10. März 2021 | Redebeitrag von Alassane Dicko für die Kundgebung 'Patente töten. Impfstoffe gehören allen. Überall.'

Liebe Freund*innen in Berlin,

ich bin zwar nicht bei euch, aber ich freue mich sehr, dass ich einen Beitrag zu eurer Kundgebung leisten kann – vielen Dank dafür! Mein Name ist Alassane Dicko, ich lebe in Bamako, der Hauptstadt Malis, und bin dort für die Öffentlichkeitsarbeit von Afrique-Europe-Interact zuständig.

Die Frage der Impfung und somit der Patente ist sehr wichtig, aber natürlich ist das Thema größer als nur Patente. Es geht auch um grundlegende Fragen der Gesundheitsversorgung im globalen Süden, und darum, was diese mit globalen Machtverhältnissen zu tun haben. Insofern möchte ich mit einigen grundlegenden Fragen beginnen, auch dazu, weshalb viele Menschen in Afrika derart skeptisch gegenüber Impfungen sind, sodass für sie die Frage der Patente erstmal keine Rolle spielt.

Die angekündigte Katastrophe blieb aus: Vielmehr ist Afrika der Teil der Welt, der am wenigsten von Covid-19 betroffen ist. Was die direkten Auswirkungen betrifft, so sind die sozioökonomischen Auswirkungen der Anti-Covid-Maßnahmen, die die öffentlichen Freiheiten stark einschränken, für die Bevölkerung sehr viel spürbarer als die klinischen Erscheinungsformen der Pandemie. Hinzu kommt, dass die Verbreitung von Fakenews – also von “falschen Informationen und Gerüchten” – auf dem afrikanischen Kontinent dazu geführt hat, dass viele Menschen die Krankheit mystifizieren und die Risiken einer Ansteckung herunterspielen. Die Gesundheit ist ein Bereich, der sehr stark vom Glauben beeinflusst wird, und die moderne Medizin wird sehr oft zugunsten von Zaubertränken und Wundermitteln aufgegeben, ganz zu schweigen von den Selbstmedikationspraktiken, die im Süden recht weit verbreitet sind, was ich auch aus eigener Erfahrung weiß.

Die öffentliche Meinung im Allgemeinen ist bis heute gegen den Impfstoff eingestellt. In der afrikanischen Öffentlichkeit herrscht große Zurückhaltung, was den zukünftigen Impfstoff gegen Covid angeht. Ich weiß, dass es das auch in Europa gibt. Die Befürchtungen beruhen auf den verschiedenen Skandalen in der Pharmaindustrie und auf Verschwörungstheorien, die in den sozialen Netzwerken weit verbreitet sind, etwa die Befürchtung, dass die Impfung Frauen gebährunfähig machen könnte. Die öffentlich geäußerte Skepsis gegenüber dem Impfstoff bezieht sich auch auf fehlende Untersuchungen bezüglich des afrikanische Genoms, das angeblich immun gegen allerlei Einflüsse sei, insbesondere in Binnenregionen, wo hohe Temperaturen die genetischen Reaktionen verändern könne. Es gibt auch Fragen zur Wirksamkeit von Impfstoffen, da diese vor der Produktion nicht an verschiedenen afrikanischen Bevölkerungen getestet wurden.

Aber diese Pandemie hat auch die schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen auf dem Kontinent aufgezeigt – mit einer großen Bevölkerung ohne spezialisierte Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens, mit einem Mangel an Personal und epidemiologischen Überwachungssystemen und somit auch der Tatsache, dass immer noch mehr als 90% der Impfstoffe und Therapien importiert werden, egal, um welche Krankheit es geht. Jedes Jahr sterben Millionen Menschen durch Infektionskrankheiten. Dies ist eine sehr hoher menschlicher Preis, insbesondere für die soziale Stabilität auf dem Land, wo die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebt und wo sich auch die gefährdeten Bevölkerungsschichten befinden, wo aber die Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet ist.

