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20. März 2020 | Nach Corona steht die Welt vor einem Neustart (vorwärts)

Die Corona-Krise sendet Schockwellen durch alle Systeme. Das eröffnet aber auch Chancen für eine notwendige Neuordnung der Welt, meint Marc Saxer von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Von Marc Saxer. Bitte hier klicken, um zum Orginalbeitrag zu kommen

Niemand weiß, wie lange die Pandemie dauern wird, wie viele Menschen erkranken werden, wie viele Leben der Coronavirus fordern wird. Was sich aber bereits heute abzeichnet, sind die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Coronakrise. Maßnahmen zur Einhegung der Pandemie unterbrechen rund um den Erdball das öffentliche Leben. Ausgehend von China steht in immer mehr Ländern die Produktion still. Globale Lieferketten sind unterbrochen. Man braucht nicht viel Fantasie, um in vielen auf Kante genähten Industrien eine Pleitewelle rollen zu sehen.
In den vergangenen Tagen bestimmen Hamsterkäufe die Berichterstattung. Große Anschaffungen stellen die verunsicherten Konsumenten aber eher zurück. Nach den Engpässen im Angebot bricht also auch der Konsum ein. Diese Verwerfungen dürften die ohnehin schwächelnden europäischen Volkswirtschaften in die Rezession abrutschen lassen.

Niedriger Ölpreis sorgt für fallende Aktienkurse

Der plötzliche Einbruch der chinesischen Nachfrage hat die Rohstoffmärkte erschüttert. Nachdem die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) sich nicht mit Russland auf eine Drosselung der Produktion zur Stabilisierung der Preise verständigen konnte, änderte Saudi-Arabien seine Strategie und pumpt die Märkte voll mit billigem Öl. Der Ölpreis stürzte in der Folge auf historische Tiefststände. Das mag Industrie und Verbrauchern kurzfristig Erleichterung verschaffen. Ölpreiskriege, Rezessionssorgen und Kalamitäten an den Finanzmärkten lassen jedoch die Börsen abstürzen. Nur das entschlossene Eingreifen aller großen Zentralbanken konnte bisher einen Finanzinfarkt verhindern.

Einige Staaten, allen voran Deutschland, haben schnell umfangreiche Maßnahmenpakete auf den Weg gebracht, um die drohende Wirtschaftskrise abzufedern. Die Vereinigten Staaten planen nun ebenfalls weitreichende Konjunkturspritzen. Ob diese und mögliche weitere Sofortmaßnahmen ausreichen, die wirtschaftliche Talfahrt aufzuhalten, hängt davon ab, wie tief die Krise sich durch das System frisst. Bei vergangenen Epidemien kehrte die Wirtschaft nach einem kurzen, scharfen Einbruch meist rasch wieder auf einen Wachstumspfad zurück. Ob das in der Coronakrise auch der Fall sein wird, hängt auch mit der Dauer der Pandemie zusammen.

Rückkehr der Eurokrise?

Größere Sorgen bereiten jedoch die Schockwellen, die nun durch die maroden Finanzsysteme laufen und dort längerfristige besorgniserregende Trends verstärken. Viele amerikanische Industrien und Privathaushalte sind überschuldet. In China ächzen Schattenbanken, Immobilien- und Staatsunternehmen und die Provinzen unter der Schuldenlast. Die europäischen Banken haben sich bis heute nicht von der Finanzkrise erholt. Der wirtschaftliche Kollaps in Italien könnte die Eurokrise wieder aufflammen lassen. Wie groß die Furcht vor dem Einsturz dieser Kartenhäuser ist, zeigt die Flucht der Investoren in sichere Staatsanleihen. Die Coronakrise könnte eine Kettenreaktion in Gang setzen, an deren Ende eine globale Finanzkrise steht.

Anders als bei der Finanzkrise 2008 stehen dieses Mal allerdings nicht die Zentralbanken bereit, um die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Bis heute sind die Zinsen in allen großen Volkswirtschaften auf historischen Tiefstständen. Die amerikanische Zentralbank ist daher dazu übergegangen, den Märkten durch Repogeschäfte direkt Liquidität zur Verfügung zu stellen. Die neue Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hat die europäische Krisenreaktion zunächst verstolpert und damit Spekulationen gegen den Zusammenhalt des Euroraums provoziert. Mittels einer koordinierten Intervention zeigen sich aber mittlerweile alle großen Zentralbanken entschlossen, sich der Panik an den Märkten entgegenzustellen. Die Gretchenfrage ist jedoch, ob sich die Coronakrise überhaupt mit geldpolitischen Instrumenten bezwingen lässt. Das hängt entscheidend von der Natur der Krise ab.

