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Februar 2019 | Bericht vom Treffen des Alarmphone Sahara in Agadez/Niger

Von Olaf Bernau/Afrique-Europe-Interact

Anbei findet sich ein aktueller Bericht von einer Delegationsreise Mitte Februar nach Agadez (Niger) – jene zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörende Handelsstadt am Südrand der Sahara, die sich in den letzten Jahren zu einem der Hotspots des europäischen Migrationsregimes entwickelt hat. Aufhänger war ein Treffen des Alarmphone Sahara, einem Projekt, das vor rund zwei Jahren vom transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact ins Leben gerufen wurde. Das Alarmphone Sahara ist in vielerlei Hinsicht Neuland, ablesbar daran, dass es kaum politische Strukturen gibt, auf die sich das Projekt ernsthaft stützen könnte. Beteiligt sind bislang rund 40 Aktivist*innen in Niger, Mali, Burkina Faso, Togo, Marokko, Deutschland und Österreich, wobei es vor allem um drei Zielsetzungen geht: Erstens Migrant*innen und Geflüchteten nützliche Informationen für die Wüstendurchquerung zur Verfügung zu stellen, zweitens die Situation auf den Wüstenrouten öffentlichkeitswirksam zu dokumentieren, und drittens Rettungseinsätze zu initiieren bzw. selber durchzuführen.

Zur Planung und Koordinierung treffen sich Delegierte des Alarmphone Sahara regelmäßig an unterschiedlichen Orten – im Februar bereits zum dritten Mal in Agadez. Der in diesem Kontext entstandene Bericht ist eine Zusammenstellung tagebuchartiger Notizen, die anlässlich des Treffens an Mitglieder und Freund*innen von Afrique-Europe-Interact verschickt wurden. Im Zentrum stehen dabei weniger Informationen zum Alarmphone-Treffen selbst als vielmehr unterschiedliche Schilderungen des gesamtgesellschaftlichen Kontextes – unter anderem zu allgemeinen Sicherheitsfragen im Sahel bzw. in der Sahara (nicht zuletzt im Kontext von islamistischen Terrorismus), zur Migrationspolitik in Niger (seit die EU-Migrationspolitik die Bedingungen für Migrant*innen in Niger grundlegend verändert hat), zu genderpolitischen Fragestellungen, zur knapp 1.000 Kilometer langen Busreise von Niamey nach Agadez, zum Vergleich zwischen Mali und Niger etc. Damit will der Bericht einen gewissen Kontraktpunkt zur meist üblichen Berichterstattung in Punkto Migration in und aus afrikanischen Ländern schaffen. Denn häufig mutieren Transit- bzw. Herkunftsländer wie Niger zur bloßen Kulisse für das maßgeblich von Europa orchestrierte Geschehen auf den Migrationsrouten Richtung Norden. Das ist insofern legitim, als der in den großen Medien gemeinhin verfügbar Platz begrenzt ist. Gleichzeitig bleiben hierdurch wichtige Informationen auf der Strecke, ganz davon abgesehen, dass eine solche hochgradig selektiv Berichterstattung den betroffenen Ländern nicht gerecht wird. Schlimmer noch: Die Reduzierung afrikabezogener Berichterstattung auf europäische Interessenlagen (in diesem Fall: Migration) reiht sich in die hochgradig selektive, weil ebenfalls interessegeleitete Wahrnehmung ein, mit der Europa dem afrikanischen Kontinent ohnehin seit langem begegnet.

Schließlich: Der Bericht ist – wie schon gesagt – im Tagebuchstil verfasst, er ist also weder geradlinig noch stilistisch ausgefeilt. Gleichwohl hoffe ich, dass die Lektüre einen Beitrag zu einem etwas ausdifferenzierteren und somit realitätstauglicheren Verständnis aktueller Migrationsfragen im Sahel bzw. in der Sahara leisten kann.

Mehr Informationen zum Alarmphone Sahara finden sich auf Facebook (Alarme PHONE Sahara), auf der demnächst online geschalteten Webseite des Alarmphone und auf der Webseite von Afrique-Europe-Interact. Zudem sei betont, dass das Projekt dringend auf Spenden angewiesen ist: https://afrique-europe-interact.net/1541-0-Spendenformular.html.

