"Weil ich nicht vor und nicht zurück konnte..."
Bericht einer Migrantin, die auf dem Meer ihre Zwillinge verloren hat (2015)
Vorbemerkung: Folgender Text basiert auf einem mündlichen Bericht, den eine aus dem Kamerun stammende Frau während eines Treffens von Afrique-Europe-Interact gemacht hat. Beschrieben wird die oftmals ausweglose Lebenssituation in Marokko und wie das dazu führt, dass viele Migrantinnen keine andere Möglichkeit sehen, als die gefährliche Bootsüberfahrt nach Europa zu wagen. Der Bericht ist den Zwillingen der Berichterstatterin gewidmet, die im Dezember 2014 im Mittelmeer ums Leben gekommen sind.
Ich war 7 Jahre in Marokko, komme ursprünglich aus Westkamerun. Eigentlich ging ich nach Marokko, um Handel zu treiben, Import/Export, wurde aber dann betrogen und sollte 8.000 Euro zahlen. Ich hatte einen temporären Aufenthalt, den konnte ich dann aber nicht verlängern, hatte keine Papiere mehr, und konnte nicht mehr arbeiten, wurde illegalisiert. So kann das auch passieren. Ich kannte nicht viele Leute anfangs, aber es gab eine marokkanische Frau, die mich etwas unterstützt hat, ich habe dann eine klandestine kamerunische Küche aufgebaut, damit ich mich nicht an die Männer verkaufen muss. So kommt es, dass mich alle von dort kennen.
Von den vielen Frauen, die ich getroffen habe, sind viele von Grenzpolizisten oder Militärs sexuell missbraucht worden, selbst wenn sie Kondome dabei haben, werden die abgelehnt, so werden sie schwanger. Bei Kontrollen werden sie von der Polizei bedrängt, an den Brüsten angefasst, sie müssen versuchen, sich zu schützen. Viele Frauen wissen außerdem nicht, was sie tun sollen, um etwas zu essen zu haben, und zugleich gibt es dort viele Männer, die sehr lange keinen Sex mehr hatten, und so kommt es dann dazu, dass die Frauen sich verkaufen, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Ich habe mal versucht, in die Türkei zu kommen, hatte auch alles schon organisiert, hatte ein Visum und alles. Ich wurde dennoch beim Flughafen aufgehalten, mit dem Vorwurf, das Visum sei gefälscht. Die haben dann meinen Pass beschlagnahmt, seit dem habe ich keinen Pass mehr. Ich habe dort mal nachgefragt und zur Antwort bekommen, wenn du Sex mit mir machst, bekommst du ihn.
Ich habe dann beschlossen, lieber illegal zu bleiben, als mich für meine Papiere zu verkaufen. Ich habe dann eine feste Beziehung begonnen, Kinder bekommen, und insofern meine eigenen Träume und Lebensinhalte aufgegeben. Ich habe mehrmals versucht, freiwillig nach Kamerun zurückzukehren. Das habe ich dreimal versucht, wurde aber dreimal abgelehnt. Wenn es in den Häusern Razzien gibt, dann begeht die Polizei auch Vergewaltigungen, vor allem nehmen sie den Leuten aber alle Sachen ab, Telefone, Geld, selbst Kinderkleidung. Wenn man einen Mietvertrag abschließt mit einem Vermieter, kann plötzlich jemand anderes kommen und sagen, das ist aber mein Haus, und derjenige, mit dem man den Vertrag hat, ist nicht auffindbar. Außerdem gibt es in Tanger immer wieder Pogrome durch die lokalen Obdachlosen, die von der Polizei dafür engagiert werden. Ich habe in diesem Zusammenhang insgesamt sieben Morde in Tanger mitbekommen, das heißt mehr als nur den einen, der etwas bekannter wurde. Es gab einen Fall, wo Steine aus einen hohen Stockwerk auf eine Migrant_innenfamilie geworfen wurden, wodurch zwei Söhne getötet wurden.
Nach der Geschichte waren wir alle total aufgebracht, ein Krankenwagen kam, und wir haben dann auch die Nacht im Krankenhaus verbracht, weil wir in dem Viertel solche Angst hatten. Da habe ich dann beschlossen, dass ich es auch probiere, mit dem Boot nach Europa zu kommen, so bin ich dann losgegangen, weil ich nicht vor und nicht zurück konnte, wenn ich in Marokko bleibe. Es war ein großes Boot, wir waren 56 Leute und 10 Kinder darunter, in Sichtweite der Küste haben wir die marokkanische Grenzpolizei getroffen, die haben uns gehen lassen, haben aber Wellen gemacht und uns in Schwierigkeiten gebracht. Wir waren drei Tage auf dem Meer in der Kälte ohne Essen. Wir haben dreimal die marokkanische Polizei getroffen, sie haben uns nicht geholfen. Dann wurden wir von der spanischen Küstenwache gerettet. Mir ist nur meine kleine Tochter geblieben. Ich träume noch von den Toten, sie waren aus dem Senegal, von der Elfenbeinküste und viele aus Mali. Nur 17 Menschen haben überlebt. Auf dem Boot gab es Streit, als die Leute begannen zu sterben. Drei Nigerianer haben eine Frau aus dem Senegal ausgezogen, und wollten sie vergewaltigen, Kameruner haben versucht, das zu verhindern, es wurden Leute über Bord geworfen, die Nigerianer haben irgendwelche mythischen Dinge erzählt.
Jeden Tag und jede Nacht denke ich an die toten Kinder, ich habe meine Zwillinge verloren. Eigentlich wäre ich lieber in Kamerun. Mir ist wichtig zu sagen, dass nicht alle gehen wollen, sondern in einer Zwangssituation die Entscheidung treffen, auf die Boote zu gehen. Es gibt gewissenlose Leute, die anderen anbieten, sie nach Europa zu bringen, aber denen nur das Geld abknöpfen wollen. Teilweise erzählen sie dann auch Leuten in den Herkunftsländern Lügen, dass ihre Angehörigen in einem Lager in Malaga seien, die aber ums Leben gekommen sind. Ich wurde mal von einer Frau aus Senegal angerufen, die irgendwie an meine Nummer gekommen war. Sie dachte, ihr Sohn sei in dem Lager in Spanien. Ich habe ihn selbst auf dem Meer sterben sehen, war aber unfähig, das der Mutter zu sagen. Ich habe dann nur gesagt, ich sei nicht in Malaga und wisse nichts davon.