"Wir haben das Recht zu leben"
Eine persönliche Rede zur männlichen Gewalt gegen Frauen auf der Flucht (2005)
Vorbemerkung: Die hier abgedruckte Rede einer aus dem Kongo stammenden und schon lange in Marokko lebenden Frau hat Emmanuel Mbolela in seinem Buch “Zwischen Widerstand, Flucht und Exil. Mein Weg von Kongo nach Europa” dokumentiert. In ihr beschreibt Astrid, die zusammen mit Emmanuel eine der ersten selbstorganisierten Flüchtlingsorganisationen in Marokko gegründet hat, ihre eigene Fluchtgeschichte, insbesondere die unterschiedlichen Formen von Gewalt und Ausbeutung, mit denen sich Frauen auf der Flucht immer wieder konfrontiert sehen. Für einige jener Einzelspenderinnen, die den Start des Rasthausprojekts mit einem größeren Geldbetrag überhaupt erst ermöglicht haben, war die Geschichte von Astrid gleichsam eine Schlüsselszene in Emmanuels Mbolelas Buch.
„Ich verließ mein Heimatland, die demokratische Republik Kongo, im September des Jahres 2000. Seit ich unterwegs bin, wurde ich Zeugin von unzähligen Gewalttaten gegen Frauen. Ich selbst wurde auch Opfer von Gewalt. Heute bin ich in der Unterstützung und Ausbildung von Frauen und Kindern aktiv, die nach Marokko migriert sind. Ich möchte euch über die Bedingungen meiner Reise erzählen sowie über unser Leben im Exil. In den meisten Fällen treten Frauen und Kinder aus dem Kongo ihre Flucht zu Fuß an. Sie durchqueren ganze Landstriche, überwinden Flüsse und große Ströme und gelangen oft nur schwer an trinkbares Wasser und Nahrung. Ihre einzige Hoffnung ist der Schutz Gottes. Viele Frauen werden auf ihrer Reise Opfer von Vergewaltigungen. Sie sind dazu gezwungen, sich zu prostituieren und sind damit einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Ihre Kinder werden durch die Strapazen der Reise ebenfalls leicht krank. Die schwächsten von ihnen sterben. Ein großes Problem ist die fehlende Gesundheitsversorgung. Oft kommt es zu ungewollten Schwangerschaften. Die Abtreibungen finden unter unmenschlichen Bedingungen statt und nicht selten kommen Frauen dabei ums Leben.
Ich selbst bin aus meinem Land geflüchtet, nachdem ich neun Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Ich war wegen der öffentlichen Funktionen meines Mannes eingesperrt worden. Über die Dinge, die ich im Gefängnis erlebt habe, möchte ich hier nicht sprechen. Sie kehren an jedem Tag meines Lebens zurück, gleich einem unendlichen Alptraum. Nach meiner Freilassung konnte ich mich von Kinshasa nach Brazzaville retten, doch ich wusste nicht einmal, wo meine Eltern und meine Familie, meine Brüder und Schwestern verblieben waren. Als ich auf meiner Flucht Kamerun erreichte, erfuhr ich von einem Kongolesen, den ich dort traf, dass mein Ehemann erschossen worden war. Ich durchquerte auf meiner Reise viele Länder: Ich kam durch Kongo Brazzaville, Kamerun, Tschad, Libyen, Algerien und schließlich nach Marokko. Mit der Durchquerung der Sahara verbinde ich schreckliche Erinnerungen. Doch ich war gezwungen, die Wüste zu durchqueren, auf meiner Suche nach einem Ort, an dem ich beschützt und respektiert sein würde. Ich wollte ein ganz neues Leben beginnen; und natürlich wollte ich auch meine Lieben wiederfinden. Auf meiner Reise sah ich Menschen, die in der Hitze der Sonne verdursteten. Ich selbst habe heute noch Wunden auf meiner Haut, die von der Sonne herrühren. Wir marschierten oftmals in einer sengenden Hitze von bis zu 60 Grad. Nicht selten verirrten wir uns in der Wüste. Den Frauen wurden schreckliche Dinge angetan, viele wurden vergewaltigt. Nach vier Jahren kam ich im Dezember 2004 endlich in Marokko an. Hier habe ich andere Kongolesinnen und Kongolesen getroffen. Gemeinsam beschlossen wir, uns zu organisieren und für unsere Rechte zu kämpfen.