Mit besten Grüßen,

Olaf Bernau (Afrique-Europe-Interact)

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12. Februar 2019

Anders als letztes Jahr [als wir ebenfalls tagebuchartige Berichte von einer Delegationsreise nach Mali verschickt haben] beginnt unsere diesmalige Reise in Niger, denn dort findet von Freitag bis Sonntag ein Treffen des Alarmphone Saharas statt, an dem auch mehrere Leute der europäischen Sektion von Afrique-Europe-Interact teilnehmen werden. In diesem Sinne sind wir heute Nacht in Niamey angekommen: die einen mit Air Algerie, die anderen mit Türkish Airlines, was insofern interessant ist, als ja Türkish Airlines im Sinne der Erdoganschen Einflusspolitik mittlerweile das größte Streckennetz aller Fluggesellschaften auf dem afrikanischen Kontinent unterthält.

In Niamey sind wir bei einer Aktivistin von Afrique-Europe-Interact untergekommen, die dort ein Jahr lebt und zu migrationspolitischen Themen forscht. Sie wohnt mit mehreren anderen (zum Teil ebenfalls aus Europa kommenden) Leuten zusammen, die ein schönes Haus gemietet haben. Relativ komfortabel und zugleich die x-te Lektion in Sachen Wohlstandsgefälle, die wir in den letzten Jahren erhalten haben: Wie in den meisten (Mittelschichten-)Häusern gibt es auch hier einen „gardien“, d.h. einen Hausmeister, der zugleich gute Seele für alle möglichen Arbeiten ist – ganz ähnlich wie im Vereinssitz von Afrique-Europe-Interact in Bamako, wo ebenfalls ein gardien tätig ist. Indes: Dieser gardien wohnt mit seiner Frau und ihrem neu geborenen Kind nicht im Haus, sondern in einem favelaartigen Verschlag neben dem Haus, d.h. in einer aus Plastikplanen zusammengehaltenen Hütte. Der Job als „gardien“ ist in Ländern wie Niger oder Mali ein begehrter Job, und dennoch fühlt sich sich eine solche Koexistenz extrem widersprüchlich an. Zum einen, weil derartige haushaltsbezogene Dienstleistungen ohne die allenthalben grassierende Massenarmut gar nicht denkbar wären (denn dann gäbe es ungleich weniger Leute, die eine entsprechende Arbeit verrichten wollten). Zum anderen, weil die Arbeit im Zusammenhang mit weißen Europäer*innen automatisch an koloniale Dienstverhältnisse erinnert, auch dann, wenn unsere Freund*innen in Niamey einen deutlich besseren Lohn bezahlen und die Familie des gardien erklärterweise eine separate Unterbringung bevorzugt (anstatt Teil eines europäisch geprägten Haushalts zu sein).

Wie schon bei unserem ersten Alarmphone-Treffen vor zwei Jahren in Niamey fallen einige der Unterschiede zwischen Mali und Niger deutlich ins Auge: In Niamey wirken die Dinge im Stadtbild noch prekärer als in Bamako, was insofern bemerkenswert ist, als ja vieles, was man in Bamako erleben kann, bereits wie die unterste Stufe der (Nicht-)Wohlstandsleiter anmutet. Konkreter: Offensichtlich ist, dass die meisten Menschen in materieller Hinsicht extrem wenig besitzen, entsprechend gibt es auch sehr viel weniger Mopeds als in Bamako (wo ja Mopeds ein zentraler Faktor im Straßenverkehr sind). Auffällig ist auch, dass weniger Frauen auf den Straßen zu sehen sind. Maimouna, eine ehemalige Gewerkschaftsfunktionärin, bestätigte diese Beobachtung, meinte aber, dass in Niamey noch vergleichsweise viele Frauen auf der Straße unterwegs seien, verglichen mit Städten wie Zinder im Südosten des Landes, wo die Zahl noch kleiner sei. Hintergrund sei, so Maimouna, dass viele Männer es nicht gerne sehen würden, wenn sich ihre Ehefrauen als Verkäuferinnen auf Märkten, an Straßenständen etc. betätigen würden. Sozial erwünscht sei stattdessen (natürlich nur als Tendenz, nicht als rigide umgesetzte Regel), dass Frauen vor allem am frühen Abend auf die Straßen gingen, um sozialen Verpflichtungen wie Kondolenz- oder Familienbesuchen nachzugehen.

