Trotz Notruf keine Rettung: AktivistInnen starten das Alarm Phone, eine Notrufnummer gegen das Sterbenlassen auf See
Interview mit Nolager Bremen. Von Gabi Bauer, in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 599 / 18.11.2014
Mehr als 3.000 Menschen sind im letzten Jahr Opfer des Grenzregimes geworden. Trotz abgesetzter Notrufe kam keine Hilfe, um die Menschen aus den sinkenden Booten oder dem Meer zu retten. Diesem unerträglichen Zustand soll jetzt mit einem Notruftelefon entgegengetreten werden. In dem Aufruf »Für ein >Watch The Med Alarm Phone<«, der bisher von vielen Einzelpersonen und Organisationen – auch von der Redaktion von ak – unterschrieben worden ist, heißt es »Wir verfügen über kein Rettungsteam, wir bieten keinen direkten Schutz. Wir wissen um unsere begrenzten Möglichkeiten, wir wissen um den provisorischen und prekären Charakter unserer Initiative. Wir wollen jedoch unmittelbar Alarm schlagen, wenn Flüchtlinge und MigrantInnen in Seenot geraten und nicht unverzüglich gerettet werden. (…) Wir wollen mit politischem Druck und öffentlicher Mobilisierung eingreifen gegen das Unrecht, das sich tagtäglich an den Außengrenzen der EU abspielt.« Mit NoLager Bremen sprach Gabi Bauer
Die Planung und Diskussion eines solchen Notruftelefons habt ihr ja schon länger auf dem Zettel. Sind bei der Planung auch die Erfahrungen von Geflüchteten einbezogen worden?
„Einbezogen“, das wäre viel zu schwach. Schließlich sind es Flüchtlinge und Migrant_innen selbst gewesen, durch die die Idee überhaupt erst entstanden ist. Konkret hat die Geschichte für uns spätestens 2009 beim Nobordercamp auf der griechischen Insel Lesbos in Griechenland begonnen, danach ging es Anfang 2011 mit der Bamako-Dakar-Karawane weiter. Denn in jener Zeit haben sich zahlreiche Kontakte mit Leuten entwickelt, die noch unterwegs oder gerade in Europa angekommen waren. Und genau sie sind es auch gewesen, die für sich oder andere nach praktischer Unterstützung gefragt haben. Etwa danach, die aktuellen Wetterdaten telefonisch in die Wälder bei Nador in Marokko durchzugeben oder die spanische Seenotrettung zu einem vereinbarten Zeitpunkt anzurufen, um einen Rettungseinsatz zu initiieren. Aus diesen und vielen vergleichbaren Einzelerfahrungen ist das entstanden, was heute das Alarmphone als koordinierte europaweite Struktur ausmacht.
Und was heißt das für eure personelle Zusammensetzung?
Derzeit sind etwa 50 Leute aus 10 Ländern diesseits und jenseits des Mittelmeers beteiligt – Tendenz steigend. Entsprechend gibt es auch Flüchtlinge und Migrant_innen, die selber Bootserfahrungen gemacht haben und die im Rahmen des Alarmphones Anrufe entgegenehmen oder als Übersetzer_innen tätig sind, insbesondere für Farsi und Arabisch. Außerdem sind es vorwiegend die migrantischen Mitstreiter_innen in unseren transnationalen Bündnissen, die im Rahmen ihrer eigenen Community-Kontakte über das Alarmphone informieren und die Alarmphone-Nummer weitergeben (1). Natürlich spielen auch hier soziale Netzwerke eine wichtige Rolle, genauso wie persönliche Kontakte, die als eine Art Glaubwürdigkeitsressource fungieren. Beispielhaft erwähnt seien die von Migrant_innen betriebenen facebook-Accounts „voix des migrants“ und „droits de migrants“
Wie muss ich mir eure Arbeit vorstellen, wenn ein Notruf von einem Boot eingeht. Wie wollt ihr eingreifen?
