27. April 2020 | COVID-19: Wie hart wird Afrika getroffen? (DW)
Die Vorhersagen sind dramatisch: Millionen Menschen könnten in Afrika am Coronavirus sterben. Die Regierungen prüfen Strategien, um das Risiko einzudämmen und den Herausforderungen des Kontinents gerecht zu werden. Von Tom Wills. Bitte hier klicken, um zum Orginalbeitrag zu kommen
Könnte das Coronavirus etwa drei Millionen Menschenleben in Afrika fordern? So lautet die drastische Vorhersage, die Wissenschaftler des Imperial College London vergangenen Monat in einer Studie veröffentlicht haben. Grundlage der Studie war ein hypothetisches Szenario der Ausbreitung von SARS-CoV-2 ohne Maßnahmen zur Eindämmung des Virus.
Die Forscher hatten ein Computermodell verwendet, um die potenzielle Bedrohung durch das Virus und die daraus resultierende Atemwegserkrankung COVID-19 abzuschätzen. Ziel der Studie war es, vorherzusagen, was passieren könnte, wenn sich das Virus unkontrolliert ausbreitet – und wie viele Leben durch Gegenmaßnahmen gerettet werden könnten.
Auf einer virtuellen Pressekonferenz erklärte Dr. John Nkengasong, der die Reaktion der Afrikanischen Union auf das Coronavirus koordiniert, was er von der Prognose hält: “Das schlimmste Szenario ist, dass nichts unternommen wird und ein Kontinent mit 1,3 Milliarden Menschen infiziert wird”, so der Direktor der Afrikanischen Zentren für Krankheitsbekämpfung und Schutzmaßnahmen (Africa CDC). “Aber es wird etwas getan.”
Soziale Distanzierung
In der Tat haben fast alle afrikanischen Staaten ihre Grenzen geschlossen und Maßnahmen zur sozialen Distanzierung eingeführt, Bildungseinrichtungen geschlossen und Massenversammlungen verboten, um die Übertragung des Coronavirus von Mensch zu Mensch zu verlangsamen. Laut Africa CDC seien 34 Länder noch weiter gegangen und hätten zudem nächtliche Ausgangssperren oder Teilsperrungen eingeführt, während 21 Länder nationale Beschränkungen eingeführt hätten, die alle nicht-essentiellen Tätigkeiten im ganzen Land einschränkten. Elf Länder hätten außerdem Vorschriften eingeführt, nach denen die Menschen in der Öffentlichkeit Gesichtsmasken tragen müssten.
Doch die Ausgangsperren haben einen hohen Preis, da ein großer Anteil der Bürger am Existenzminimum lebt und die Regierungen nicht in demselben Maß finanzielle Hilfen auszahlen können, wie Regierungen im globalen Norden. Fälle von Polizeigewalt bei der Durchsetzung der Maßnahmen nehmen zu, und Hilfsorganisationen warnen, dass durch die Maßnahmen viele Millionen Menschen großen Hunger leiden könnten.
Eine unbekannte Gefahr
Die Africa CDC berichten, dass bis zum 21. April in 52 afrikanischen Ländern bestätigte Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Coronavirus festgestellt worden seien. In den meisten dieser Länder habe sich die Epidemie in der so genannten “Phase 2” befunden, in der das Virus von Mensch zu Mensch innerhalb des Landes übertragen werde. Diese Infektionen könnten auf den Kontakt mit einer bestimmten Person zurückgeführt werden, beispielsweise mit einem Kollegen, der sich im Ausland mit dem Virus angesteckt habe. Sechs Länder hätten demnach die “Phase 3” erreicht, in der die Krankheit deutlich häufiger auftrete: Algerien, Äthiopien, Senegal, Südafrika, Tunesien und Uganda.
Doch selbst in diesen Ländern ist die gemeldete Zahl der bekannten Fälle im Vergleich zu Ausbrüchen anderen Regionen der Welt gering. Da sich die Pandemie in Afrika noch in einem frühen Stadium befindet, ist ungewiss, wie groß die Bedrohung für den Kontinent sein wird – etwa im Vergleich zu Asien und Europa.
