Vor den Toren der Festung Europa
Zu den politischen Hintergründen des Rasthaus-Projektes:
Seit Jahren lässt die EU nichts unversucht, ihre Außengrenzen gegen Flüchtlinge und Migrant_innen immer stärker abzuschotten. Hierdurch ist das Mittelmeer mittlerweile zu einem riesigen Friedhof geworden – und dies einzig deshalb, weil Flüchtlingen und MigrantInnen systematisch die Möglichkeit verwehrt wird, auf den täglich über das Mittelmeer pendelnden Fähren sicher und kostengünstig nach Europa zu gelangen. Doch selbst auf dem afrikanischen Kontinent sind die Auswirkungen der europäischen Abschottungspolitik auf dramatische Weise spürbar. So werden Flüchtlinge und Migrant_innen in der Sahara im Auftrag der EU abgefangen, in Internierungslager gesperrt und Richtung Süden abgeschoben – teils über den Landweg nach Mauretanien, Mali oder Niger, teils per Charterflug nach Nigeria oder in andere aufnahmebereite Länder Westafrikas.
Konsequenz ist, dass Flüchtlinge und Migrant_innen bereits in der Wüste keine andere Möglichkeit sehen, als mit Hilfe von Schleppern hochgradig gefährliche Umwege in Kauf zu nehmen, anstatt in ganz normalen Reisebussen auf den befestigten, häufig sogar geteerten Straßen die Sahara zu durchqueren. Am zugespitztesten ist die Situation für Frauen und ihre Kinder. Denn immer wieder werden diese zum Opfer sexualisierter Gewalt – meist durch Schlepper und Grenzbeamte, aber auch durch männliche Mitreisende. So ist es kein Zufall, dass Frauen von den Schleppern meist sorgfältig auf die unterschiedlichen Autos und Lastwagen verteilt werden. Denn an den Grenzübergängen fungieren diese als eine Art sexuelles “Wechselgeld, wie es in einer von Flüchtlingen und Migrant_innen häufig verwendeten Formulierung heißt. Konkreter: Sie werden regelmäßig von Polizisten und anderen Sicherheitskräften zu Sex gezwungen bzw. vergewaltigt – eine Situation, die auch von mitreisenden Männern buchstäblich als psychischer Folter erlebt wird.
Ist die brutale Reise durch die Wüste geschafft, wird die Situation allerdings keineswegs besser. Denn die EU setzt die Maghreb-Staaten im Rahmen so genannter Partnerschaftsabkommen nicht nur unter Druck, als Gendarmen der weit vorverlagerten EU-Außengrenzen zu fungieren. Vielmehr werden Flüchtlinge und Migrant_innen auf europäisches Geheiß auch in den Ländern Nordafrikas systematisch verfolgt und entrechtet – wobei ausdrücklich hinzugefügt sei, dass es in Libyen seit dem Sturz Gadaffis weniger die EU, als vielmehr die mit einem krassen Rassismus einhergehende Bürgerkriegssituation ist, die zu massiven Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schwarzen führt. Praktisch bedeutet dies, dass Flüchtlinge und Migrant_innen aus Subsahara-Afrika in Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko kaum Zugang zu staatlicher Infrastruktur wie dem Bildungs- oder Gesundheitsystem haben. Auch Erwerbsarbeit ist fast nur unter irregulären Bedingungen möglich, was häufig zu Überausbeutung und Lohnprellerei führt. Hinzu kommen ständige Razzien durch Sicherheitskräfte – sei es in den Städten oder in den Wäldern, wo Migrant_innen auf ihre Überfahrt mit Booten Richtung Europa warten – letzteres vor allem in Marokko. Zudem kommt es auch hier immer wieder zu sexualisierter Gewalt und somit zu ungewollten Schwangerschaften, ohne dass die Möglichkeit zu einer angemessener gesundheitlichen Versorgung bestehen würde.
All dies ist der Grund, weshalb Afrique-Europe-Interact im Februar 2015 in der marokkanischen Hauptstadt Rabat eine Rasthaus-Wohnung für Frauen und ihre Kinder eröffnet hat, insbesondere um neu ankommenden Migrantinnen die Möglichkeit zu geben, sich auszuruhen und die nächsten Schritte sorgfältig zu planen. Denn neben Libyen ist Marokko für viele Flüchtlinge und MigrantInnen aus Subsahara-Afrika unverändert eine wichtige Etappenstation – wahlweise, um die auf marokkanischen Territorium gelegenen spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu erreichen oder ein Boot Richtung spanischer Küste zu nehmen. Ermöglicht wurde der Start des Rasthaus-Projekts durch drei größere Einzelspenden, die Afrique-Europe-Interact anlässlich von Lesungen des Buches “Zwischen Widerstand, Flucht und Exil. Mein Weg von Kongo nach Europa” erreicht haben. Denn in diesem Buch beschreibt der bei Afrique-Europe-Interact aktive Autor Emmanuel Mbolela unter anderem die Gewalterfahrungen und die soziale Situation von Frauen auf den unterschiedlichen Flucht- bzw. Migrationsrouten.