Dezember 2022 | "Niger als Türsteher der EU". Interview: Weshalb das Alarmephone Sahara vor Gericht klagt
2017 hat Afrique-Europe-Interact zusammen mit anderen Organisationen das Alarmephone Sahara (APS) gegründet. Ziel ist es, Migrant:innen und Abgeschobene in der Wüste zu unterstützen und die Öffentlichkeit zu informieren. Politisch richtet sich das APS unter anderem gegen das sogenannte „Anti-Schleuser-Gesetz“ 036-2015, das in Niger im Jahr 2015 auf Druck der europäischen Union verabschiedet wurde und das den Transport, die Unterbringung und die Unterstützung von Migrant:innen kriminalisiert. In diesem Sinne berichten die APS-Mitglieder Azizou Chehou und Moctar Dan Yayé im Interview von einer Klage, die das Alarmephone Sahara und die Vereinigung der Abgeschobenen Malis beim Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS eingereicht haben. Denn nach Überzeugung des APS verstößt das Gesetz gegen mehrere Grundsätze, unter anderem gegen das 1979 verabschiedete Freizügigkeitsabkommen, das Bürger:innen der ECOWAS-Zone Bewegungsfreiheit in allen Mitgliedsländern der ECOWAS garantiert, also auch in Niger.
Könnt Ihr zum Einstieg eure Kritik an dem Gesetz zusammenfassen?
Wir kritisieren an dem Gesetz, dass es das Recht auf Mobilität stark einschränkt. Wir wollen zugleich zeigen, dass nicht nur Menschen, die als Migrant:innen unterwegs sind, unter dieser Einschränkung leiden. Auch die Bevölkerung in den Gebieten, die von Migrant:innen durchquert werden, zahlt einen hohen Preis – etwa Kleinhändler:innen im grenzüberschreitenden Handel oder Pensionsbesitzer:innen, die Migrant:innen unterbringen. Dies verdeutlicht: Es handelt sich nicht um eine bloß interne Angelegenheit des Nigers. Vielmehr geht es um eine gesetzliche Maßnahme, die hauptsächlich von der Europäischen Union initiiert und durchgesetzt wurde.
Wie wirkt sich diese Kriminalisierung auf Migrant:innen aus?
Wir haben verschiedene Arten von Rechtsverletzungen aufgezeigt, unter anderem Erpressungen auf den Routen, wo man mittlerweile für das Überqueren der Grenzen oder die Weiterfahrt bezahlen muss – trotz des ECOWAS-Freizügigkeitsabkommens. Der Transport ist teurer geworden, mit der Konsequenz, dass die Migrant:innen – vor allem Mädchen und Frauen –sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, wenn sie die Gebühren nicht bezahlen können. Zudem werden Migrant:innen inhaftiert, ohne jedoch die Möglichkeit zu haben, sich zu verteidigen.
Welche Auswirkungen hat das Gesetz auf die Arbeit des APS und weiterer Akteur:innen?
Die Auswirkungen auf unsere Arbeit bestehen darin, dass das Gesetz eine ständige und unsichtbare Bedrohung für unsere Arbeit mit Migrant:innen darstellt. Denn aufgrund des eher vagen Charakters des Gesetzes wissen wir nie, ob wir als ein Akteur wahrgenommen werden, der sich lediglich für die seit Generationen verbürgten Rechte von Migrant:innen stark macht oder als ein Akteur, der in der sogenannten irregulären Migration und somit im Menschenhandel tätig ist. Denn wenn wir Migrant:innen in Not antreffen, versuchen wir, ihnen zu helfen oder ihr Leben zu retten. Dabei respektieren wir aber auch, wenn Migrant:innen weiter gen Norden gehen möchten. Und genau das ist der Grund, weshalb wir jederzeit juristisch belangt werden können. Und das macht uns Angst. Darüber hinaus stehen einige von uns mit migrantischen Communities im Austausch – und auch solche Kontakte können als Verstoß gegen das Gesetz gewertet werden. Bislang wurde noch niemand von uns aufgrund des Gesetzes verurteilt. De facto kann das Gesetz jedoch Repression gegen Aktivist:innen legitimieren, die sich für die Rechte von Migrant:innen einsetzen.