Denn die Krise beschränkt sich keineswegs nur auf die Sphäre der Ökonomie. Auf dem Prüfstand steht auch die Fähigkeit der Staaten, allein oder im Konzert Leib und Leben der eigenen Bürgerinnen und Bürger zu schützen – nicht weniger also als die Grundlegitimation des Leviathans.

Corona stellt Regime auf die Probe

In den autoritären Regimen Eurasiens steht dabei die Legitimation der starken Männer auf dem Spiel, deren Machtanspruch sich aus dem zentralen Versprechen „Ich beschütze Euch“ speist. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping hat das verstanden und geht ohne Rücksicht auf alle Kosten mit drastischen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus vor. Seine Amtskollegen in Thailand und auf den Philippinen haben die Seuchenkontrolle dagegen auf die leichte Schulter genommen und werden nun von ihren eigenen Anhängern attackiert. Ob Donald Trump in den Augen seiner Anhänger sein zentrales Versprechen einhält, Amerika vor äußeren Bedrohungen zu schützen, dürfte entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der amerikanischen Wahlen haben.

Die Coronakrise mag Populisten in der Regierung entzaubern, für ihre oppositionellen Brüder im Geiste ist sie ein gefundenes Fressen. In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger haben die demokratischen Staaten bereits in den Krisen 2008 und 2015 die Kontrolle verloren. Viele sorgen sich, ob ihre nach Jahrzehnten der Sparpolitik ausgehöhlten Staaten, insbesondere die kaputtgesparten Gesundheitssysteme, überhaupt noch in der Lage sind, Großkrisen zu bewältigen. In vielen Ländern dreht sich die öffentliche Stimmung gegen den freien Verkehr von Geld, Waren und Menschen.

Viele Italiener befürchten schon lange, zu den Verlierern von Globalisierung und Euro zu gehören. Nun kommen noch die Notfallmaßnahmen, der wirtschaftliche Schock und eine neue Flüchtlingskrise hinzu. Nicht nur der lombardische Rechtspopulist Matteo Salvini weiß, wie man aus den Zutaten „offene Grenzen, gefährliche Fremde, korrupte Eliten und wehrloser Staat“ ein toxisches Gebräu zusammenrührt. Die liberalen Demokratien Westeuropas stehen also auf dem Prüfstand. Im Abwehrkampf gegen Rechts müssen die Demokraten nun beweisen, dass sie Leib und Leben aller Bürgerinnen und Bürger schützen können.

Aber wie weit dürfen dafür die individuellen Freiheitsrechte eingeschränkt werden? Wie lange soll der Ausnahmezustand andauern? Würden die westlichen Gesellschaften drastische Maßnahmen wie in China tolerieren? Sollten sie gar wie die Ostasiaten dem Kollektiv den Vorrang über das Individuum einräumen? Wie kann die Ausbreitungsrate der Pandemie gebremst werden, wenn sich die Bürger nicht an die Empfehlungen zur „sozialen Distanzierung“ halten? Und was bedeutet eigentlich Solidarität mit anderen, wenn das einzige, was wir tun können, ist, uns selbst zu isolieren?

Globale Antwort statt Alleingänge gefordert

Eine grenzüberschreitende Pandemie schreit nach einer koordinierten globalen Antwort. Bisher suchen aber die Nationen ihr Heil in Alleingängen. Selbst innerhalb Europas mangelt es an Solidarität untereinander. Insbesondere Italien fühlt sich wie schon in der Eurokrise und der Flüchtlingskrise von seinen Partnern im Stich gelassen. China nutzte den Mangel an europäischer Solidarität geschickt und sandte dem Belt-and-Road-Partnerland Italien ein Flugzeug, vollgepackt mit medizinischen Hilfsgütern. Berlin hat mittlerweile die geopolitische Dimension der doppelten Corona- und Flüchtlingskrise erkannt und zeigt sich besorgt über die Versuche externer Mächte, Europa zu spalten. Der Exportstopp für medizinische Schutzausrüstung wurde wieder gelockert und Italien eine Soforthilfe von einer Million Gesichtsmasken zugesichert.