Umso überraschender mutet es an, dass in Niger die Beschneidungsrate mit unter 10 Prozent eine der niedrigsten in Afrika ist. Denn eigentlich sind die Ähnlichkeiten mit Mali groß, wo die Beschneidungsrate bei 89 Prozent liegt: Beides sind Sahelländer, beide Länder sind ökonomisch extrem arm, in beiden Ländern liegt der Anteil von Muslimen bei über 90 Prozent. Dies zeigt, dass Beschneidung eine primär kulturelle Angelegenheit ist, wo sich an verschiedenen Orten völlig unterschiedliche Haltungen herausgebildet haben (auf der Webseite von Terre des Femmes befinden sich zu den einzelnen Ländern jeweils interessante Informationen zu Beschneidungen).

Ebenfalls interessant war bei unserem Gespräch mit besagter Gewerkschafterin die Frage des Mülls: In Niamey liegt viel weniger Müll rum als in Bamako, wo quasi die ganze Stadt vermüllt ist – nicht zuletzt mit schwarzen Plastiktüten (die einem selbst dann gegeben werden, wenn man sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt). Denn es gibt eine vom Staat forcierte Kampagne für weniger Plastikmüll, die auch von Jugendkollekiven unterstützt wird. In Agadez wurde sogar ein Gesetz gegen Plastiktüten verabschiedet, welches gerade noch in der Anlaufphase ist. Hierzu passt, dass im Moment in ganz Niger eine mit satten Strafen bewährte Anschnall- und Helmpflicht durchgesetzt wird, was insofern bemerkenswert ist, als in Niger zugleich elementare soziale Rechte mit Füßen getreten werden, nicht zuletzt auf dem Land.

Damit genug. Morgen früh geht es nach Agadez, darüber berichte ich demnächst…

Bestes,

Olaf

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13. Februar

Hallo in die Runde,

gestern morgen sind wir um 4 Uhr mit dem Bus Richtung Agadez losgefahren – eine insgesamt 953 Kilometer Kilometer lange Strecke. Bemerkenswert war, dass unterschiedliche Busunternehmen die gleiche Strecke bedienen (allein vier Busse nach Agadez), sodass sich die verschiedenen Busse immer wieder bei Polizeiposten, an Moscheen (zum Gebet) oder an Essensständen trafen bzw. aufstauten.

Demgegenüber hat der Zustand des Busses für etwas lange Gesichter in unserer kleinen Reisegruppe von vier Personen gesorgt. Denn pro Reihe gab es 5 Plätze (während es in Mali meist 2+2 Plätze sind), was angesichts einer bevorstehenden ca. 22-stündigen Busfahrt nicht gerade die angenehmste Aussicht war (de facto sind diese Sitze für die meisten Fahrgäste zu schmal – außer für junge, mitunter noch spargeldünne Leute). Die Fahrt selbst unterteilte sich in zwei Abschnitte: Die ersten ca. 600 Kilometer waren zwar immer wieder recht holperig, doch Niger würde nicht als das ökonomisch ärmste Land der Welt gelten (laut verschiedener Indizes), wenn es allenthalben gut asphaltierte Straßen gäbe. Demgegenüber hatte es der zweite Abschnitt ab Tahoua deutlich in sich – zumindest kann ich sagen, dass ich so etwas noch nie erlebt habe. Denn ab hier wurde die eigentlich asphaltierte Straße nach Agadez (was bekanntlich kein Kuhdorf, sondern die drittgrößte Stadt des Landes ist) immer holpriger, irgendwann verschwand sie ganz – sei es, dass riesige Löcher, ja Krater in der Straße klafften, sei es, dass der Straßenbelag völlig abgetragen war. Und das mit der Konsequenz, dass der durchgehend in hohem Tempo dahinbretternde Bus teils Schlangenlinien, teils kilometerlang über ausgefahrene Schleichwege neben der Straße fuhr und dabei auch einmal im Sand stecken blieb. Um mich verständlicher zu machen: Der Einmaligkeitscharakter war nicht der schlechte Zustand der Straße, da haben wir in Mali schon wesentlich schlechtere Strecken erlebt – inklusive Flußdurchquerungen etc. Nein, das Ungewöhnliche war, dass wir uns auf so etwas wie einer Bundesstraße bewegt haben, deren schlechter Zustand über geschlagene 350 Kilometer angehalten hat – und nicht etwa über einen kurzen Streckenabschnitt (spätestens an dieser Stelle muss natürlich die Frage gestellt werden, was mit den 1 Milliarden Euro passiert, die die EU an Niger für seine neue Abschottungs- bzw. Türwächterpolitik zahlt, und das um so mehr, als es ja gerade die Menschen in der Region Agadez sind, die durch das Wegbleiben zehntausender Migrant_innen erhebliche ökonomische Verluste hinnehmen mussten). Wie auch immer, um 1.20 Uhr haben wir Agadez erreicht, womit auch dieser Akt hinter uns gebracht war.