Im September ist die Klage gegen das Gesetz beim ECOWAS-Gerichtshof eingereicht worden. Wie lautet deren Inhalt, und was kann die Klage bewirken?
Die Klage basiert auf einer Reihe von Untersuchungen, die wir in Niger und Nigeria durchgeführt haben. Daraus ergeben sich Argumente und Fakten von juristischem Wert, die vom Anwalt des nigrischen Staates nicht geleugnet oder abgelehnt werden können. Wir haben die Überarbeitung dieses Gesetzes gefordert, damit die Menschen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit wahrnehmen können. Konkret haben wir aufgezeigt, dass dieses Gesetz in seiner aktuellen Form mehreren Rechtsprinzipien widerspricht: Dem internationalen Recht, dem Respekt vor der Menschenwürde sowie dem Recht auf Bewegungsfreiheit, das nicht nur in der Erklärung der Menschenrechte und den regionalen westafrikanischen Abkommen enthalten ist, sondern auch in der nigrischen Verfassung.
In einer Stellungnahme von November weist die Regierung eure Argumente zurück. Was bedeutet das?
Wir glauben, dass die Klage eine abschreckende Wirkung hätte, wenn sie angenommen und ein Urteil gefällt würde. Aber selbst, wenn das Gesetz nicht überarbeitet würde, wäre es ein Verdienst, dass wir unsere Meinung laut ausgesprochen haben. Und es wäre eine Warnung an den Staat. Zudem ist eine Sache schon passiert: Die Regierung prüft tatsächlich, ob das Gesetz überarbeitet werden muss.
Und wie ist es dazu gekommen?
Man kann sagen, dass die Überarbeitung des Gesetzes das Ergebnis eines Prozesses ist, der von der Zivilgesellschaft und einigen lokalen Behörden angestoßen wurde. Die Stoßrichtung des Gesetzes – nämlich gegen Menschenhandel vorzugehen – ist nicht verkehrt. Aber das Problem liegt in der Art der Anwendung des Gesetzes. Denn diese zielt darauf ab, die Mobilität von Menschen einzuschränken, insbesondere in Richtung Norden. Das Gesetz ist also lediglich ein Instrument, aber es kommt darauf an, wie bzw. gegen wen das Instrument eingesetzt wird.
Im Februar 2023 plant ihr eine Konferenz mit weiteren Akteur:innen in Niamey. Worum soll es gehen?
Diese Konferenz wird die Gelegenheit bieten, verschiedene Menschen zusammenzubringen und sich auf Niger zu konzentrieren, das heute als Türsteher der EU agiert. Denn das von uns kritisierte Gesetz wurde nicht von nigrischen Politiker:innen initiiert, sondern dem nigrischen Staat von außen mittels einer Extrabelohnung von 1 Milliarde Euro buchstäblich aufgedrängt. Diesen Aspekt wollen wir der Welt vor Augen führen. Gemeinsam soll über strategisch-politische Positionen bezüglich der ständigen Vorverlagerung der EU-Grenzen diskutiert werden – Stichwort Externalisierung. Wir wollen die Rechte der Migrant:innen stärken, die in Niger unterwegs sind. Denn klar ist, dass es vor Verabschiedung des Gesetzes ungleich weniger Fälle von Verschwinden- und Sterben-Lassen gab als heute. Zudem wollen wir die internationale und nationale Öffentlichkeit über Aktionen informieren, die wir gegen das Gesetz planen, und dabei auch den Beweis antreten, dass die Behauptung falsch ist, wonach sich Migrationsbewegungen durch Repression reduziert hätten. Im Gegenteil: Es gibt mittlerweile mehr Migration als vorher.
Wie kann das APS bei dieser Konferenz unterstützt werden?
Wir brauchen rechtliche, solidarische und finanzielle Unterstützung seitens unserer Verbündeter. Selbst wenn wir die Klage gegen dieses Gesetz verlieren, hätten wir eine historische Tat vollbracht.