26. März 2020 | Plötzlich Apokalypse (analyse & kritik)
Jetzt, da es den Westen getroffen hat, herrscht auf einmal Untergangsstimmung. Aber zum Glück gibt es noch die »Sorge um Afrika«. Von Paul Dziedzic. Bitte hier klicken, um zum Orginalbeitrag zu kommen
Europa ist seit kurzem unzweifelhaft das Epizentrum der Corona-Pandemie, die Lage ist zum Teil dramatisch. Doch noch vor wenigen Wochen äußerten Medienhäuser wie die Deutsche Welle vor allem Sorge um Afrika, wo es ihren Mutmaßungen zufolge besonders schlimm werden würde. Das ist nicht erstaunlich, sondern ein Standard-Affekt.
Doch dann kursieren Bilder von LKWs der Armee, die Tote aufgrund der Überlastung der Krankenhäuser abtransportieren. Und es waren keine Bilder vom afrikanischen Kontinent, sondern aus Europa selbst. Inzwischen sind über 80 Prozent der mit Covid-19 Infizierten Menschen in Europa oder Nordamerika. Das hält das deutsche Expertentum nicht davon ab, weiterhin seine Sorge um Afrika kundzutun. Nach dem Motto: »Wenn es uns so schlimm erwischt, wie wird es erst in Afrika?«
Und wie immer, wenn es um Afrika geht, fallen dabei ein paar Dinge auf:
Erstens, Afrika ist kein Land, wird aber oft so dargestellt. Zweitens, alle dürfen mitreden. Auch Menschen, die sich nicht gerade als Kenner*innen auf diesem Gebiet (das eben nicht ein Gebiet ist) hervorgetan haben. Wie zum Beispiel der allseits beliebte Virologe Christian Drosten. Der warnte im Wochenmagazin Stern: »Die Menschen in Afrika werden auf den Straßen sterben.« Zu diesem Zeitpunkt waren auf dem Kontinent, auf dem doppelt so viele Menschen leben wie in Europa, gerade um die 500 Fälle bekannt.
Der Sinn der »Sorge um Afrika«
Natürlich ist davon auszugehen, dass das Schlimmste noch bevorsteht. Doch: Hier ist etwas anderes erschreckend. Die Art nämlich, wie und was berichtet und dargestellt wird. Es entsteht der Eindruck, man würde auf dem Kontinent die Däumchen drehen. Während Medienhäuser sich an Halbwissen und vorgefertigten Schablonen der Afrika-Berichterstattung bedienten, hatte Uganda als eines der ersten Länder bereits die Grenzen für Europäer*innen geschlossen, am Flughafen von Nairobi (Kenia) überwachten Wärmebildkameras die Bewegungen der Reisenden, in Ruanda standen Beamt*innen in Schutzanzügen und testeten alle, die einreisten. In Accra (Ghana) fahren Lastwägen täglich die Straßen ab und streuen Desinfektionsmittel. Am Institut Pasteur in Dakar (Senegal) arbeiten Wissenschaftler*innen zusammen mit dem britischen Biotechnologie-Unternehmen Mologic an einem Covid-19-Schnelltest, der das Ergebnis in nur zehn Minuten liefern, nur einen US-Dollar kosten und auf dem ganzen Kontinent verteilt werden soll. Mittlerweile haben die meisten Länder Ausgangssperren eingeführt, zivilgesellschaftliche Initiativen starten Aufklärungskampagnen, Sicherheitsbestimmungen laufen in den Radiokanälen rund um die Uhr. Selbst wenn sich das Coronavirus ausbreitete – Menschen werden nicht »auf den Straßen sterben«.
Drosten, der jetzt auch Afrika-Experte ist, sagte im gleichen Interview: »Ich mag mir gar nicht ausmalen, welche Bilder man sehen wird.« Und auch hier gilt: Doch, die Schablone ist schon ausgeschnitten, sie wartet nur auf ihren Einsatz. Es werden Erinnerungen an vergangene Epidemien wach, bei denen tatsächlich schreckliche Bilder die Runde machen. Doch das liegt auch daran, dass der Horror aus Afrika eine Ware ist, die zur Reproduktion rassistischen Denkens hier dient und die Hegemonie Europas sowie die Selbstvergewisserung seiner Subjekte intakt hält (Stichwort Misery Porn).
