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Dezember 2019 | Mitten in die Wüste. Aziz Chehou zu Abschiebungen aus Algerien

Aziz Chehou lebt in Agadez (Niger). Er ist Lehrer, Übersetzer und Koordinator des von Afrique-Europe-Interact mitgegründeten Alarme Phone Sahara. Das Interview ist in der taz-Beilage von Afrique-Europe-Interact am 5. Dezember 2019 erstmalig erschienen.

Das Alarme Phone Sahara (APS) ist besonders aktiv in dem kleinen Ort Assamaka an der Grenze zwischen Niger und Algerien. Was ist da los?

Assamaka ist nur ein kleines Wüstendorf, 210 km von der Stadt Arlit entfernt, es ist aber ein wichtiger Transit- und Handelsort zwischen Niger und Algerien und sogar Mali. Außerhalb des Dorfes gibt es einen Markt namens „la Dune“. Dort werden Lebensmittel und Benzin aus Algerien zu niedrigeren Kosten gehandelt. Die Menschen aus der Region, nigrische Sicherheitskräfte und auch die Goldgräber aus den algerischen Minen beziehen von dort ihre Vorräte. Zudem können Migrant*innen etwas Geld als Träger verdienen und sodann ihre Reise auf Lastwagen fortsetzen. Wichtiger ist aber, dass wir in den letzten zwei Jahren enorme Massenabschiebungen aus Algerien erlebt haben. Jede Woche bringen die Algerier zwei Konvois von 250 bis 300 Menschen aller afrikanischer Nationalitäten an die Grenze in der Wüste, darunter Ältere, Minderjährige und Behinderte. Allein im Jahr 2018 waren das rund 10.000 Menschen.

Wie laufen diese Abschiebungen ab?

Die Menschen werden bei Razzien in Algerien festgenommen und dann von der Armee in Viehtransporter gesteckt und am Point Zéro ausgesetzt, einem Niemandsland zwischen Algerien und Niger. Dort lassen die Algerier sie in Richtung Assamaka laufen. Diese 15 km lange Wanderung durch die Wüste beginnt in der Dämmerung, kann aber 4 bis 6 Stunden dauern. Oft kommen die Menschen am Grenzposten in Assamaka völlig entkräftet an, weil sie ohne Vorbereitung, ohne Geld, Wasser und Essen losgeschickt werden. Einige sind traumatisiert durch Gewalt oder die Beschlagnahmung ihrer Sachen. Und auch passiert es, dass Frauen vergewaltigt werden, oft von den algerischen Sicherheitskräften.

Was passiert dann auf der nigrischen Seite?

Die angespannte Sicherheitslage in der Region zwingt dazu, dass man in Assamaka auf die Migrant*innen warten muss, anstatt ihnen entgegenzukommen. Im Dorf leisten die „Internationale Organisation für Migration“ (IOM) und „Ärzte ohne Grenzen“ erste Hilfe. Den weiteren Transport knüpft die IOM allerdings an die Bedingung, dass sie die freiwillige Rückkehr in ihre Herkunftsländer akzeptieren. Die anderen verbleiben in Assamaka ohne ausreichendes Wasser oder Schutz vor Sonne und Kälte und ohne weitergehende Gesundheitsversorgung. Sie versuchen, nach Algerien zurückzukehren. Darüber hinaus gibt es Migrant*innen nicht-afrikanischer Herkunft, die Niger nicht in sein Territorium einreisen lässt – etwa Menschen aus Syrien, Jemen und Bangladesch.

Und was tut das APS?

Das APS basiert auf einer Struktur von „lanceurs d’alerte“ – Informanten vor Ort, die Migrant*innen informieren, Migrationsbewegungen und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und zur Rettung von Migrant*innen eingreifen. In Assamaka kontaktiert unser lokaler Informant die Migrant*innen und fragt, ob alle angekommen sind. Oftmals gehen Menschen bei dem Marsch verloren oder bleiben erschöpft zurück. Unser Informant fährt dann mit dem Motorrad Richtung Point Zéro, um nach ihnen zu suchen. Er versorgt sie mit Wasser und Keksen. Er kann mit ein oder zwei Leuten auf seinem Motorrad zurückkommen. Auch informiert er mich, aber die Telefonverbindung ist sehr schwach. Manchmal kann er auch die Polizei auf ihren Patrouillen begleiten. Vor kurzem fanden sie eine alte Nigerianerin, die sich verlaufen hatte, bei einer anderen Fahrt stieß die Patrouille auf 4 Leichen und musste diese anonym begraben.

Was sind Eure Perspektiven für Assamaka?

Es wäre schön, unser Team dort auf 5 oder 6 Personen zu erweitern, um wirklich effektiv zu sein. Hierfür bräuchten wir ein Allradfahrzeug und mehr Erste-Hilfe-Materialien. Und wir wollen das Monitoring dieser Abschiebungen verbessern. Denn dort geschehen schwere Menschenrechtsverletzungen. Und natürlich brauchen wir weiterhin die Unterstützung der Behörden. Auf politischer Ebene fordern wir von der neuen algerischen Regierung, ihre rassistische Politik der Ausgrenzung und des verbreiteten Verdachts gegen Menschen aus Subsahara-Afrika zu revidieren und Menschenrechte zu achten. Von der Europäischen Union fordern wir, dass sie damit aufhört, den Maghreb, den Niger und insbesondere die Migrant*innen unter ihrer Politik der Migrationsabwehr leiden zu lassen.

Wie steht die lokale Bevölkerung dazu?

Für sie sind die Abschiebungen ein destabilisierender Faktor, da die Ankunft einer großen Anzahl mittelloser Menschen ihre vorhandene eigene Not in den schwierigen Lebensumständen in der Wüste verstärken kann. Diejenigen, die davon profitieren, sind eher die großen algerischen Händler auf dem Markt.