08. April 2020 | Migranten im Hungerstreik (junge Welt)
Tunesien: Internierte Flüchtlinge protestieren gegen fehlenden Virenschutz und fordern Freilassung. Von Sofian Philip Naceur. Bitte hier klicken, um zum Orginalbeitrag zu kommen
Aufgrund der Coronapandemie wird in immer mehr Ländern eindringlich gefordert, Häftlinge aus Gefängnissen freizulassen und Flüchtlingsheime zu räumen. Angesichts der oft beengten Zustände in Haftanstalten und Flüchtlingslagern oder -unterkünften gelten diese als besonders gefährdet für eine schnelle Verbreitung des Coronavirus – mit entsprechend hohen Gesundheitsrisiken für die hier internierten oder untergebrachten Menschen. In einer Haftanstalt in der tunesischen Hauptstadt Tunis sind auch deshalb rund zwei Dutzend Migranten am Montag in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Sie fordern ihre umgehende Freilassung, befürchten sie doch, dass das Virus früher oder später in die berüchtigte, speziell für Migranten vorgesehene Anstalt Wardia in einem Außenbezirk von Tunis eingeschleppt werden könnte.
Das Personal gehe ein und aus und in den vergangenen Wochen seien mehrfach neue Häftlinge nach Wardia verlegt worden, so ein derzeit in der Anstalt internierter Mann gegenüber jW. Auch seien keine adäquaten Präventivvorkehrungen oder sanitären Maßnahmen in der Einrichtung ergriffen worden, um Insassen vor einer möglichen Infektion zu schützen, sagte er. Schon im Normalbetrieb sind die Lebensbedingungen in Wardia angespannt und entsprechen nicht internationalen Standards.
Derzeit sollen insgesamt 52 Menschen in der offiziell als »Empfangs- und Orientierungszentrum« bezeichneten Anstalt interniert sein. Neben Häftlingen aus Marokko, Algerien und Libyen sitzen auch Menschen aus Kamerun, Senegal und anderen afrikanischen Ländern in Wardia ein.
Nachdem Tunesiens Staatspräsident Kais Saied schon Ende März mehr als 1.400 Häftlinge aus den regulären Gefängnissen im Land entlassen hatte, um angesichts der Coronapandemie die Ansteckungsgefahr in den chronisch überbelegten Internierungsanstalten zu reduzieren, werden inzwischen auch Forderungen nach Entlassungen aus den für Migranten vorgesehenen Abschiebeeinrichtungen laut. Es sei nicht notwendig, Menschen angesichts der aktuellen Coronakrise in Tunesiens »Empfangs- und Orientierungszentren« in Administrativhaft zu behalten, wenn gegen diese keine strafrechtlichen Prozeduren laufen, so Romdhane Ben Amor, Pressesprecher und Mitarbeiter der Abteilung für Migration bei der tunesischen Menschenrechtsorganisation FTDES (Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte), gegenüber jW. Auch deshalb fordert er die unverzügliche Freilassung aller Insassen von Tunesiens Abschiebegefängnissen.
Das Tunesien-Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR erklärt derweil, Mitarbeiter der Agentur hätten Zugang zu Wardia erhalten und drei Menschen, die beim UNHCR Asyl beantragen wollten, registrieren können. Deren Freilassung werde in den nächsten Tagen erwartet, so die UN-Behörde gegenüber jW. Mehrere UN-Organisationen würden zudem derzeit mit der tunesischen Regierung über eine Freilassung der gegenwärtig im Land inhaftierten Migranten verhandeln.
Die Haft- und Abschiebepraxis tunesischer Behörden gegen Migranten steht bereits seit Jahren immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Schon unter Tunesiens 2011 gestürztem Exdiktator Ben Ali unterhielt das Land mindestens 13 ausschließlich für Ausländer genutzte semilegale Internierungseinrichtungen und schob immer wieder unter Verletzung internationalen Rechts Migranten in die beiden Nachbarländer Algerien und Libyen ab. Dabei wurden Flüchtende immer wieder in Grenzregionen – teilweise mitten in der Wüste – ausgesetzt und gezwungen, zu Fuß und ohne Wasser oder Proviant die Grenze nach Algerien oder Libyen zu überqueren. Zuletzt waren Anfang März fünf in Wardia inhaftierte Menschen aus Mali und anderen afrikanischen Staaten nach Westtunesien gebracht und nach Algerien abgeschoben worden. Algerische Sicherheitskräfte hatte die Gruppe umgehend verhaftet und am Folgetag nach Tunesien zurückgeschickt.