Für die ohnehin schwer belastete transatlantische Partnerschaft ist die Krise ein weiterer Stresstest. Präsident Trumps Entscheidung, die Vereinigten Staaten ohne Konsultationen von den europäischen Verbündeten abzuschotten, sendet ein klares Signal. Der amerikanische Versuch, die in Tübingen ansässige Firma CureVac zu übernehmen, um den Impfstoff exklusiv für die USA zu sichern, eskalierte sogar zu einem handfesten Streit mit Berlin. An eine gemeinsame, koordinierte Krisenreaktion ist unter diesen Bedingungen kaum noch zu denken. Im Westen gilt bisher die Parole: Jeder ist sich selbst am nächsten.

Auf der globalen Ebene heizen die neuen Konflikte zwischen den Großmächten die Krise sogar noch weiter an. Vor allem der Ölpreiskrieg ist von geoökonomischen Motiven getrieben. Der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Russland stellt das Überleben des OPEC-Kartells in Frage. Der große Verlierer des historischen Preissturzes könnte am Ende aber die hochverschuldete amerikanische Schieferölindustrie sein. Ob sich die Amerikaner also wirklich über billigere Preise an den Zapfsäulen freuen können, wie ihr Präsident versprochen hat, hängt davon ab, wer diesen Abnutzungskrieg am längsten aushalten kann. Russland und Saudi-Arabien haben jedenfalls ein zentrales Interesse daran, den kreditfinanzierten amerikanischen Wettbewerber aus dem Feld zu schlagen.

Neue Ordnung auf dem Ölmarkt

Wie auch immer der Ölpreiskrieg ausgeht, die Kräfteverhältnisse auf den Ölmärkten werden neu justiert. Eine interessante Wendung dürfte damit auch die seit Jahrzehnten tobende Debatte um „Peak Oil“ erfahren. Am Ende könnten es nämlich gar nicht zur Neige gehende Vorräte fossiler Brennstoffe sein, die den Niedergang der Ölindustrie besiegeln. Bei dauerhaft niedrigen Preisen lohnt es sich schlicht wirtschaftlich nicht mehr, diese Vorräte zu fördern. Könnte also ein geo-ökonomischer Konflikt ungewollt das Ende des fossilen Zeitalters einläuten?

Die Krise befeuert auch den amerikanisch-chinesischen Hegemoniekonflikt. Seit geraumer Zeit besteht in Washington ein parteiübergreifender Konsens, die amerikanische von der chinesischen Volkswirtschaft zu entkoppeln, um den Konkurrenten um die globale Vorherrschaft nicht noch mit eigenem Geld und Technologie zu stärken. Über Nacht müssen nun global aufgestellte Unternehmen ihre Lieferketten neu stricken. Werden alle diese Konzerne nach China zurückkehren, wenn die unmittelbare Krise vorbei ist? Die Konzernlenker dürften sich dann zweimal überlegen, ob sie die geopolitische Marschrichtung aus Washington willentlich ignorieren.

Neuer Trend: De-Globalisierung?

Und wie werden Europas Unternehmen sich nach der Krise neu aufstellen, nachdem die Kosten allzu großer Abhängigkeit von den chinesischen Lieferketten deutlich wurden? Wie groß der amerikanische Druck sein kann, erleben die Europäer seit Monaten in der Auseinandersetzung darüber, ob das chinesische Unternehmen Huawei vom Ausbau der europäischen 5G-Infrastruktur ausgeschlossen werden sollte. Die Corona-Krise könnte also eine Entwicklung beschleunigen, die bereits seit längerem im Gange ist: die De-globalisierung. Im Ergebnis könnte die globale Arbeitsteilung in konkurrierende Wirtschaftsblöcke zerfallen.

Auf einmal geht alles ganz schnell. Binnen Stunden werden Summen in die Märkte gepumpt, welche die „radikalen“ Versprechen des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Sanders wie ein Taschengeld erscheinen lassen. Deutsche Politiker, die sich gestern noch über die Gedankenspiele des Jungsozialisten Kühnert echauffiert hatten, denken heute mit ernster Miene über die Verstaatlichung von Unternehmen nach. Was in der Klimadebatte als naive Kinderträume abgetan wurde, ist nun traurige Wirklichkeit: Der globale Flugverkehr kommt zum Erliegen. Grenzen, die in der Flüchtlingskrise als unschliessbar galten, sind heute geschlossen. Und so ganz nebenbei beerdigt der konservative Ministerpräsident Söder die „Schwarze Null“: „Wir werden uns nicht an Buchhaltungsfragen orientieren, sondern daran, was Deutschland braucht“.