Es ist in den letzten Jahren vielfach dokumentiert worden, dass zwar Notrufe erfolgen, Rettungsmaßnahmen aber ausbleiben oder viel zu spät eingeleitet werden. Unser Ziel besteht also darin, Druck auf diejenigen auszuüben, die retten können – egal, ob Küstenwache, kommerzielle Schifffahrt oder Militärs. Bei unserer Schicht gestern ging es beispielsweise um ein Flüchtlingsboot, das bereits seit 9 Tagen unterwegs und dessen Motor zwischenzeitlich ausgefallen war. Nachdem wir rausgefunden hatten, dass zwei Schnellboote der italienischen Küstenwache losgefahren waren, haben wir dort sofort angerufen und gefragt, ob sie sich auf dem Weg zu dem Boot machen würden. In diesem Moment ist dem Herren am anderen Ende der Leitung buchstäblich die Kinnlade runtergegeklappt. Und genau darum geht es. Unsere Botschaft lautet: Ihr seid nicht allein, wir haben euer Tun im Blick – auch wenn hinzugefügt werden sollte, dass es noch viele offene Fragen bezüglich der Kommunikation mit den Küstenwachen gibt.
Aber nochmal einen Schritt zurück, was tut ihr, wenn ein Anruf kommt?
Wenn Boatpeople anrufen oder Verwandte, die selber einen Notruf erhalten haben, dann sollten in einem ersten Schritt die wichtigsten Fragen geklärt werden: Die Telefonnummer, die GPS-Daten, die Zahl der Leute, der Zustand des Bootes und vor allem die aktuelle Lage, einschließlich der Frage, was die Leute wollen. Denn mit diesen Daten können wir mittels unserer eigenen Webseite „watch the med“ sowie anderer Webseiten wie „vesselfinder.com“ klären, wo sich das Boot genau befindet, welches Land für die Rettung zuständig ist, welche Schiffe in der Nähe des Boots unterwegs sind etc. Wenn es sich um ein Satellitentelefon handelt, kann zudem zurückgerufen oder das Kreditguthaben aufgeladen werden. Und auch ist ein Satelittentelefon für die Küstenwache mit Hilfe der Telefongesellschaft direkt ortbar, jedenfalls solange der Akku noch läuft. Gleichzeitig haben bereits die ersten Erfahrungen gezeigt, dass jeder Fall unterschiedlich ist, was auch damit zu tun hat, in welchem Teil des Mittelmeeres sich das Boot aufhält und welche Küstenwache zuständig ist. Insofern ist unser Tun vor allem ein weiterer Baustein, um das Netz dichter zu weben, damit so wenig Menschen wie möglich ums Leben kommen.
Mare Nostrum hieß das Rettungsprojekt der italienischen Marine, das in einem Jahr über 151.000 Menschen im Rahmen von mehr als 420 Einsätzen gerettet hat. Mare Nostrum läuft zum Ende des Jahres aus und wird von Triton ersetzt, einer Mission der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Was ist der Unterschied zwischen den beiden und wie wird sich das auf das Alarmphone auswirken?
Mare Nostrum war tatsächlich auf Rettung ausgelegt, auch wenn es erst der öffentliche Druck nach den beiden Bootskatastrophen von Lampedusa im Oktober 2013 gewesen ist, der Italien hierzu gezwungen hat. Entsprechend hat Mare Nostrum richtiggehend nach Flüchtlingsbooten gesucht, gerettet wurde bis kurz vor der libyischen Küste. Demgegenüber dient Triton der Grenzsicherung, was Frontex auch offen zugibt. Die Boote werden lediglich in Küstenähe eingesetzt, folgerichtig stehen nur noch 2,8 Millionen Euro pro Monat und nicht mehr 9 Millionen Euro wie noch bei Mare Nostrum zur Verfügung. Konsquenz wird sein, dass wieder mehr Menschen ihrem Schicksal überlassen werden. Und das nicht nur, weil Libyen de facto kaum Rettungsmaßnahmen unternimmt. Auch Moas, eine private Seenotrettungsinitiative aus Malta, die insgesamt 3.000 Menschen gerettet oder unterstützt hat, musste aus Geldgründen seine Arbeit einstellen. In diesem Sinne dürfte der Beginn des Alarm Phone – so bitter das ist – zum richtigen Zeitpunkt gekommen sein.
Ihr habt es schon erwähnt: Es gibt verschiedene Erfahrungen, die die Geflüchteten je nach Route machen. Könnt ihr genauer ausführen, was das konkret heißt?
