04. Dezember 2020 | „Gefühl, nicht akzeptiert zu sein“- Riadh Ben Ammar über Dschihadismus und EU-Migrationspolitik
Riadh Ben Ammar ist Aktivist und Theaterschauspieler. 2000 bis 2006 lebte er in einem Flüchtlingslager in Mecklenburg-Vorpommern. 2010 war Riadh Ben Ammar in Mali an der Gründung von Afrique-Europe-Interact beteiligt.
Am 21. Oktober 2020 wurden in Nizza bei einem dschihadistischen Anschlag drei Menschen getötet. Wie schon bei anderen Anschlägen in den vergangenen Jahren ist der Tatverdächtige ein junger Tunesier. Wie groß ist die dschihadistische Bewegung in Tunesien?
Seit der Revolution 2010/11 ist die Bewegung der Salafisten immer stärker geworden und mittlerweile ein großes Thema. Bis 2011 saßen Tausende von ihnen als Gegner des Diktators Ben Ali in den tunesischen Gefängnissen. Im Zuge der Revolution kamen sie frei und erklärten die Revolution zu einer islamischen Revolution. In der Folge ist die gesamte Bewegung sehr stark geworden.
Wie kommt es, dass sich so viele junge Leute in Tunesien dem Dschihadismus anschließen?
Dschihadismus hat sehr viel mit Depression und Perspektivlosigkeit zu tun. Viele junge Leute in Tunesien haben die Lust am Leben verloren. Ein Grund ist die schlechte wirtschaftliche Lage. Und trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass dschihadistisch motivierte Anschläge auch von wohlhabenden jungen Leuten verübt werden. Der letzte Anschlag in Tunesien vor wenigen Monaten wurde zum Beispiel von zwei jungen Männern verübt, die aus einer reichen Familie kamen. Nicht nur wirtschaftliche Gründe sind ausschlaggebend für die Radikalisierung, sondern es ist eine Kombination aus mehreren Faktoren.
Welche sind das aus deiner Sicht?
Die geschlossene EU-Außengrenze spielt eine wichtige Rolle. Denn für die jungen Leute ist es entscheidend, dass sie sich an ihren Lebensorten zugehörig fühlen. Als Tunesier:innen gehören wir zum Mittelmeerraum und das Mittelmeer ist Teil unserer Identität. In den 1960er Jahren bis Anfang der 1990er hatten wir durch die Bewegungsfreiheit viel Austausch mit unseren Nachbarn. Diese Begegnungen und die Bewegungsfreiheit machten die tunesische Gesellschaft zu einer offenen Gesellschaft. Jetzt sind wir ausgegrenzt aus dem Mittelmeerraum und die tunesische Gesellschaft ist sehr verschlossen. Der Mangel an Bewegungsfreiheit führt dazu, dass die jungen Menschen nicht mehr an das Leben glauben und in Perspektivlosigkeit versinken. Ein weiterer Grund ist die Kriminalisierung der jungen Leute. Aktuell landen viele von ihnen bereits für vergleichsweise kleine Vergehen in Tunesien im Gefängnis.
Welche Rolle spielen Gefängnisaufenthalte bei der Radikalisierung?
Die Gefängnisse sind wichtige Orte für die Mobilisierung von Dschihadisten. Wenn du junge Männer in die Gefängnisse sperrst, dann werden sie sich dort in ihrem Glauben radikalisieren. Auch in der EU landen viele junge Tunesier, die in Lampedusa ankommen, später in den Gefängnissen. Denn die Perspektivlosigkeit und geringe Chancen auf ein Bleiberecht drängen sie in die Kriminalität.
Nach jedem islamistisch motivierten Terroranschlag gibt es in der EU laute Rufe nach mehr Abschiebungen. Wie stehst du zu dieser Forderung?
Die Abschiebepolitik setzt die nordafrikanische Diaspora hier in Deutschland sehr stark unter Druck. Die Menschen fühlen sich nicht willkommen, sondern bedroht von Abschiebungen. Sie sind ständig in der Illegalität unterwegs und haben viel Polizeikontakt. Ein gutes Beispiel ist der Fall des Tunesiers Anis Amri. Bevor er den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt verübte, stellte er sich deutschlandweit den Behörden mit unterschiedlichen Namen vor, war auch in anderen EU-Staaten als Papierloser unterwegs und saß im Gefängnis. Das ist keine ungewöhnliche Lebensrealität von Nordafrikaner:innen in der EU. Eine Verschärfung der Abschiebepolitik führt nur zu einer Vergrößerung des Problems. Abgeschobene sind besonders gute Kandidaten für den Dschihadismus. Denn sie bekommen das Gefühl, in dieser Welt nicht akzeptiert zu sein und entscheiden sich, in einer anderen Welt zu leben.