Das Zeitalter des Neoliberalismus, also der Vorrang der Marktinteressen gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Interessen, kommt an sein Ende. Sicher, all diese Maßnahmen sind dem Ausnahmezustand geschuldet. Sie werden den Bürgerinnen und Bürgern aber in Erinnerung bleiben, wenn es bald wieder heißt „Es gibt keine Alternative“. Mit der Krise ist die lange erstarrte Politik in Bewegung gekommen. Nach vier Jahrzehnten neoliberaler Staatsskepsis kommt etwas zum Vorschein, was längst in Vergessenheit geraten war: Die Staaten, wenn sie nur wollen, haben nach wie vor enorme Gestaltungsmacht.

Wie ein Scheinwerfer beleuchtet die Corona-Krise also die geopolitischen, wirtschaftlichen, ideologischen und kulturellen Bruchstellen unserer Zeit. Signalisiert dieser Einschnitt vielleicht sogar einen Epochenbruch? Endet das Zeitalter der Turboglobalisierung mit einer Entkopplung der großen Wirtschaftsblöcke? Läuten die Ölpreiskriege das Ende der fossilen Industriewirtschaften ein? Geht das globale Finanzsystem in ein neues Regime über? Geht der Staffelstab des Systemgaranten von den Vereinigten Staaten auf China über oder erleben wir den Durchbruch der multipolaren Welt?

Corona-Krise als globaler Kataylsator

Sicher ist, dass die Corona-Krise eine Reihe von Trends, die bereits seit längerem im Verborgenen wirken, zum Durchbruch bringen könnte. In atemberaubender Geschwindigkeit beeinflussen sich alle diese Entwicklungen gegenseitig. Diese Komplexität deutet an, dass diese Krise tiefer gehen wird als die letzte Finanzkrise. Die Pandemie könnte die brennende Lunte am Pulverfass einer globalen Systemkrise sein.

Die Corona-Krise ist ein gigantischer Feldversuch. Millionen Menschen experimentieren mit neuen Wegen, ihren Alltag zu organisieren. Geschäftsreisende steigen von Flügen auf Videokonferenzen um. Universitätslehrer halten Webinare. Angestellte arbeiten von zu Hause. Manche werden nach der Krise wieder zu ihren alten Mustern zurückkehren. Aber viele wissen nun aus eigener Erfahrung, dass die neue Art des Arbeitens nicht nur funktioniert, sondern auch umwelt- und familienfreundlicher ist. Wir müssen diesen Moment der Disruption, die unmittelbare erlebte Erfahrung der Entschleunigung nutzen, um daraus langfristige Verhaltensänderungen im Kampf gegen den Klimawandel zu generieren.

Wiederentdeckung der Solidarität

Die neoliberale Sicht auf die Krise bringt der britische Journalist Jeremy Warner zynisch auf den Punkt: „Ökonomisch betrachtet könnte die Krise langfristig sogar von Vorteil sein, weil sie überproportional ältere Familienangehörige keult (sic!)“. Im krassen Gegensatz zum unsolidarischen Verhalten der Staaten erleben die Menschen aber in ihren Nachbarschaften, am Arbeitsplatz und in den Freundeskreisen eine Welle der Solidarität. Wann zuletzt wurde die kapitalistische Verwertungsmaschine gestoppt, um Alte und Kranke zu schützen? Auf diese erlebte Solidarität können wir uns stützen, um die Gesellschaft als Ganzes wieder solidarischer zu gestalten. Gelingt es uns, die Krise gemeinsam zu bewältigen, schaffen wir damit ein Symbol für den Aufbruch in eine neue Zeit: „Eine Gemeinschaft, die zusammenhält, kann jede Herausforderung bewältigen“.

