Dezember 2018 | Rasthaus-Newsletter Nr. 7: Konferenz in Rabat am 1./2.Dezember 2018 (Bilder & Bericht)
Am 1./2. Dezember hat in Marokko eine große Konferenz selbstorganisierter Migrant_innen und Geflüchteter stattgefunden. Die Konferenz wurde von der Gruppe ARCOM organisiert, jener Gruppe, die zusammen mit Afrique-Europe-Interact das Rasthaus in Rabat betreibt.
Es lohnt, mit einem Rückblick zu beginnen: Im April 2005 wurde in Rabat die ARCOM gegründet – die Vereinigung kongolesischer Geflüchteter in Marokko [*]. Die anfänglichen Treffen fanden unter großer Geheimhaltung statt, meist in kleinen Wohnungen. Es war die Zeit, als es regelmäßig zu Massenabschiebungen gekommen ist – überwiegend nach Oujda ins marokkanisch-algerische Grenzgebiet im Osten des Landes. Seitdem setzte sich die ARCOM praktisch und politisch für die Rechte von Migrant_innen und Geflüchteten ein. Zu ihren ersten großen Bewährungsproben sollten die Ereignisse im Oktober 2005 gehören, als an den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla mindestens 15 Menschen von spanischer und marokkanischer Polizei erschossen wurden.
Nachzulesen ist dies und vieles Weitere in Emmanuel Mbolelas Buch „Mein Weg vom Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil.” Das von Afrique-Europe-Interact herausgegebene Buch liegt inzwischen in vierter Auflage vor, Mitglieder des Europäischen Bürgerforums haben französische und italienische Ausgaben besorgt, Anfang 2019 erscheint das Buch in einem renommierten New Yorker Verlag auf englisch. Doch das war nur der Anfang. Seit Veröffentlichung des Buches hat Emmanuel Mbolela – zusammen mit seinem Übersetzer Alexander Behr – mehrere hundert Lesungen in Österreich, der Schweiz und Deutschland bestritten, in jüngerer Zeit auch in Frankreich und Italien. Und das mit der Konsequenz, dass derart viele Spenden gesammelt werden konnten, dass es Anfang 2015 zu einer Art Neustart der ARCOM gekommen ist. Denn mit den Spenden hat die ARCOM – zusammen mit Afrique-Europe-Interact – ein Rasthaus für Migrantinnen und ihre Kinder in Rabat eröffnet. Eine Reaktion auf den Umstand, dass viele Frauen sowohl bei der Wüstendurchquerung als auch in Marokko regelmäßig massiver sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, wie Emmanuel Mbolela in seinem Buch eindrücklich beschreibt.
Das unter dem Namen “Baobab” firmierende Rasthaus ist in den letzten drei Jahren kontinuierlich gewachsen – auch dank das Umstandes, dass das Europäische BürgerInnforum und die Franfurter NGO medico international ebenfalls in die finanzielle Unterstützung miteingestiegen sind. Derzeit umfasst das Rasthaus 4 Wohnungen mit ca. 30 Plätzen, hinzu kommt das Büro der ARCOM, wo auch Workshops, Alphabetisierungskurse für Frauen und Schulunterricht für die Kinder marokkanischer und subsaharischer Eltern stattfinden. Es kann daher nicht überraschen, dass rund um die ARCOM ein dichtes soziales Netz entstanden ist, mit vielen Verbindungen in unterschiedliche migrantische Communites, dies auch vor dem Hintergrund, dass einige Baobab-Mitarbeiterinnen ursprünglich selber im Rasthaus für einige Monate gelebt haben.