Jetzt noch einige Worte zur Reise selbst: Anders als in Mali gab es an den Pausenstationen deutlich weniger zu kaufen. Vor allem kommt an den Pausenstationen nicht wie in Mali eine ganze Gruppe junger Frauen in den Bus, die in zum Teil ohrenbetäubender Lautstärke ihre Waren feilbietet (so etwas schickt sich in Niger nicht, wie schon im letzten Brief geschrieben). Vielmehr sind es überwiegend junge Männer, die eine relativ begrenzte Palette an Getränkedosen, Brot, Obst (sehr wenig), Teigbällchen und imposanten Fleischmengen an die Leute bringen (Fleischmengen deshalb, weil Viehwirtschaft eine der wichtigsten Wirtschaftszweige im Sahel ist). Aufällig war des weiteren, dass der Bus sehr wenig Pausen gemacht hat, mehr noch: auf dem 350km-langen „Querfeldein“-Abschnitt bis Agadez gab es gar keine Pause, weshalb Dorette sich auch am Fenster aus dem fahrenden Bus übergeben musste (was zum Glück ohne weitere Schwierigkeiten geklappt hat…). Je weiter die Fahrt nach Norden ging, desto wüstenähnlicher wurde die Landschaft, wobei wir es rein geographisch eher mit Trocken- und Dornsavanne zu tun hatten. Umso faszinierender waren all jene Orte, wo es Seen oder Flüsse gibt. Denn veränderte sich die Landschaft schlagartig: Plötzlich standen überall Bäume, mehr noch: Gemüsegärten und kleine Getreidefelder tauchten auf, während kurz darauf wieder alles extrem trocken war, lediglich mit einigen versträuten Bäumen, die zum Teil Wasser im Stamm speichern können (wie der Affenbrotbaum) oder eine große Krone ausbilden, welche den Boden vor Austrocknung schützt (vgl. hierzu auch die verschiedenen Aufforstungsprogramme im Sahel, mit dem das Vordringen der Wüste verhindert werden soll – beispielhaft die Methode des diesjährigen Trägers des Alternativen Nobelpreises, Yacouba Sawadogo: https://www.youtube.com/watch?v=RJl225y2rlk).

Was die Kontrollen betrifft, die wir ja vor knapp zwei Jahren in zwei Delegationsreisen von Bamako nach Niamey dokumentiert haben, ist festzuhalten, dass sich das dichte Kontrollnetz verfestigt hat: Alle 1 bis 2 Stunden werden die Pässe kontrolliert und wer keine richtigen oder 150 Prozent korrekten Papiere hat, droht aus dem Bus gezogen zu werden – was auch häufig auf junge Migrant_innen zutrifft. In unserem Fall waren wir mit Farouk aus Togo unterwegs, der ebenfalls zum Alarmphone-Treffen gefahren ist. Er hatte keinen Ausweis, sondern nur eine Wahlregistrierungskarte. Eigentlich hätte das genügt, um ihn abzuweisen (was noch vor wenigen Jahren in Westafrika kaum vorstellbar war), doch er hatte ein Empfehlungsschreiben seiner Organisation „Assoziation der Abgeschobenen Togos (ATE)“ dabei, die er bei unserem Treffen vertreten sollte, sodass er vergleichsweise problemlos durchkam, an einem Posten wohl auch deshalb, weil wir als Gruppe unterwegs waren.