Die Reaktion auf die Krise birgt jedoch auch Gefahren. Rund um den Globus werden Grenzen geschlossen, Visa annulliert und Einreiseverbote für Ausländer verhängt. Die Rekordaufträge für Industrieroboter deuten an, dass die Produktionsketten durch einen entschiedenen Automatisierungsschritt resilienter gegen Ausfälle gemacht werden. Beide Trends drohen, die Spirale aus Jobverlusten, sozialer Abstiegsangst, Ressentiments gegen Zuwanderer und politischen Revolten gegen das liberale Establishment noch schneller drehen zu lassen.

Der liberale Ökonom Philipp Legrain warnt zu Recht: „Die Corona-Krise ist ein politisches Geschenk für nativistische Nationalisten und Protektionisten. Sie hat die Wahrnehmung befördert, dass Ausländer eine Bedrohung sind und man sich in einer Krise nicht immer auf seine Nachbarn und engen Verbündeten verlassen kann.“ Wir dürfen den Rechtspopulisten nicht die Deutungsmacht über die Krise überlassen. Nicht Abschottung und nationale Egoismen dürfen die Antworten auf globale Herausforderungen sein, sondern Solidarität und internationale Kooperation.

Notstand – für viele eine neue Erfahrung

Viele, vor allem junge Menschen, erleben zum ersten Mal einen nationalen Notstand. Innerhalb von Tagen werden ihre Freiheitsrechte in bisher unvorstellbarem Ausmaß eingeschränkt. Nicht nur in China, sondern mitten in Europa werden im großen Stil Technologien eingesetzt, die das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger überwachen und regulieren. Wie schon im „Kampf gegen den Terror“ werden viele der jetzt erlassenen Notstandsverordnungen auch nach dem Ende der Krise in Kraft bleiben. Man muss hinter dem normalisierten Ausnahmezustand nicht gleich wie Giorgio Agamben und Naomi Klein die Absicht wittern, die Individuen gefügig für den Katastrophenkapitalismus zu machen. Dennoch müssen wir verhindern, dass unsere Grundrechte permanent ausgehöhlt werden.

Slavoj Žižek trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er warnt: „Die Menschen halten die Staatsmacht zu Recht für verantwortlich: Ihr habt die Macht, jetzt zeigt, was Ihr könnt! Die Herausforderung für Europa besteht darin zu beweisen, dass das, was China gemacht hat, auf transparentere und demokratischere Art zu schaffen ist.” Wie das zu schaffen ist, ohne die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger übermäßig einzuschränken, haben die ostasiatischen Demokratien Südkorea, Taiwan und Japan bisher eindrucksvoll demonstriert. Gelungenes Management der Krise würde auch hierzulande das Vertrauen in den demokratischen Staat stärken.

In der Krise schlägt die Stunde kompetenten, zupackenden und schützenden Regierens.

Damit das gelingen kann, muss allerdings alles dafür getan werden, die über Jahre kaputtgesparten Gesundheitssysteme in die Lage zu versetzen, mit dem Ansturm der Erkrankten umzugehen. Die Schließung kommunaler Kliniken, die chronische Unterversorgung mit Pflegepersonal, die klägliche technische Ausrüstung rächt sich nun in der Krise. Selten dürfte die Forderung, die Privatisierung der Gesundheitsversorgung rückgängig zu machen, mehr Zuspruch erfahren haben. Spanien hat in der Krise kurzerhand alle privaten Kliniken und Gesundheitsdienste verstaatlicht. Auch in Deutschland hat die Debatte begonnen, ob es wirklich so klug war, unser Zusammenleben dem Diktat des Marktes zu unterwerfen. In Zukunft darf nicht mehr das Profitinteresse Einzelner, sondern allein das Gemeinwohl aller im Zentrum der Daseinsvorsorge stehen.

Der Wiederaufbau der Daseinsvorsorge in der Fläche erfordert Investitionen in Milliardenhöhe. Bundeskanzlerin Merkel bekräftigt, dass die Schuldenbremse in Ausnahmesituationen wie dieser nicht greift: „Es ist nicht unser Thema, wie zum Schluss die Haushaltsbilanz aussieht.“ In der Krise öffnet die deutsche Regierung einen historisch beispiellosen Rettungsschirm für die Wirtschaft, vom kleinen Selbstständigen über den Freiberufler bis zum Großkonzern. „Wir werden alles Mögliche tun“, versichert Bundesfinanzminister Scholz. Der Bürgschaftsrahmen in Höhe von einer halben Billion Euro sei erst der Anfang, versichert Bundeswirtschaftsminister Altmaier.