Wie stark jenes Netz mittlerweile ist, dürfte spätestens am ersten Dezember-Wochenende in Rabat deutlich geworden sein: Dort hatte die ARCOM unter dem Titel „Stimme an die Migrant_innen“ zu einer internationalen Konferenz eingeladen – zusammen mit Afrique-Europe-Interact und dem Europäischen BürgerInnenforum. An beiden Tagen waren jeweils rund 400 Menschen in das kommunale Veranstaltungszentrum in Hay Nada I gekommen, eines jener Quartiere in der marokkanischen Hauptstadt, in dem sich in den letzten Jahren zahlreiche Migrant_innen aus Subsahara-Afrika niedergelassen haben. 400 Teilnehmer_innen – das mag sich für europäische Ohren unspektakulär anhören, war es aber keineswegs: Noch nie hat es in Marokko eine derart große Konferenz selbstorganisierter Migrant_innen gegeben, und schon gar nicht an einem öffentlichen Ort. In diesem Sinne war nicht nur die schiere Teilnehmer_innen-Zahl beeindruckend. Auch der Umstand, dass die Konferenz offiziell genehmigt wurde, ist keineswegs zu unterschätzen – und das umso mehr, als die zwingend erforderliche Genehmigung einer solchen öffentlichen Veranstaltung lange am seidenen Faden hing. So wurde dem aus der Demokratischen Rebublik Kongo eingeladenen Kleinbauernaktivisten Victor Nzuzi mit dem Argument ein Visum verweigert, dass Migrationsfragen in Marokko derzeit ein delikates Thema seien (eine Erfahrung, die auch zahlreiche Delegierte aus Subsahara-Afrika anlässlich der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zum UN-Gipfel in Marrakesh am 9./10. Dezember machen mussten). Zwei Tage vor der Konferenz hieß es sodann, dass der bereits seit zwei Monaten reservierte und bezahlte Saal am ersten Tag erst ab 16 Uhr zur Verfügung stünde und nicht wie geplant ab 9 Uhr. Und das einzig deshalb, weil sich eine staatliche Entwicklungsagentur spontan eingemietet hatte. Zudem wurde die Genehmigung der Konferenz von der Bedingung abhängig gemacht, dass die ARCOM schriftlich zusichere, den marokkanischen Staat während des Wochenendes nicht zu kritisieren. Marokkanische Aktivist_innen betrachteten dieses Vorgehen als völlig normal, es sei Ausdruck des Umstandes, dass Marokko ein hochgerüsteter, mitunter willkürlich agierender Polizeistaat sei. Gleichzeitig wurde kolportiert, dass die Behörden die Sorge umtrieben hätte, europäische Aktivist_innen könnten sich negativ über den König äußern – eines von drei mit empfindlichen Strafen bewährten Tabus in Marokko (neben kritischen Äußerungen zum Islam bzw. zu der seit 1975 andauernden Besatzungspolitik in der Westsahara). Dass derlei Drohgebärden durchaus ernst gemeint waren, wurde auch daran deutlich, dass mehrere Angehörige des staatlichen Sicherheitsapparats den ersten Konferenztag stundenlang in einem Nebenraum verfolgten – bevor sie sich mit dem Hinweis verabschiedeten, dass sie mit dem bisherigen Verlauf äußerst zufrieden seien.
Zur Konferenz selbst: Unter dem Portrait von König Mohamed VI zeichnete sich diese durch eine große Bandbreite ganz unterschiedlicher Formate bzw. Interventionen aus: Von politischen Reden, persönlichen Zeugenaussagen und Workshops über Poetry, Theater und Musik bis hin zu gemeinsamen, von den Baobab-Bewohnerinnen zubereiteten Mahlzeiten. Bemerkenswert war, dass der Saal von der ersten Minute an von einem ganz besonderen Geist erfüllt war: Am ersten Abend skandierten vor allem jüngere Migrant_innen immer wieder „Boza“ – den Befreiungs- bzw. Erleichterungsschrei an den Zäunen von Ceuta und Melilla. Gleichzeitig flossen nahezu pausenlos Tränen – nicht nur des Schmerzes, sondern auch der Berührtheit davon, sich überhaupt zusammengefunden zu haben. Dabei erwiesen sich vor allem zwei Beiträge als absolute Highlights: Zum einen die teilweise frei vorgetragenen Poetry-Slams, die für viele eine ganz offensichtlich katharsische Wirkung hatten. Zum anderen ein Theaterstück des ACROM-Unterrichtsprojektes: Kinder bzw. Jugendliche aus 11 Ländern (inklusive Marokko) setzten sich in dieser Darbietung mit der Frage des vorurteilsfreien, ja solidarischen Zusammenlebens in Marokko auseinander. Passend hierzu dürfte der wohl häufigste Slogan auf der Konferenz „Nous sommes tous ensemble“ gewesen sein: wir gehören alle zusammen! Nicht minder bedeutsam war zudem eine Workshop-Phase am zweiten Konferenztag, die den Austausch unter den Teilnehmer_innen einmal mehr intensiviert hat. Betont sei daher auch, dass das auf Partizipation und Selbstermächtigung zielende Workshop-Format wahrscheinlich nicht zustande gekommen wäre, hätte der Moderator Alassane Dicko von der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact nicht mit viel Geschick dafür geworben.