Erkenntnisse aus Europa nutzen wenig
Beim Ausbruch des Coronavirus etwa in China hat das Alter der Patienten ein wichtige Rolle gespielt um abzuschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Menschen nur leichte Symptome haben oder lebensbedrohliche Atemwegserkrankungen entwickeln. Die Erkenntnisse aus Ausbrüchen in Europa und Asien sind jedoch nicht gut geeignet um vorauszusagen, wie die in Afrika vorherrschenden Rahmenbedingungen und Probleme der Gesundheitsversorgung die Gefahr für die Menschen beeinflussen.
“Es gibt so viele Parameter auf dem Kontinent, die eine Rolle spielen werden”, sagt Africa CDC-Chef Nkengasong. “Zum Beispiel die jugendliche Bevölkerung: 70 Prozent sind jünger als 30 Jahre.” Sogenannte Komorbiditätsfaktoren könnten bei der Bestimmung der Sterblichkeitsrate auf dem ganzen Kontinent eine Rolle spielen, betont er. “Gleichzeitig haben wir eine hohe Belastung durch endemische Krankheiten: Tuberkulose, Malaria, HIV und andere zugrunde liegende Probleme wie Unterernährung”, sagte Nkengasong. “Wir wissen einfach nicht, welchen Einfluss das haben wird.”
Schwache Gesundheitssysteme
Sicher ist, dass die Gesundheitsbudgets sowie die Zahl der Ärzte und Krankenhausbetten in afrikanischen Ländern weit hinter denen in Europa zurückliegen: beispielsweise hinter Großbritannien oder Italien, deren Gesundheitssysteme durch viele schwerkranke COVID-19-Patienten an ihre Überlastungsgrenzen gekommen sind.
In Südafrika, Ghana und Uganda arbeiten Forschung und Industrie an Prototypen für einfache Beatmungsgeräte – Maschinen, die für die Intensivpflege benötigt werden, um die schwerstkranken Patienten mit Sauerstoff versorgen zu können. Der Vorteil: Diese könnten schnell und vor Ort hergestellt werden, um auf die Pandemie zu reagieren. Die Herausforderung ist groß, denn andere haben bei diesem Vorhaben bereits versagt: So wurden beispielsweise in Großbritannien einfache Geräte hergestellt, denen die für COVID-19-Patienten erforderlichen Funktionen fehlten.
“Abschirmung” der älteren Bevölkerung?
Darüber hinaus wird es angesichts der vielen Menschen, die auf dem Land leben und dort fast überhaupt keine gesundheitliche Infrastruktur haben, eine Herausforderung sein, Patienten in Hochrisikogruppen in ländlichen Gebieten zu erreichen.
Forscher an der London School of Hygiene and Tropical Medicine haben auch den möglichen Verlauf der Krankheit unter verschiedenen Szenarien modelliert und festgestellt, dass eine “Abschirmung” der älteren Bevölkerung die Zahl der Todesfälle in afrikanischen Ländern deutlich verringern könnte. Da viele Haushalte mehrere Generationen umfassen, schlagen die Wissenschaftler eine Strategie des “Haustauschs auf Nachbarschaftsebene” vor, bei der Menschen mit hohem Risiko über einen längeren Zeitraum gemeinsam in so genannten “grünen Zonen” isoliert werden.
Testen und nachverfolgen
Da ein Impfstoff in den nächsten Monaten nicht in Sicht ist, haben sich die Regierungen in Europa und Asien darauf konzentriert, die Kurve der Infektionszahlen abzuflachen – mit dem Ziel, die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen. So soll vermieden werden, dass die Krankenhäuser überfüllt und die Versorgungskapazitäten überlastet werden.