Der Keynesianismus ist wieder da

In der Krise sind wir also wieder einmal alle Keynesianer. Anders als nach der Finanzkrise 2008 dürfen wir aber nach der Krise nicht wieder zur Austeritätspolitik zurückkehren. Nach Jahrzehnten der Sparpolitik sind Gesundheits- und Bildungswesen, Kommunalverwaltungen, Verkehrsinfrastruktur, Bundeswehr und Polizei ausgezehrt. Um den Bürgerinnen und Bürgern die Angst vor dem Kontrollverlust zu nehmen, Wirtschaft und Gesellschaft auf die digitale Revolution vorzubereiten und nicht zuletzt den Klimawandel zu bekämpfen, sind Investitionen von historischem Ausmaß nötig.

Die globale Krise hat das Bewusstsein dafür gestärkt, wie verletzlich uns die Hyperglobalisierung gemacht hat. In einer global vernetzten Welt verbreiten sich Pandemien mit hoher Geschwindigkeit über Grenzen hinweg. Die globalen Lieferketten sind allzu leicht durchtrennbar. Die Finanzmärkte sind anfällig für Krisen. Die Rechtspopulisten wollen die Grenzen schließen und sich von der Welt abschotten. Das ist aber die falsche Antwort auf die globalen Herausforderungen Seuchen, Kriege, Flucht, Handel und Klimawandel. Unser Ziel sollte vielmehr sein, die Ursachen dieser Krisen zu bekämpfen. Dafür muss die Weltwirtschaft auf ein widerstandsfähigeres Fundament gestellt werden.

Im Zuge der Corona-Krise sortieren sich die globalen Lieferketten ohnehin neu. Kürzere Lieferketten, etwa mit amerikanischen Produktionsstätten in Mexiko und europäischen in Osteuropa, schaffen mehr Stabilität. Technologisch muss Europa wieder souverän werden. Dafür müssen wir in der Forschung und Entwicklung viel enger zusammenarbeiten. Das globale Finanzsystem, das mit nicht viel mehr als Spucke und Faden zusammengehalten wird, braucht dringend eine neue Ordnung. Seit über einem Jahrzehnt gelingt es den Zentralbanken mit reiner Geldpolitik nicht, die deflationären Tendenzen in den Griff zu bekommen. In der Krise springen ihnen nun Regierungen mit expansiver Fiskalpolitik zur Seite. Politisch muss daraus folgen, der Gründungslogik des Parlamentarismus Geltung zu verschaffen: keine Besteuerung ohne Repräsentation.

Die Finanzsysteme müssen wieder demokratischer Kontrolle unterstellt werden.

Aus allzu großer Interdependenz entstehen Konflikte. Diese Konflikte müssen durch internationale Normen und multilaterale Kooperation abgefedert werden. Das kompetente Krisenmanagement der Weltgesundheitsorganisation demonstriert die Leistungsfähigkeit multilateraler Kooperation bei der Bekämpfung der Pandemie. Anders als in der Finanzkrise 2008 bleibt jedoch dieses Mal eine koordinierte Antwort der zwanzig größten Volkswirtschaften aus. Die geopolitische Rivalität der Großmächte einerseits und der rechtspopulistische Ruf nach Abschottung andererseits stehen einem Mehr an internationaler Kooperation entgegen. Die vorhandenen Elemente multilateraler Governance müssen mit konkreten Beiträgen gestärkt werden. Das kann mit einer besseren Finanzausstattung der Weltgesundheitsorganisation beginnen und mit einem G20-Treffen zur Koordination des wirtschaftlichen Krisenmanagements weitergehen. Hier kann die Allianz der Multilateralisten ihren Mehrwert beweisen.

Die Krise hat den Bürgerinnen und Bürgern drastisch vor Augen geführt, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Nie war der Wunsch nach einer grundsätzlichen Reorganisation unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens größer. Zugleich müssen existentielle Gefahren abgewehrt werden, ohne Demokratie und Freiheitsrechte unverhältnismäßig einzuschränken. Welche politische Kraft kann die dafür nötigen sozialen Kompromisse aushandeln? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Sheri Berman hat die bange Hoffnung: „Kann die Sozialdemokratie noch einmal die Welt retten?“. Packen wir es an.