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27.05.2016 | Stellungnahme von WatchTheMed Alarm Phone zur aktuellen Situation im Mittelmeer

Die EU und der Tod auf See – Vom kalkulierten und überwachten Sterben im zentralen Mittelmeer

Über vier Stunden hat es am gestrigen Donnerstag Vormittag gedauert, bis Rettungsschiffe eintrafen. Vier Stunden Bangen und die Bemühung, die Menschen an Bord eines überfüllten Holzbootes zu beruhigen. Um 6.21 Uhr hat das Schichtteam des WatchTheMed Alarm Phone die GPS-Daten als SOS an die Rettungsleitstelle der italienischen Küstenwache in Rom (MRCC) durchgegeben. Zuvor kam der Notruf via Satelliten-Telefon, der Anrufer berichtete von zwei Booten mit jeweils 500 Menschen an Bord, darunter viele syrische und irakische Flüchtlinge. Um 10.31 Uhr kam endlich Rettung in Sicht, doch eine Stunde zuvor war das zweite Boot in Sichtweite bereits gesunken. Wie viele Menschen dabei ertrunken und verschwunden sind, ist bislang unbekannt. Die Küstenwache aus Rom berichtet in ihrer Tagesbilanz u.a. vom Kentern eines Bootes sowie von 96 Geretteten. Todesopfer werden keine erwähnt. Doch das private Rettungsschiff Sea-Watch, das am frühen Nachmittag die Unglücksstelle erreichte, musste Ertrunkene bergen.

Kalkuliertes Sterben

In den vergangenen drei Tagen sind erneut Tausende von Flüchtlingen und MigrantInnen auf überfüllten Booten von der libyschen Küste Richtung Sizilien gestartet: 2600 Menschen am Dienstag, 3000 am Mittwoch, über 4000 am gestrigen Donnerstag. Niemand kann mehr überrascht sein, schon gar nicht die Verantwortlichen der EU-Migrationspolitik. Doch sie weigern sich, das tödliche Visumregime abzuschaffen und legale sichere Einreisewege zu eröffnen. Im Gegenteil: die im Sommer letzten Jahres erkämpfte offene Balkanroute wurde in den letzten Wochen mit aller Gewalt wieder verschlossen. Unter den Opfern des gestrigen Tages im zentralen Mittelmeer befinden sich erstmals wieder syrische und irakische Flüchtlinge. Sie wären über die Ägäis und die Balkanroute sehr viel sicherer gereist, doch deren Schließung zwang sie auf die viel gefährlichere Route über Libyen. Als Resultat der Schließung der Balkanroute and des inhumanen EU-Türkei-Deals, droht in Griechenland ankommenden Flüchtlingen die Abschiebung in die Türkei, während diejenigen, die sich bereits auf dem griechischen Festland befinden, ohne jegliche Perspektive der baldigen Weiterreise bleiben. Diese politische Veränderung zwingt Flüchtlinge auf die gefährlichere Route über Libyen.

Überwachtes Sterben

Seit fast einem Jahr läuft die Militär-Operation EUNAVFOR MED/Sophia zur Überwachung des zentralen Mittelmeeres zwischen Libyen und Italien. Ihr zentraler Auftrag ist die Bekämpfung der sogenannten Schleusernetzwerke. Die „Schlepperjäger“ sind mit allem High-Tech ausgerüstet, die Meereszone vor der Küste Libyens gehört zu den Bestüberwachtesten der Welt. Und was wäre einfacher als im Stundentakt mit einem kleinen Aufklärungsflugzeug entlang der allseits bekannten Routen die Boote der Geflüchteten auf See zu orten und diese sofort zu retten? Stattdessen sind es immer wieder die italienische Küstenwache, private Initiativen und NGOs, die mit ihren Rettungsbooten Schlimmeres verhindern. Und wenn sie dann mit den Geretteten unterwegs sind nach Sizilien, fehlen die Kapazitäten und es geschieht, was gestern erneut passiert und offensichtlich von den Verantwortlichen beabsichtigt ist: Das Sterben auf See geht weiter. Und solange möglich, wird es verschwiegen oder vertuscht oder kleingeredet, um neue öffentliche Aufschreie zu vermeiden.

Wir schreien auf, einmal mehr und immer wieder. Über die Toten der letzten 20 Jahre, über die Toten gestern. Niemand müsste auf See sterben, wenn es legale sichere Zugangswege gebe. Das Sterben auf See ist keine Naturkatastrophe und kein Unfall. Es ist vielmehr das kalkulierte Produkt eines EU-Grenz- und Visa-Regime. Das Sterben auf See ist menschengemacht und könnte morgen als dunkles Kapitel der Geschichte beendet werden: mit der Öffnung der Grenzen und dem freien Zugang zu Fähren.

Der lange Sommer der Migration auf dem Balkan hat es gezeigt: sind die Grenzen geöffnet, gibt es keine „Schlepper“ mehr. Teuer und gefährlich reist nur, wer dazu von Frontex und Co gezwungen wird. Eine Welt ohne Grenzen ist möglich: sowohl Frontex wie auch die „Schlepper“ werden dann verschwunden sein.

In diesem Sinne: #FährenStattFrontex

WatchTheMed Alarm Phone (27.05.2016)

*Kontakt:*wtm-alarm-phone@antira.info