Die Konferenz ist nicht nur ein politisches und emotionales Feuerwerk gewesen. Genauso wichtig war die soziale Dimension, deshalb ist in der Nachbereitung immer wieder von einem Familien- bzw. Community-Fest die Rede gewesen – als dem eigentlichen, quasi geheimen Lehrplan des gesamten Treffens. In diesem Zusammenhang wurde zweitens von vielen die Bedeutung hervorgehoben, dass Frauen-bezogene Anliegen einen der Schwerpunkte der Konferenz gebildet haben. Drittens ist durch die Konferenz das allgemeine Verständnis für die politischen Zusammenhänge enorm vertieft worden: Nicht die brutalen Grenzbefestigungen standen im Zentrum (wie das im Falle von Marokko oftmals der Fall ist), sondern die Frage, welche Interessen sowohl die EU als auch die nordafrikanischen Länder jeweils verfolgen – inklusive der allenthalben geteilten Einschätzung, dass unterm Strich Europa die treibende Kraft in Sachen Abschottung ist. Viertens sind im Laufe des Wochenendes zahlreiche alltagspraktische Informationen zur Sprache gekommen, ganz gleich ob es um Aufenthaltsfragen oder medizinische Unterstützungsangebote ging. Schließlich ist fünftens immer wieder die Frage thematisiert worden, ob und unter welchen Bedingungen Marokko für Migrant_innen aus Subsahara-Afrika ein geeigneter Ort werden könnte, um sich mittel- oder langfristig niederzulassen. Und dies auch deshalb, weil es in den letzten Jahren zu einer merklichen Öffnung der marokkanischen Gesellschaft gegenüber Migrant_innen und Geflüchteten aus Subsahara-Afrika gekommen ist – trotz rassistischer und xenophober Haltungen, die weiterhin in breiten Teilen der Bevölkerung anzutreffen sind. Was letzteres betrifft, dürfte auch der Umstand eine symbolische wichtige Rolle gespielt haben, dass sich rund 30 marokkanische Aktivist_innen an der Konferenz beteiligt haben – ebenfalls keine Selbstverständlichkeit. Entsprechend fielen auch die beiden zentralen Botschaften am Ende der Konferenz aus: Einerseits die Forderung an die marokkanische Politik bzw. an den marokkanischen König, eine dritte Regularisierungswelle für papierlose Migrant_innen und Geflüchtete in Marokko einzuleiten, und zwar zu besseren Konditionen, als das bislang der Fall gewesen ist. Andererseits die Idee, in Rabat ein von Migrant_innen selbstverwaltetes Soziales Zentrum einzurichten – und zwar in Trägerschaft der ARCOM. Im Kontext beider Forderungen wurde auch der auf dem UN-Gipfel in Marrakesch mittlerweile verabschiedete UN-Migrationspakt angesprochen, und zwar in der Perspektive davon, dass dieser ja Migrant_innen und Geflüchteten zukünftig mehr Rechte gewähren soll – ganz gleich wo. Demgegenüber waren die Forderung an die Adresse Europas grundsätzlicher. Hier ging es sowohl um das Recht auf Bewegungsfreiheit als auch um die Forderung, mit der Ausbeutung der afrikanischen Länder endlich aufzuhören – beides sinnbildlich darin zum Ausdruck kommend (wie diverse Redner_innen betonten), dass zwar Kapital und Waren frei zirkulieren dürfen, nicht aber Menschen.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Konferenz die derzeit herrschenden Widersprüche zwischen globalem Süden und globalem Norden eindrucksvoll auf den Punkt gebracht hat: Während das “alte Europa” – so die Formulierung eines Vertreters des Europäischen BürgerInnenforums – sich in immer neuen Abschottungstendenzen verliert, hieven auf der andere Seite der Barrikade nicht zuletzt Migrant_innen und Geflüchtete die Frage politischer und sozialer Rechte mit Nachdruck auf die Tagesordnung – ob bei der zentralamerikanischen Migrant_innen-Karawane Richtung USA oder jüngst in Rabat. Eine Dynamik, die im Übrigen auch eine bemerkenswerte Pointe ganz am Ende gezeigt hat: Bereits im Jahr 2005 hat die ARCOM einen Antrag gestellt, als Verein offiziell anerkannt bzw. eingetragen zu werden – ein Akt, der unter anderem Voraussetzung dafür ist, ein eigenes Vereinskonto führen zu können. Umso größer war das (begeisterte) Erstaunen darüber, dass die marokkanischen Behörden der ARCOM just diese Anerkennung am Tag nach der Konferenz offiziell überreicht haben.
[*] Heute steht der Name ARCOM für “Vereinigung der Geflüchteten und der migrantischen Gemeinschaften in Marokko”.