Was uns selbst betrifft, hatten wir bei den Kontrollposten keine Probleme, auch wenn unsere Namen zweimal sorgfältig in Bücher eingetragen wurden – für den Fall, dass wir zu Schaden kommen oder entführt werden sollten. Diese vor allem auf die Sicherheitslage zielende Fürsorglichkeit hat etwas Beruhigendes, aber auch etwas Beängstigendes. Denn sie verweist darauf, dass zwar die so genannten Hauptstraßen vergleichsweise sicher sind, dass aber dieser Teil Westafrikas immer stärker von Islamisten, Banditen etc. heimgesucht ist: Zunächst hat unsere Strecke die nigerianische Grenze berührt, wo auf der anderen Seite tendenziell Boko Haram aktiv ist (allerdings eher etwas weiter östlich). Je weiter man nach Agadez kommt, desto stärker treten andere islamistische Gruppen auf den Plan, die größere Teile des Landes zu hochgradig unsicheren Gebieten machen (diese Aussage sollte sich allerdings in den nächsten Tagen noch etwas ausdifferenzieren bzw. relativieren, füge ich rückblickend hinzu). Konkreter: Erst heute wurden 8 Soldaten in Diffa ganz im Osten des Landes getötet, vor einigen Tagen sind bei einem Anschlag im Zentrum des Niger ebenfalls mehrere Sicherheitskräfte ums Leben gekommen, letzteres hatte es bislang noch nie gegeben. Ihr seht also: Der Islamismus beschäftigt uns auch dieses Jahr (so wie im vergangenen Jahr im Rahmen unseres längeres Aufenthalts im Office du Niger), weshalb keineswegs auszuschließen ist, dass man als weiße Person in 1, 2 oder 3 Jahren nicht mehr mit dem Bus nach Agadez fahren kann.

Zurück zum Tag unserer Ankunft: Als wir um 2 Uhr im Hotel angekommen sind, erfuhren wir zunächst, dass in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen ist (wobei nach unserer Ankunft der Generator des Hotels angeworfen wurde), zudem gab es am nächsten Morgen erstmal kein fließendes Wasser, weil die Pumpen nicht funktionierten – doch auch hier konnte die hoteleigene Notpumpe aushelfen.

So weit. Schöne Grüße,

Olaf

P.S. Bitte erlaubt mir noch eine Nachbemerkung zum schlechten Zustand der Straßen: Natürlich haben wir mit unseren Mitstreiter*innen in Niger viel darüber diskutiert, weshalb die Straße nach Agadez in einem derart schlechten Zustand ist. Denn irgendwie scheint es zu simpel, das Ganze lediglich auf Korruption und Missmanagement zurückzuführen. Vielmehr ist auch in Betracht zu ziehen, dass es sich um eine antidemokratische Herrschaftstechnik handelt: Wo Menschen nur unter Inkaufnahme schwierigster Strapazen zusammen kommen können, ist die Gefahr deutlich kleiner, dass es zur realen Vernetzung bzw. Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren kommt – gerade in aktuellen Zeiten, wo Niger auf halbem Weg zu einer Art Softdiktatur ist (vor allem was die Meinungs- und Versammlungsfreiheit betrifft).

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14. Februar

Schön guten Tag,

manchmal sagen Bilder ja wirklich mehr als tausend Worte. In diesem Sinne findet ihr anbei zwei Bilder von Agadez, aufgenommen vom Turm der Zentralen Moschee. Die Stadt macht – oberflächtlich betrachtet – keinen besonders außergewöhnlichen Eindruck (wobei ihr Name „Die Stadt, die ihre Gäste willkommen heißt“ bedeutet). Sie besteht überwiegend aus Lehmhäusern und wird von relativ breiten Straßen durchzogen, die meist in einem ungleich besseren Zustand sind als die in meinem letzten Bericht beschriebene Straße nach Agadez. Und doch ist die große Armut allenthalben spürbar, ablesbar nicht nur an einer gewissen Kargheit, sondern auch auch daran, dass viele Gebäude, Autos, Geschäfte etc. in einem vergleichsweise abgenutzten Zustand sind. Dies war nicht immer so: Bis vor ca. 12 Jahren hat die ehemalige Handelsstadt Agadez maßgeblich von Tourist*innen gelebt (wobei ihre Bevölkerungszahl im 19. Jahrhundert zwischenzeitlich von 50.000 auf 7.000 gefallen ist). Doch dann gab es mehrere Rebellionen (bei denen u.a. die Touareg und die Toubu mehr Anteile am gesellschaftlichen Kuchen forderten – auch in Gestalt eines echten Förderalismus), später kamen Islamisten hinzu, die u.a. von Entführungen lebten. Dies hat zum Zusammenbruch des Wüstentourismus geführt, was aber alsbald durch die wachsende Zahl von Transitmigrant*innen aufgefangen wurde. Spätestens seit 2016 ist auch diese Ökonomie zum Erliegen gekommen, denn plötzlich wurde die Beherbergung und der Transport von Migrant*innen irregulär, nachdem sich die nigrische Regierung gegenüber der EU bereit erklärt hat, gegen die Zahlung von 1 Milliarde Euro die so genannte irreguläre Migration zu bekämpfen.