Am brutalsten ist sicherlich die griechische Küstenwache. Sie zerstört die Luftkammern von Schlauchbooten, konfisziert Motoren oder schleppt Boote zur nahe gelegenen türkischen Küste zurück. Wenn solche Push Backs laufen, kann man unmittelbar nicht viel tun. Allerdings haben wir von Betroffenen bereits Anrufe erhalten, in solchen Fällen geht es um eine Art Telefonberatung oder Öffentlichkeitsarbeit. Demgegenüber ist die spanische Seenotrettung vergleichsweise korrekt. Sie konzentriert sich vor allem aufs Retten, denn für die brutale Abschottungspolitik ist die spanische Guarda Civil zuständig, etwa an den Grenzzäunen von Ceuta. Am Gefährlichsten ist allerdings das Meer zwischen Libyen und Italien, hier kommen die meisten Menschen ums Leben.
Ich möchte euch ja nicht zu nahe treten, aber eine Notrufnummer in Europa, kann das nicht auch falsche Hoffnungen wecken auf Unterstützung, die nicht geleistet werden kann?
Ja klar, die Gefahr besteht. Deshalb haben wir lange diskutiert, insbesondere mit migrantischen Communities in verschiedenen Ländern auf der anderen Mittelmeerseite, wie und auf welche Weise die Telefonnummer weitergegeben werden soll. Und diese Diskussion ist noch keineswegs abgeschlossen. Beispielsweise hat eine Gruppe in Tunesien beschlossen, das Alarmphone zwar gezielt zu bewerben, nicht aber die Nummer unter jungen Leuten in Tunesien frei zirkulieren zu lassen. Jenseits davon sollte die eigene Rolle aber auch nicht überschätzt werden. Denn die Entscheidung, in ein Boot zu steigen, wird alles andere als leichtfertig gefällt. Jedenfalls berichten das unsere migrantischen Mitstreiter_innen. So hat beim letzten Treffen von Afrique-Europe-Interact ein Aktivist aus dem Sudan erzählt, wie sich seine Position schrittweise verändert habe. Lange war er vehement gegen Bootsüberfahrten, das hatte er uns bereits in zahlreichen Gesprächen mitgeteilt, als er noch im tunesischen Wüstenlager Choucha untergebracht war. Je klarer aber wurde, dass Flüchtlinge aus Choucha nicht mehr in Europa aufgenommen würden und dass auch der Weg zurück nach Libyen oder gar Dafur versperrt wäre, desto klarer wurde für ihn, dass es für ihn keinen Unterschied mehr machen würde, ob er in der Wüste oder auf dem Meer sein Leben verlieren würde. Und gänz Ähnliches berichten auch andere Freund_innen aus unseren Netzwerken, beispielsweise Emmanuel Mbolea, dessen Buch „Mein Weg vom Kongo nach Europa“ derzeit von ak als Aboprämie angeboten wird.
Eine Struktur am Laufen zu halten, die rund um die Uhr erreichbar ist, bedeutet ja eine hohe persönliche Verantwortung. Wie versucht ihr mit diesem Druck umzugehen?
Sicherlich, die Verantwortung ist enorm, aber das ist so, wenn mensch sich in konkrete Auseinandersetzungen begibt. Zum Beispiel ist es ein extrem krasses Gefühl, wenn der Kontakt verloren geht. Und noch zugespitzter ist es, wenn Menschen sterben. Was letzteres bedeutet, haben wir bei einigen unserer migrantischen Mitstreiter_innen schon häufig mitbekommen. Insofern wird es beim Alarm Phone immer auch darum gehen, sich intern die nötige Zeit und den Raum zu nehmen, um entsprechende Situationen gemeinsam nachzubereiten.
Letzte Frage, kurze Antwort: Gibt es Vorbilder für das Alarmphone?
Oh ja, der bekannteste Menschenretter ist wahrscheinlich Mussie Zerai, ein eriträischer Priester aus der Schweiz. Seine Nummer zirkuliert bereits seit 2004 unter Flüchtlingen, sie soll auch auf dem Deck jenes Boots gestanden haben, das am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa gekentert ist. Wir stehen mit ihm und anderen im engen Austausch. Nicht nur um zu lernen, es geht auch darum, solche Einzelpersonen mit einer kollektiven Struktur zu entlasten, die tatsächlich rund um die Uhr erreichbar ist.
(1) Die Nummer lautet: +334 86 51 71 61
NoLager Bremen ist bei Afrique-Europe-Interact aktiv