: AEI-Zeitung Dezember 2020