04. Dezember 2020 | Willkür und Gewalt: Frauen auf den Migrationsrouten
2017 hat Afrique-Europe-Interact zusammen mit Basisinitiativen aus fünf afrikanischen Ländern das Alarmphone Sahara (APS) gegründet. Anfangs ging es vor allem um drei Zielsetzungen: Erstens Vermittlung von praktischen Informationen an Migrant:innen, die die Wüste durchqueren, zweitens öffentlichkeitswirksame Dokumentation der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in der Wüste und drittens Aufbau einer Rettungsinfrastruktur für Migrant:innen, die während der Wüstenpassage in Not geraten sind. Alle drei Bereiche haben in den letzten Jahren eine wichtige Rolle gespielt.
Gleichzeitig ist eine weitere Aufgabe dazugekommen, vor allem in Agadez, der berühmten Handelsstadt am Südrand der Sahara, wo das APS einen Info- und Anlaufpunkt für Migrant:innen aufgebaut hat. Denn Agadez hat sich zunehmend zu einem Hotspot für Migrant:innen entwickelt. Nicht nur für jene, die auf dem Weg Richtung Norden steckengeblieben sind, sondern auch für die große Zahl derer, die in der Wüste aufgehalten wurden oder die mehr oder weniger unfreiwillig aus Algerien bzw. Libyen zurückgekehrt sind. Besonders schwierig ist die Situation für Frauen und Mädchen. Wir möchten daher von einigen Erfahrungen berichten, die Mitarbeiter des APS in jüngerer Zeit dokumentiert haben, auch per Videointerview:
Roukayat aus Nigeria ist 30 Jahre alt, sie arbeitete lange als Hausangestellte bei einer libyschen Familie in Tripolis, bis sie schwer erkrankte. Die Familie kümmerte sich nicht, daher entschied sich Roukayat, nach Nigeria zurückzukehren. Doch sie schaffte es nur bis Agadez. Das APS-Team fand sie völlig entkräftet in der Ecke einer Bus-Station – schwebend irgendwo zwischen Leben und Tod. Medizinische Untersuchungen ergaben, dass sie an Tuberkulose litt. Damit stand fest, dass sie nicht mit Unterstützung seitens der International Organisation of Migration (IOM) rechnen könnte. Stattdessen brachten sie Mitarbeiter des APS mit einem geliehenen Auto in die 700 Kilometer entfernte Millionenstadt Kano im Norden Nigerias, wo Roukayat von ihrer Familie in Empfang genommen wurde.
Joy lebt in Al-Baida im Nordosten Libyens. Die 38-Jährige kommt ebenfalls aus Nigeria. Als sie Anfang November zu einem Besuch nach Hause fahren wollte, bat sie ein Bekannter, die 14-jährige Bless mitzunehmen. Sie war wohl erst vor einigen Tagen aus einem Lager in Sabha freigekommen, wo sie als Zwangsprostituierte arbeiten musste: „Als ich Bless zuerst sah, röchelte sie nur und konnte nichts sagen. Ich dachte, sie stirbt gleich. Doch ich war überzeugt, dass sie die Busreise nach Agadez schaffen würde. Erst nach einiger Zeit begann sie, ein bisschen zu reden. Sie erzählte, dass ihr Vater tot sei und ihre Mutter sie zum Geld verdienen weggeschickt habe. Jemand scheint sie dann in das Lager nach Sabha gebracht zu haben. Wie dünn sie ist und wie verstört! Die haben sie fertig gemacht. Mein Bekannter erzählte auch, dass unsere Mädchen in diesem Camp getötet würden. Ich wäre sehr glücklich, wenn das APS etwas dagegen tun könnte.“
Ansuma, Harachida und Goudé sind alle nigrische Staatsbürgerinnen, die zurzeit in einem Aufnahmelager in Agadez festsitzen. Sie gehören zu jenen über 8000 Migrant:innen, die Algerien seit September an die algerisch-nigrische Grenze mitten in der Wüste abgeschoben hat. Ansuma ist Witwe, sie hat neun Kinder. Sie ist in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Algerien aufgebrochen, doch es kam anders: „Eines Tages tauchten um 3 Uhr morgens Polizisten auf und brachten uns ins Gefängnis. Sie durchsuchten uns und wir mussten uns nackt ausziehen. Das war sehr beschämend. Dann raubten sie alles, was wir hatten. Wir waren fünf Tage dort, mit einer Schüssel Milch und einem Laib Brot für drei Personen am Tag, bevor sie uns abschoben.“ Auch Harachida berichtet, wie sie und viele andere in großen Viehtransportern nach Niger abtransportiert wurden, auch ihr sei alles abgenommen worden: „Sie sagten, es wäre auf Anordnung von unserer Regierung, damit wir nichts hätten, um wieder nach Algerien zurückzugehen. Aber wir haben in Niger sehr hohe Kosten, zum Beispiel für die Schule. Ich muss wieder nach Algerien, um etwas für meine Kinder hier in Niger tun zu können.“ Goudé ist mit ihrem Mann und ihren drei gemeinsamen Kindern nach Algerien gegangen, um Geld zu verdienen. Auch sie berichtet, wie sie willkürlich festgenommen wurde: „Ich war unterwegs, als plötzlich Polizisten auftauchten. Sie nahmen mich mit, danach wurde ich abgeschoben. Seitdem bin ich getrennt von meiner Familie. Ich werde nicht ruhig sein, bis ich wieder bei ihnen bin.“
Personen am Kontrollposten [Foto: Alarmephone Sahara]
Hinweis: Dieser Text ist in der AEI Zeitung im Dezember 2020 erschienen. Die vollständige Ausgabe steht als PDF unter folgendem Link zum Download zur Verfügung: AEI-Zeitung Dezember 2020