Womit ein wichtiges Stichwort berührt wäre. Denn die Bekämpfung der irregulären Migration ist – dies nur als generelle Vergegenwärtigung – in jedweder Hinsicht fragwürdig: Einerseits wurde den Händler*innen, Hoteliers etc. eine wichtige Geschäftsgrundlage weggenommen (ohne dass die Stadt bislang von dem EU-Geldseegen proftiert hätte), andererseits hat die Bekämpfung der Migration lediglich das Gesicht der Migration verändert, nicht aber die Migration selbst. Denn die Migrant*innen sind nicht verschwunden, sie nehmen heute nur andere Wege, auch wenn viele weiterhin über Agadez reisen. Anstatt innerhalb der Stadt in den so genannten Ghettos unterzukommen (große Innenhöfe, in denen die Migrant*innen auf ihre Abfahrt warteten, während sie tagsüber in der Stadt unterwegs waren), werden die Neuankömmlinge heute um Agadez herumgeleitet und warten an versteckten Orten außerhalb der Stadt, in aller Regel in den nördlich von Agadez beginnenden Bergen (die sich ca. 600 Kilometer Richtung Algerien erstrecken). Hinzu kommt, dass Migrant*innen mittlerweile auch andere Routen in Niger nehmen, also gar nichts mehr mit Agadez zu tun haben.

Keine Frage: Diese Feststellungen sind nicht bis ins letzte abgesichert, zumal einiges dafür spricht, dass insgesamt tatsächlich etwas weniger Migrant*innen via Niger reisen. Aber eben nur etwas weniger. Denn die meisten Fakten weisen in eine andere Richtung: In Nordafrika kommen weiterhin zehntausende Migrant*innen an, nicht zuletzt in Marokko, von wo im vergangenen Jahr über 50.000 Menschen nach Spanien gelangt sind. Dies berichtet auch unser Mitstreiter Hassan, der seit rund 20 Jahren in Oujda an der marokkanisch-algerischen Grenze frisch aus der Wüste ankommende Migrant*innen unterstützt. Er berichtete bei unserem (Alarmphone-)Treffen, dass die Zahl der in Oujda Neuankommenden nicht sinkt, und hierzu gehört auch, dass er bei Interviews mit Migrant*innen erfahren hat, dass die meisten weiterhin über Agadez gereist sind. Dies bestätigt auch Moussa, ein weiterer Mitstreiter unserer Alarmphone-Initiative: Er war in seinem früheren Leben Militär und Rebell bei den Touareg, später hat er jahrelang als Fahrer im Personenverkehr von Migrant*innen gearbeitet und ganz normal Steuern gezahlt (hat also das getan, was im europäischen Diskurs als Schleusertum dämonisiert wird, obwohl es in Niger nie so gesehen wurde). Moussa kennt sich weiterhin bestens aus und informiert heute als Teil unserer Alarmphone-Initiative Migrant*innen in den versteckten Lagern über die Risiken, die Migrant*innen berücksichtigen sollten, bevor sie die Reise durch die Wüste antreten. Schließlich sei noch eine dritte Gruppe erwähnt, die ebenfalls zu unserer Alarmphone-Initiative gehört – die sogenannten Strecken-Beobachter*innen (lancers d‘alert). Bei ihnen handelt es sich um ca. 20 Leute, die an den verschiedenen Haupt- und Nebenstrecken in der gesamten Wüste leben und deren Aufgabe im Rahmen des Alarmphone darin besteht, die Vorgänge in ihrem Umfeld zu beobachten, mit Leuten zu reden, Fotos zu machen und zu einem späteren Zeitpunkt ggf. auch Rettungsaktionen in die Wege zu leiten. Konkreter: Einer der Streckenbeobachter*innen unserer Alarmphone-Initiative kommt aus Bilma, einem Dorf, das ganz im Nord-Osten des Niger liegt, ca. 400 Kilometer von der libyschen Grenze entfernt – also mitten in der Wüste. Taher – so heißt besagter Streckenbeobachter – arbeitet fürs Rote Kreuz und ist immer wieder an Rettungsaktionen beteiligt. Nach ihm steigt die Zahl derer dramatisch an, die von ihren Fahrern in der Wüste ausgesetzt werden (weil diese Angst vor auftauchender Polizei haben) oder die sich mit ihren Fahrern verirren oder bei Unfällen zu Schaden kommen. In diesem Zusammenhang berichtete Taher davon, wie sich die Wüste immer stärker in einen Friedhof verwandeln würde, er meinte auch, dass er derart schreckliche Szenen mit verstorbenen Migrant*innen gesehen habe, dass er darüber gar nicht sprechen könne.