Und dann finden die Menschen im Dschihadismus einen Ausweg aus dieser schwierigen Situation?
Das Leben in der Illegalität und die Kriminalität sind eine große mentale Belastung. Das alles spielt psychologisch eine Rolle, wenn du dich irgendwann für den Dschihadismus entscheidest. Denn im Dschihadismus und im Austausch mit den anderen radikalen Gläubigen erfahren viele Menschen, die hier diskriminiert werden, eine Solidarität. Dann sind sie bereit zu verstehen, dass die Ungläubigen das Problem sind und diese sie abschieben wollen.
Riadh Ben Ammar bei Demo von Afrique-Europe-Interact gegen den Valletta-Prozess in Berlin, 2016 [Foto: Marc Mennigmann]
Wie erlebst du die Diskussionen über das Thema Dschihadismus in der nordafrikanischen Diaspora in Deutschland?
Die meisten Nordafrikaner:innen sind gegen den Dschihadismus. Aber wenn wir über das Thema sprechen, dann vertiefen wir die Diskussion zu wenig. Die nordafrikanische Gesellschaft erlebt hier in den vergangenen Jahren eine Art Depression. Wir erfahren sehr viel Diskriminierung, zum Beispiel in der „Nafri“-Debatte. Viele denken über uns, dass wir sehr schlimme Menschen sind. Gleichzeitig merken wir, dass wir nicht gut organisiert sind. Wir reagieren nicht, wenn die Deutschen entscheiden, uns abzuschieben oder diskriminierende Artikel über uns schreiben. Problematisch ist, dass hier nur die Islamisten politisch gut organisiert sind.
Und was braucht es für eine bessere Organisierung?
Unser großes Problem hier in Deutschland ist, dass die nordafrikanische Community wenig Räume hat. Auch die nordafrikanisch geführten Cafés bieten diesen Raum nicht. Denn da sitzen wir in kleinen Gruppen und diskutieren nie in großen Runden. Dafür bräuchte es andere Räume. Hier in Köln haben wir eine große Community von Nordafrikaner:innen, aber gerade für die jungen Menschen gibt es kein kulturelles Angebot. Es gibt kaum Initiativen und kein kulturelles Zentrum. Das fehlende Angebot führt dazu, dass sich viele junge Leute – egal, ob hier geboren oder in den letzten Jahren eingewandert – dann anderen Dingen zuwenden. Wir haben keine andere Wahl. Gegenüber der alltäglichen Diskriminierung müssen wir uns organisieren und mit Kunst, Musik und Theater antworten. Deswegen versuche ich mit meinem Theaterstück über die Situation der Nordafrikaner:innen hier aufzuklären.
Und wie kann die religiöse Radikalisierung der jungen Leute in Tunesien bekämpft werden?
Ein wichtiger Lösungsansatz wäre die Öffnung der EU-Außengrenze. Tunesien muss wieder Teil des Mittelmeerraums werden, damit wir frei reisen können. Nur so kann die tunesische Gesellschaft wieder eine offene Gesellschaft werden, die auch andere Meinungen und Lebensweisen akzeptiert.
Was entgegnest du denjenigen, die behaupten, dass im Falle einer Öffnung der EU-Außengrenze zu viele Menschen nach Europa kommen?
Wenn Menschen unbedingt nach Europa kommen wollen, dann kommen sie auch jetzt schon hierher. Das gilt auch für die Islamisten. In den ersten Monaten nach der Grenzöffnung würden viele Menschen hin- und herreisen. Denn man darf nicht vergessen, dass viele, die seit Jahren ohne Papiere in Europa leben, dann wieder zurückkehren könnten. Sie wüssten ja, dass sie die Möglichkeit hätten, jeder Zeit nach Europa zurückzukehren.
Hinweis: Dieser Text ist in der AEI Zeitung im Dezember 2020 erschienen. Die vollständige Ausgabe steht als PDF unter folgendem Link zum Download zur Verfügung: AEI-Zeitung Dezember 2020