09. April 2020 | Interview mit Emmanuel Mbolela: “Für Geflüchtete ohne Papiere ist die Lage katastrophal”
Emmanuel Mbolela ist ein politischer Aktivist aus der DR-Kongo. Weil er politisch verfolgt wurde, musste Mbolela 2002 ins Exil gehen. Sein Weg führte ihn über zahlreiche westafrikanische Staaten nach Algerien und schließlich nach Marokko. Dort gründete Mbolela 2005 die „Vereinigung der Geflüchteten und der migrantischen Gemeinschaften in Marokko“ (ARCOM), die sich für die Rechte von Migrant*innen im marokkanischen Königreich einsetzt. Mbolela lebt heute in Frankreich und ist Teil des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact. Zudem ist er seit 2014 Koordinator des Rasthauses “Baobab” für geflüchtete Frauen in Rabat (Marokko), das gemeinsam von Afrique-Europe-Interact und der ARCOM getragen wird. Im Baobab bekommen die Frauen und ihre Kinder für drei Monate kostenlose Unterkunft und Unterstützung. Hierzu zählen Alphabetisierungskurse, Informationsveranstaltungen und Theaterkurse, die auch für die Kinder aus der Nachbarschaft offen sind.
Die ARCOM betreibt ein Rasthaus in Rabat für geflüchtete Frauen. Woher kommen die Frauen und wie kommen sie zum Rasthaus?
Die Frauen, die im Rasthaus “Baobab” unterkommen, sind eigentlich auf dem Weg nach Europa. Wenn sie in Marokko ankommen, haben sie keinen Platz zum Schlafen. Wir nehmen sie auf und geben ihnen eine Unterkunft für drei Monate. Sie kommen aus verschiedenen Ländern südlich der Sahara, u.a. Mali, Guinea, Côte d'Ivoire, DR-Kongo und Burkina Faso. Die große Mehrheit der Frauen reist über Niger und durchquert die Wüste Richtung Norden nach Algerien. Anschließend reisen sie weiter nach Marokko. Andere Frauen reisen über Mauretanien.
Wie lange dauert die Reise in etwa?
Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Wenn eine Frau genug Geld für die Reise gespart hat, kann sie es in zwei bis drei Wochen schaffen. In anderen Fällen kann es zwei Monate oder sogar Jahre dauern. Es gibt viele Faktoren, die ins Spiel kommen. Es geht um Geld und darum, ob man unterwegs auf Banditen stößt, wie die Verhandlungen mit Grenzschutzbeamten laufen etc. In den letzten Jahren hat sich die Situation für Geflüchtete kontinuierlich verschlechtert, die Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer hat erheblich dazu beigetragen. Durch die Verstärkung des Europäischen Grenzregimes in Nordafrika sind die Menschen gezwungen, immer gefährlichere Wege zu gehen. Viele sterben in der Wüste.
Was sind die größten Risiken, denen Frauen unterwegs ausgesetzt sind?
Nun, Männer und Frauen gehen den Weg gemeinsam. Beide gehen hohe Risiken ein, aber die Risiken für Frauen sind doppelt so hoch. Frauen werden häufiger ausgeraubt. Viele werden Opfer von Gewalt. Nahezu alle Frauen in unserem Rasthaus sind auf ihrer Reise vergewaltigt worden. Eine Konsequenz davon sind die zahlreichen ungewollten Schwangerschaften. Aktuell wohnen im Rasthaus 32 junge Frauen, im Alter von 20 bis 30 Jahren. Hinzukommen sieben Babys, die zwischen einer Woche und einem Monat alt sind. Außerdem leben fünf Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren hier. Und: fünf Frauen im Baobab sind schwanger und werden in den nächsten Monaten entbinden.
Warum begeben sich die Frauen auf diese riskante Reise?
Die Gründe sind vielfältig. Der Hauptgrund ist die Armut. Aufgrund der Bilder im Fernsehen, denken viele Menschen, dass es in Europa keine Armut gibt. Ein weiterer Grund ist, dass Frauen für ihre Freiheit kämpfen und ein selbstbestimmtes Leben führen wollen. In einigen Ländern Westafrikas haben Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männer. Viele Frauen fliehen auch vor der Praxis der Genitalverstümmelung. Gewalt, innerstaatliche Konflikte und Bürgerkriege spielen ebenfalls eine Rolle.
Welche Chancen haben Geflüchtete, um von Marokko aus nach Europa zu gelangen?
Da die Geflüchteten in Marokko keine Perspektive haben, versuchen sie trotz der großen Risiken, das Meer zu überqueren. Ich denke, dass vielleicht zehn Prozent von ihnen es schaffen. Viele ertrinken, weil ihre Boote kentern. Andere werden von der marokkanischen Küstenwache abgefangen. Zurzeit wird die Corona-Pandemie als Vorwand genutzt, um Geflüchtete an der spanischen Grenze abzuweisen. Für diejenigen, die gezwungen sind, nach Marokko zurückzukehren, wird die Situation immer schwieriger. Sie überleben nur durch Betteln am Straßenrand.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Situation der Geflüchteten?
Durch die Corona-Krise hat sich die Situation in Marokko noch verschlimmert. Vor mehr als zwei Wochen am 20.März hat die marokkanische Regierung den Ausnahmezustand ausgerufen. Zu bestimmten Zeiten können die Menschen rausgehen, um sich zu versorgen, ansonsten ist es verboten. Viele Läden haben geschlossen. In den Straßen werden häufige Polizeikontrollen durchgeführt. Für Geflüchtete ohne Papiere ist die Lage katastrophal. Viele sind auf Lebensmittelspenden von Hilfsorganisationen angewiesen, um zu überleben. Vor ein paar Tagen habe ich mit einem Freund telefoniert, der bei einem marokkanischen Verein arbeitet. Er sagte mir, die marokkanischen Behörden haben alle Hilfsorganisationen angewiesen zu schließen, um große Menschenansammlungen zu vermeiden. Auch die Caritas, die evangelische Kirche und die katholische Kirche sind davon betroffen.
Wie ist die Situation der Frauen im Rasthaus?
Wir haben entschieden, den Zugang zum Rasthaus zu beschränken, um die Frauen, Kinder und Babys hier vor einer möglichen COVID-19 Infektion zu schützen. Da die Frauen im Rasthaus dicht zusammenleben, ist das Risiko einer gegenseitigen Ansteckung sehr hoch. Deshalb nehmen wir momentan keine neuen Frauen mehr auf.
Wie geht es jetzt weiter? Was könnte man in der aktuellen Situation machen?
Die Frauen im Rasthaus können wir erstmal versorgen. Aber unsere Mittel reichen nicht aus, um die vielen Geflüchteten zu unterstützen, die von allen Hilfeleistungen abgeschnitten sind. Für Geflüchtete ohne Einkommen und ohne Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen bedeutet die jetzige Situation ein einziges Chaos. Viele Menschen sind bereits gestorben. Wir von ARCOM werden Lebensmittel kaufen, Reis, Bohnen, Pflanzenöl, um diese in den Vierteln zu verteilen, in denen viele Geflüchtete leben.
Vielen Dank für das Interview Emmanuel!