Zurück nach Agadez: Bereits diese kurzen Vorgriffe auf die Gespräche während unseres Alarmphone-Treffens machen deutlich, wie unangemessen die derzeitige Auslagerungspolitik der europäischen Grenzpolitik ist. Denn Migration lässt sich auf diese Weise nicht stoppen, sie ist viel zu tief in den jeweiligen Herkunftsgesellschaften verankert, das einzige, was wirklich beeinflussbar ist, sind ganz offenkundig die Rahmenbedingungen, und dies mit meist schrecklichen Konsequenzen für die Betroffenen.

Am ersten Tag in Agadez haben wir in einem kleinen (Imbiss-)Restaurant bei der Großen Moschee gefrühstückt und waren ansonsten mit der Vorbereitung unseres Treffens zu Gange. Gleichzeitig konnten wir erste Eindrücke von Agadez sammeln, das sich u.a. durch eine sehr gelassene Stimmung auszeichnet. Wie schon in Niamey sind deutlich mehr (junge) Männer als Frauen unterwegs – und doch ist die Atmosphäre in keiner Form unangenehm (wie das bei männerlastigen Straßensituationen ja oftmals der Fall ist) – dieser Umstand ist durchaus auffällig. Außerdem sind wir am ersten Tag auch zufällig an jenem Haus vorbeigekommen, wo Heinrich Barth im Oktober 1850 für 30 Tage lebte – also jener Forschungsreisender aus Berlin, der bis heute u.a. in Mali und Niger als einer der wenigen europäischen Afrikaforscher des 19. Jahrhundert in den höchsten Tönen gepriesen wird, einfach, weil er ganz offensichtlich (weitgehend) ohne Rassismus und Überlegenheitsdünkel aufgetreten ist und sich schlicht bemüht hat, die Gesellschaften im Sahelraum genau zu beschreiben, auch indem er einige der dort gesprochen Sprachen erlernt hat (laut Wikipedia: Tamaschek, die Sprache der Tuareg, Hausa, Fulfulde und Kanuri – neben englisch, französisch, spanisch, italienisch, türkisch und arabisch…). Heute ist in dem Haus ein Mini-Barth-Museum anzutreffen, das uns von einer uralten Frau geöffnet wurde. Sie gab uns auch einen Barth-Flyer, der zwar erst aus dem Jahr 2000 stammte, an dem aber auch ablesbar ist, inwiefern die Zeit des durch den Islamismus zum Erliegen gekommenen Wüstentourismus selbst schon wie eine vorzeitliche Hinterlassenschaft erscheint.

Schöne Grüße,

Olaf

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18. Februar

Schön guten Tag,

eigentlich wollte ich heute einen Bericht von unserem Alarmphone-Treffen schicken, das am Wochenende stattgefunden hat (15.02.-17.02.). Doch diesen Plan habe ich im Laufe des Tages über Bord geworfen, nachdem wir heute nochmal viele äußerst interessante Dinge über Agadez erfahren haben, die ich gerne mit euch teilen würde.

In diesem Sinne möchte ich mit der Korrektur einer missverständlichen Formulierung beginnen, die sich in meinen gestrigen Bericht eingeschlichen hat: Dort schrieb ich, dass die Einwohner*innenzahl von Agadez bereits im 19. Jahrhundert von 50.000 auf 7.000 gefallen sei. Damit wollte ich allerdings nicht sagen, dass heute in Agadez lediglich 7.000 Menschen leben würden. Nein, in Agadez leben derzeit rund 120.000 Menschen – davon mehrere tausend rückgeschobene oder in der Wüste abgefangene Migrant*innen sowie Aslybewerber*innen (siehe unten).