Angesichts der ohnehin schon geringen Kapazität afrikanischer Gesundheitssysteme scheint es umso notwendiger, die Ausbreitung der Krankheit in Afrika einzudämmen. Aber auch das erfordert Ressourcen – nicht nur zur Deckung der wirtschaftlichen Kosten für die Abriegelung, sondern auch zur Durchführung von Tests und Nachverfolgung, damit Infizierte isoliert werden können.
“Ich bin sehr besorgt über die Kapazitäten afrikanischer Länder”, sagt Al Edwards, Virologe an der Universität Reading, der an Impfstoffen für frühere Coronaviren gearbeitet hat. Trotz des Erfolgs des Kontinents bei der Eindämmung von Ebola, mache ein Mangel an Testkapazitäten die Identifikation und Isolation von infizierten Menschen schwieriger, so Edwards.
Dunkelziffer bereitet Sorge
“Positiv gesehen wissen wir, dass im Süden Afrikas bei dem großen Ebola-Ausbruch Tests und Kontaktverfolgung durchgeführt wurden und es gelang, diese Infektion einzudämmen”, sagt Edwards. “Es gibt also einen Präzedenzfall in Afrika, der nirgendwo sonst auf der Welt existiert.”
Er warnt jedoch davor, dass viele Menschen in Afrika das Coronavirus in sich tragen könnten, ohne es zu wissen. Bei Ebola hingegen seien die Symptome schwerwiegend und offensichtlich gewiesen
“Es scheint, dass sich dieses Virus schnell ausbreitet, ohne dass die Menschen es bemerken”, so Al Edwards. Das berge die Gefahr, dass sich die Krankheit rasch und unbemerkt verbreite. “Wenn man den Überblick verliert, wer infiziert ist, steckt man völlig fest. Denn entweder muss man die Infektion sich einfach über eine ganze Population ausbreiten lassen oder man muss alle einschränken.”
Auch die Africa CDC betonen die Bedeutung von Tests. Nkengasong sagt, dass bis zur Woche vom 20. April etwa 418.000 Tests in ganz Afrika durchgeführt worden seien. Das entspricht etwa 325 Tests pro einer Million Einwohner. Zum Vergleich: In Italien wurden 12.000 Tests pro einer Million Einwohner durchgeführt, 36 mal mehr als in Afrika.
Afrikanisches Beschaffungssystem für Corona-Tests
Die Africa CDC wollen in den nächsten vier Wochen eine Million Testkits auf dem ganzen Kontinent verteilen. Benötigt werden in den kommenden Monaten weitere 20 Millionen Tests. Im Bewusstsein, dass ihre Mitgliedsstaaten mit der Welt um dieselben Ressourcen konkurrieren, hat die Afrikanische Union ein gemeinsames Beschaffungssystem eingerichtet, um den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit zu geben, ihre Kaufkraft zu erhöhen.
Darüber hinaus wollen die Africa CDC Menschen aus den Gemeinden zur Unterstützung der Gesundheitsarbeiter einsetzen, um die Infektionsketten der Krankheit zu beobachten und die Kontakte der positiv getesteten Personen zurückzuverfolgen. Der Ansatz wurde bereits in Kamerun eingeführt, insgesamt sollen auf dem ganzen Kontinent eine Million “Gemeindearbeiter” auf rekrutiert werden.
Begrenzte Optionen
Auch wenn sich die Ausbreitung des Coronavirus in Afrika durch diese Maßnahmen verlangsamen lässt, ist es wahrscheinlich, dass sich eine große Zahl von Menschen infiziert und behandelt werden muss. Die Africa CDC beobachten deshalb die Studien zu antiviralen Medikamenten, jedoch bleiben die Optionen auf dem Kontinent derzeit begrenzt.
“Es ist ein harter Kampf, Gesundheitssysteme aufzubauen, während man sie bereits braucht”, sagt Africa CDC-Chef Nkengasong. “Das machen wir jetzt gerade. Wir versuchen schnell aufzuholen, aber das ist eine schwierige Angelegenheit.”