Während die Impfkampagnen gegen das Coronavirus auf der ganzen Welt zunehmen, scheint der afrikanische Kontinent hinterherzuhinken. Der Zugang zu Impfstoffen für Afrika ist längst überfällig – unabhängig von der Skepsis, über die ich eingangs gesprochen habe. Der Impfstoff muss als ein universelles immaterielles Gut betrachtet werden, er ist ein Werkzeug von öffentlichem Interesse, das daher der gesamten Menschheit zugutekommen sollte. Einen Teil der Welt beiseite zu schieben, würde eine Lücke schaffen, die nur schwer zu füllen wäre und die alle Anstrengungen zunichtemachen würde, die anderswo unternommen werden. Denn klar ist auch: Wir leben alle von der gleichen Luft, was sowohl eine wissenschaftliche Realität als auch ein gemeinsamer Wert ist.

Zunächst gab es den Covax, einen internationalen Mechanismus der WHO, um sicherzustellen, dass alle Länder gleichen Zugang zu dem Impfstoff haben. Aber sehr schnell gewann der Impf-Nationalismus wieder die Oberhand, und jeder verstand, dass er alleine zurechtkommen müsste. Jetzt gab es bilaterale Abkommen zwischen reichen Ländern und Herstellern, um Dosen auf Kosten des Covax-Systems zu monopolisieren. Einige Länder haben mehr als das Dreifache des Bedarfs ihrer Bevölkerung angehäuft. Dies hat die von der WHO ausgelöste Dynamik der universellen Solidarität zerstört. Denn die überwiegende Mehrheit der Länder südlich der Sahara hat lange geglaubt, sich auf das multilaterale Gesundheitssystem der Covax verlassen zu können, um Dosen in ausreichender Zahl und rechtzeitig zu erhalten. Das Gleiche war schon beobachtet worden, als man glaubte, dass Chloroquin gegen das Virus wirksam sei. Es wurde klar, dass das Covax-Programm nicht in der Lage sein würde, genügend Dosen an arme Länder zu verteilen, um ihre am meisten gefährdeten Einwohner*innen zu schützen. Jeder Staat musste nach Alternativen zu den unerreichbaren Angeboten suchen. Afrika sah in dieser Situation seine chinesischen, russischen und indischen Freunde zur Hilfe kommen.

In diesem Kontext schaffte es die Afrikanische Union, zumindest 270 Millionen Dosen rauszuhandeln, weit entfernt von den Bedarfen der rund 800 Millionen Menschen auf dem afrikanischen Kontinent. Und das sage ich trotz der sehr stark ausgeprägten Skepsis gegenüber Impfstoffen. Denn die afrikanische Bevölkerung bleibt für die Impulse der internationalen Solidarität offen, dabei ist es auch zu einer Aufwertung der Süd-Ost-Süd-Beziehungen gekommen – also von Beziehungen jenseits mit den europäischen Ländern. Insgesamt hat sich aber der Wettlauf um Impfstoffe zu einer Impfstoffdiplomatie entwickelt, wobei Spenden von Masken und Medikamenten zum neuen Gesicht der Hilfe für arme und hoch verschuldete Länder werden. Humanitäre Hilfe wird als geopolitische Waffe gesehen, die von reichen Ländern eingesetzt wird, um ihre internationale Position und Interessen zu stärken.

Die Gesundheitskrise hat eine kollektive Sensibilisierung gegenüber den Problemen in Gang gesetzt, die von der Globalisierung ausgelöst wurden. Die Gesundheitskrise wird daher erhebliche Veränderungen bewirken – vor allem, was die Einsicht in die Vorzüge eines offenen Multilateralismus zwischen den Ländern betrifft, anstelle eines von Bedingungen geprägten Bilateralismus, wie er durch den Westen praktiziert wird. So viele Gewissheiten sind durch die Pandemie umgestürzt worden. Nach fast vier Jahrzehnten, in denen sich die “unterentwickelten” Länder dem Diktat der “entwickelten” Welt unterworfen haben. Dieses Weltsystem hat die grausame Privatisierung öffentlicher Einrichtungen hervorgebracht und durch Strukturanpassungsprogramme des IWF und anderer internationaler Finanzinstitutionen solche Haushaltskürzungen erzwungen, dass grundlegende soziale Dienste nicht mehr finanziert werden können. Die Abhängigkeit vom Export landwirtschaftlicher und bergbaulicher Rohstoffe und der wiederholte Zusammenbruch der Rohstoffpreise bis hin zu den EU-Wirtschaftsabkommen, die unsere informelle Wirtschaft schwächen und unsere Märkte dem unlauteren Wettbewerb ihrer billigen und zum Teil subventionierten Produkte aussetzen. Diese Faktoren schaffen Prekarität und nähren die Landflucht junger Menschen in die Städte und noch mehr die Flucht über die Grenzen des Herkunftslandes hinaus.