Am Beispiel Ebola lässt sich gut nachvollziehen, welche Verzerrungen in der öffentlichen Wahrnehmung unhinterfragt bleiben. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass in Europa mehr Menschen sterben werden als in Afrika während der letzten zwei Ebola-Epidemien (2016 und 2019) zusammen. Schon jetzt sind in Italien mehr Menschen gestorben als in den am schlimmsten von der Ebola-Epidemie betroffenen westafrikanischen Ländern.
Daraus lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ziehen. Erstens, uns ist allen bewusst, wie schlimm die Situation in Italien ist. Auch aus Spanien kommen Horrormeldungen. So fand das Militär bei Desinfektionseinsätzen völlig desolate Altersheime vor, in denen die älteren Menschen sich selbst überlassen worden waren, einige waren bereits gestorben und nicht einmal abtransportiert worden. Doch wäre all das in Afrika passiert, hätten die Kameras direkt auf die Toten draufgehalten, die Katastrophe wäre in all ihren grausamen Details ausgekostet worden, ohne Gedanken an die Angehörigen der Opfer zu verschwenden. In Europa waren dagegen die Bilder der Lastwägen aus Italien genug, um zu verstehen, wie ernst die Lage ist.
Zweitens, beim Lesen solcher Interviews wie jenem mit Christian Drosten entsteht der Eindruck, die Länder des afrikanischen Kontinents blieben untätig. Doch wer den Ebolavirus eindämmen konnte, hat erstaunliches geleistet. Der Virus ist hochansteckend und um ein vielfaches tödlicher als Covid-19.
Wo bleiben da eigentlich die großen Meldungen über die Heilung der letzten Ebola-Patientin, Masika Mawasu Semida, im Kongo vor gerade wenigen Wochen? Die Eindämmung von Ebola deutet auf ein effizientes Krisenmanagement in Staaten hin, die mit einem Bruchteil der Ressourcen arbeiten, die den Ländern des Westens zur Verfügung stehen. Und diese Eindämmung kam nicht vom Däumchendrehen. Befände sich der Westen nicht in seinem historisch gewachsenen Dauermodus der Selbstbeschäftigung, hätten vielleicht schon früher Maßnahmen ergriffen werden können. Geschadet hätte es nicht, ernster zu nehmen, was in China geschieht, oder auf Erfahrungen aus dem Globalen Süden zurückzugreifen. Von den Testkits aus Senegal könnten alle, selbst Europäer*innen, profitieren.
Die falsche Annahme von vor wenigen Wochen, Afrika würde nach China als nächstes hart getroffen, fußte zum einen auf den intensiven Austausch zwischen einigen afrikanischen Ländern und China. Doch zum anderen wohnt dem auch ein selbstverständlicher kultureller Rassismus inne. Er besagt, dass man sich ständig Sorgen um Afrika machen müsse, weil Menschen dort einfach nichts hinkriegen.
Dieses Bild ist nicht neu: Es wurde lange Zeit als Legitimierung für Sklaverei und Kolonialismus genutzt. Der Rassismus ist heute nicht so offensichtlich. Biologistische Annahmen wurden durch kulturelle ersetzt: So wird beispielsweise immer von Korruption und Misswirtschaft gesprochen. Für viele Expert*innen gelten solche Annahmen unhinterfragt und für alle Länder des Kontinents gleichermaßen.
Der Westen braucht ein »Anderes«
Ebenfalls auffällig ist, dass trotz der schlimmen Bilder, die immerzu über die »Anderen« produziert werden, die Gleichgültigkeit groß ist. Einige erklären es damit, dass man hier ja genug Sorgen habe, oder dass etwa Afrika kulturell und physisch einfach zu weit weg sei. Doch woher kommt die plötzliche Panik, wenn es einen selbst trifft? Ist es wirklich nur die persönliche Betroffenheit? Wann hat das letzte mal so eine Stimmung geherrscht? Auf einmal erscheinen Chronologien der letzten großen Pandemien, von denen die Spanische Grippe, der 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen, hervorgehoben wird. Doch hat diese Grippe wirklich solche Narben hinterlassen? Oder liegt es auch daran, dass Menschen hier Angst davor haben, dass Umstände wie im konstruierten »Anderen« herrschen könnten? Dort, wo die Welt immer schon unterzugehen droht?
Dieses konstruierte »Andere« zeigt sich tagtäglich. Es ist die Aufwertung des judeo-christlichen Abendlandes und seiner Traditionen, Werte und Institutionen: Demokratie, Menschenrechte und so weiter. Die Aufwertung des Westens und die Kreation einer imaginierten Gemeinschaft gelingt nur dadurch, dass ein »Anderer« konstruiert wird, dessen Eigenschaften das genaue Gegenteil sind. Daraus schöpft man in Westen Legitimation für die Vormachtstellung in der Welt und Individuen leiten daraus ihre Selbstvergewisserung ab, in einem »guten« Teil der Welt zu leben. Das hat Stuart Hall schon zu Beginn der 1990er Jahre festgestellt.