Ich möchte euch nun noch von meinen Lebensbedingungen hier im Exil erzählen. Die Abscheulichkeiten, die wir auf unserer Route erleben mussten, verschärften sich hier in Marokko nur noch weiter. Viele Frauen sind gezwungen, sich zu prostituieren, werden vergewaltigt oder stecken sich mit Krankheiten an. Auch Marokkanerinnen sind von diesen Verbrechen betroffen. Viele Migrantinnen leiden außerdem unter Hunger, sie werden Opfer von willkürlichen Verhaftungen und von Rückschiebungen in die Wüste. Für Flüchtlinge und MigrantInnen ist es fast unmöglich, sich in Marokko zu integrieren. Ich bin gelernte Krankenschwester, doch ich kann meine Profession nicht ausüben, weil ich keine Papiere habe. Ich bin davon überzeugt, dass die Erde allen Menschen gehört und dass es keine Grenzen geben sollte. Ich weiß, dass ich das Recht habe, ein Land zu suchen, das mir Asyl geben wird. Mit der Hilfe Gottes werde ich auch meine Familie wiederfinden und eines Tages werden wir wieder vereint sein und lachend und essend am selben Tisch sitzen. Unter uns Flüchtlingen und MigrantInnen gibt es Universitätsangehörige und andere gut ausgebildete Leute, die nicht mehr ein und aus wissen, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt wird. Für die „Azzi“, wie wir abfällig genannt werden, gibt es keine Arbeitsplätze.
Neben der unmittelbaren Gewalt, die den Flüchtlingen und MigrantInnen angetan wird, gibt es ein weiteres Problem, das nicht unter den Tisch gekehrt werden darf: Viele Länder Afrikas weigern sich, Flüchtlinge auf ihrem Territorium anzuerkennen. Von Kamerun bis hinauf nach Algerien, über den Tschad und Libyen gibt es zudem praktisch keinerlei Strukturen des UNHCR. In Kamerun findet man vielleicht eine Niederlassung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge, diese ist jedoch geschlossen und inaktiv. Viele Flüchtlinge befinden sich also in einer äußerst unsicheren Situation. Während sogar Hunde das Recht haben, zu leben, wird den Flüchtlingen dieses Recht verwehrt.
Für Flüchtlinge ist es außerdem sehr schwierig, zu einer angemessene Wohnsituation zu finden. Die Überbelegung der Wohnungen führt zu großen Schwierigkeiten. Es kommt zu Übergriffen, erzwungener Prostitution und zu einer großen Anzahl an gesundheitlichen Problemen aufgrund der mangelnden Hygiene. Die Kinder von Flüchtlingen und MigrantInnen werden in den meisten Fällen in den öffentlichen marokkanischen Schulen nicht akzeptiert. Es gibt also ein großes Problem mit der Einschulung dieser Kinder. Hier sehen wir einen zentralen Ansatzpunkt für unseren Kampf: Wir verfolgen das Ziel, ein schulisches Zentrum für migrantische Kinder aufzubauen, sodass diese eine minimale Ausbildung erhalten. Trotz all unseres Engagements sind wir bei der Umsetzung unserer Ziele auf große Schwierigkeiten gestoßen: Uns fehlen die Mittel für die Miete eines Schulzimmers und die Anschaffung von Unterrichtsmaterialien. Wir haben auch nicht genug Geld, um die Lehrerinnen und Lehrer, die sich aus unseren Reihen rekrutieren, zu bezahlen.
Wie viele andere auch kann ich nicht in mein Heimatland zurückkehren, da ich dort versteckt leben müsste und ständig unter der Gefahr stünde, erneut verhaftet zu werden. Wir fordern den UNHCR Marokko und die Internationale Gemeinschaft auf, ein Land für uns zu finden, das bereit ist, uns aufzunehmen. Wir haben das Recht, zu leben. Ich sage dies stellvertretend für alle Flüchtlingsfrauen, Asylwerberinnen und Migrantinnen, die hier in Marokko leben. Ich danke euch allen.“