Im Umgang mit den Strukturanpassungsprogrammen hat Afrika seine Fähigkeit bewiesen, sich an die Auswirkungen der globalen Unordnung anzupassen, dennoch braucht es weiterhin internationale Solidarität. Es wäre notwendig, den Zugang zu Impfstoffen zu erleichtern und vor allem Pläne zur Abfederung der Auswirkungen der Pandemie in die Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramme der Länder aufzunehmen. Dies betrifft auch die Frage des Schuldenerlasses und die zum Teil kontraproduktiven Rückzahlungsbedingungen. Im Zusammenhang mit der Immunisierung gegen Covid-19 wird es notwendig sein, Immunisierungsstrategien zu entwickeln, die an die lokalen Gegebenheiten der einzelnen Länder angepasst sind. Es gibt mehrere Optionen, die nicht von außen aufgezwungen werden sollten. Internationale technische und finanzielle Unterstützung ist sicherlich unverzichtbar. Aber sie sollte nicht die nationalen Fähigkeiten ersetzen, die in Bezug auf die pharmakologische Überwachung und das wissenschaftliche Monitoring entwickelt werden müssen. Die Immunisierung gegen Covid muss zum Anlass genommen werden, die Gesundheitssysteme in allen Ländern zu stärken, damit sie ihre Aufgaben erfüllen können. Angesichts von Gerüchten ist es notwendig, eine Kommunikationsstrategie aufzubauen, die auf den lokalen Realitäten und den Gefühlen der Bevölkerung basiert, um dramatische Fehlinterpretationen zu vermeiden, die zu einer großen Anzahl von Todesfällen führen könnten. Denn derzeit liegt die Krankenversicherungsquote zwischen 6,7 und 7 Prozent. Für die Mehrheit der Afrikaner*innen gibt es also keine Garantie zur Absicherung vor Gesundheitsrisiken.

Aufgrund der geringen Bereitschaft der afrikanischen Länder für Impfkampagnen gegen das Virus verfügen weniger als die Hälfte der Staaten über Koordinationsstrukturen, die in der Lage sind, die Bevölkerung mit Impfstoffen zu versorgen. Wir müssen mit Kosten für den Einsatz der Impfstoffe rechnen, die sich auf etwa 5,7 Milliarden US-Dollar belaufen, und hierzu werden noch die Kosten für Lieferungen und Injektionen sowie die Mobilisierung von Personal zur Durchführung der verschiedenen Maßnahmen vor Ort hinzukommen. Insofern scheint das Ziel der Herdenimmunität für 60 Prozent der Bevölkerung teuer und weit entfernt zu sein.

Und auch sollte klar sein, dass die enormen Ressourcen, die zur Bekämpfung und Besiegung der Krankheit eingesetzt werden, nicht auf Kosten von anderen Gesundheitsprogrammen gehen, wie z.B. dem Kampf gegen Malaria, Meningitis oder HIV….

Ich möchte zum Ende kommen, obwohl noch so viel zu sagen wäre. Aber klar ist, dass eine Immunisierung sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene wünschenswert und notwendig ist. Die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact unterstützt daher die Forderung nach der Freigabe der Patente und verbindet dies mit Forderungen, die weit darüber hinausgehen. Ich wünsche uns allen Gesundheit und Erfolg in unseren gemeinsamen Kämpfen!