Die Verteidigung des Abendlandes ist mitnichten ein exklusives Projekt von Rechtsaußen. Der deutsche Chefkorrespondent von Reuters, Andreas Rinke zum Beispiel sorgt sich in einem Deutschlandfunk-Interview angesichts der chinesischen Hilfen für europäische Staaten um das »Image« Deutschlands. Er befürchtet, dass Europa im Rennen der »Ideologien« zurückfallen könnte, weil Deutschland nicht schnell genug mit »Solidarität« reagiert habe. Das »Andere« droht sozusagen zu übernehmen.
Ähnliches ist schon in den sozialen Medien über die Brigade aus Kuba gesagt worden: Es handele sich »nur« um eine Image-Aktion. Dass dabei tatsächlich Leben gerettet werden, scheint nebensächlich. Über die Widersprüche im Klub der »Guten« aber kein Wort: nicht über die unsäglichen Zustände in griechischen Lagern, nicht über die Aufhebung von Gesetzen zur Einhaltung von Menschenrechten in deutschen Lieferketten. Es gehört schon eine gewisse Unverfrorenheit dazu, heute einfach zu behaupten »the West is best«.
Das zuvor Unmögliche ist möglich – im Westen
Im Angesicht der Krise gönnen sich viele westliche Staaten nun das, was sie anderen so lange verwehrt haben. Besonders ärgerlich muss es für viele in Afrika gewesen sein zu sehen, welche wirtschaftlichen Maßnahmen auf einmal ergriffen werden dürfen. Maßnahmen, die der Westen dort seit nunmehr vier Jahrzehnten untersagt: die Nationalisierung von Krankenhäusern, die Aufgabe von Schuldenbremsen, die Rettung ganzer Industrien inklusive Airlines (die heutzutage nicht »systemrelevant« sind), das Umfunktionieren von Industrien und die Einführung von Produktionsquoten – ja sogar Ausgangssperren. Nationalisierung und Planwirtschaft, an solche Maßnahmen durften Staaten in Afrika nicht einmal denken, wenn bei ihnen Epidemien tobten.
Stattdessen wurde ihnen verordnet, auf Ratschläge aus dem Westen zu hören und für die Einreise von medizinischem Personal und Entwicklungshelfer*innen gefälligst Dankbarkeit zu zeigen (deren Einsätze niemand als »Imagekampagnen« bezeichnete). Wo bleibt denn nach dieser Logik der große Dank an die kubanischen und chinesischen Ärzt*innen, die in Italien, Spanien oder Frankreich gelandet sind? Wo bleibt der Ruf nach Hilfe von Staaten, die Erfahrung damit haben, Epidemien trotz beschränkter Kapazitäten einzudämmen ? Das darf nicht passieren, denn es würde am Bild des »Anderen« kratzen, und somit Tür und Tor für Forderungen nach einer anderen Welt öffnen.
Es ist schon erstaunlich, wie immer wieder der Eindruck entsteht, unser aller Ende stünde bevor, wenn etwas in Europa oder Nordamerika geschieht. Es ist erstaunlich, wie in der Aufzählung vergangener Katastrophen – sei es die Spanische Grippe, die Pest oder gar die zwei Weltkriege – von der »Menschheit« die Rede ist. Dabei drohte die Welt für viele »Andere« schon immer unterzugehen. Die First Nations der Amerikas zum Beispiel, die an von Europäer*innen eingeführten Immunerkrankungen starben und an ihnen teilweise untergingen, Communities in Westafrika, deren Familien durch die Entführung und Versklavung durch Europäer dezimiert wurden, oder die Herero und Nama, die dem deutschen Imperialismus zum Opfer fielen. Im Pantheon der Katastrophen bleiben ihre Geschichten außen vor. Denn sie zuzulassen, so die implizite westliche Angst, könnte einen Domino-Effekt in Gang setzen, der sich durch die Geschichte zieht und im Hier und Heute endet.
In der jetzigen Krise liegt dennoch die kleine Chance, aus dieser ständigen Selbstbezogenheit, diesem zunehmend irritierenden Monolog des Westens herauszutreten. Bedauerlicherweise gerade, weil es auch den Westen hart trifft.