ALS AGADEZ NOCH ORT DES EMPFANGS FÜR MIGRANT*INNEN UND TOURIST*INNEN WAR

Womit wir schon bei einem der zentralen Themen meines heutigen Berichtes gelandet wären: Zur Alarmphone Sahara-Equipe gehört auch Pierre, der ursprünglich aus Kamerun stammt, aber bereits seit 2007 in Bamako lebt. Pierre ist 2000 erstmalig in die Migration Richtung Libyen gegangen. Entsprechend kann er aus eigener Anschauung von den Migrationsbedingungen im Jahr 2000 in Agadez berichten, um die es im gestrigen Bericht schon gegangen ist: Im Jahr 2000 wurden Migrant*innen in Agadez bei ihrer Ankunft von der Polizei registriert – dies allerdings nicht aus Repressionsgründen. Vielmehr dienten die Listen für zweierlei: Zum einen zur Steuererhebung für die Transportunternehmen (die heute in Europa als Menschenhändler bezeichnet werden), zum anderen zur Prüfung am Ankunftsort, ob auch tatsächlich alle Migrant*innen angekommen sind. Nur vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass seinerzeit die Atmosphäre in der Stadt eine völlig andere war: Die Migrant*innen blieben in der aller Regel nicht länger als eine Woche, währenddessen konnten sie sich ganz normal in der Stadt bewegen, zusammen mit den zahlreichen Tourist*innen, die zu diesem Zeitpunkt noch erhebliche Mengen Geld in die Stadt brachten. Dieser Zustand sollte sich erst ab 2001/2002 ändern, als Europa begann, immer mehr Druck auf die nordafrikanischen Länder auszuüben, Migrant*innen möglichst früh abzufangen, wobei es anfangs vor allem Ghadaffi war, der zwar die panafrikanische Einheit beschwor und immer wieder hundertausende Migrant*innen aus Subsahara-Afrika zur Arbeitssuche ins Land holte, der aber gleichzeitig auch regelmäßig extrem repressiv gegen Migrant*innen vorging – inklusive Massenabschiebungen (letzteres immer dann, wenn er Europa gefallen wollte).

REGION AGADEZ: ZWISCHEN ROHSTOFFWUNDER UND ISLAMISMUS IN WESTAFRIKA

Was die Stadt Agadez betrifft, sollte ein erster großer ökonomischer Einbruch die zweite Tuareg-Rebellion im Jahr 2007 sein. Zusammen mit einigen punktuellen Entführungen (die auf die Kappe von kriminellen Banden und/oder Islamisten gingen) war das der Punkt, an dem der Tourismus schlagartig zum Erliegen kam. Umso interessanter ist, dass viele unserer aus der Region Agadez stammenden Gesprächspartner*innen (die Region Agadez umfasst den gesamten Norden und Nordosten des Landes) immer wieder betonten, dass es in dieser Region eigentlich gar keine wirklichen Sicherheitsprobleme gäbe – auch keine mit Islamisten. Die Islamisten seien vielmehr an der malisch-nigrischen Grenze und im Süden bzw. Südosten an den Grenzen zu Nigeria und Tschad sowie zu Burkina Faso anzutreffen.

Was seinerseits die Frage aufwirft, wie es dazu gekommen ist, dass große Teile der Region Agadez (bis zur Grenze mit Algerien und Libyen) zur Roten Zone erklärt wurden, die von Ausländer*innen nicht betreten werden darf. Zwei Erklärungen werden genannt: Einerseits das Bedürfnis, die Migration zu kontrollieren, ohne von Journalist*innen, Menschenrechtsbeobachter*innen etc. gestört zu werden. Andererseits das Bestreben, die absolute Kontrolle über die Rohstoffe aufrechtzuerhalten. Wie weit letztere Erklärung trägt, müsste im Detail geklärt werden, aber es gibt bemerkenswerte Sachverhalte: Laut Manzo Diallo (der das Alarmphone Sahara bislang koordiniert hat und der wohl einer der profiliertesten Journalist*innen in der Region Agadez sein dürfte) ist der Niger ein „geologischer Unfall“, wie er heute in einem Gespräch meinte. Damit wollte er sagen, dass die Region Agadez auf ähnliche Weise mit Rohstoffen gesegnet sei wie die Demokratische Republik Kongo: Neben Uran (das die französische Atomindustrie schon seit über 40 Jahren zu Tiefstpreisen maßgeblich aus dem Niger bezieht) gibt es auch Gold, Öl, Gas und Kobalt, um nur die wichtigsten Ressourcen zu nennen. Auf sämtliche dieser Rohstoffe finde, so Manzo Diallo ein regelrechter Run statt, weshalb viele Industrienationen verhindern wollten, dass es (wie seinerzeit bei der Tuareg-Rebellion) zu irgendeiner Gefährdung der (potentiellen) Abbaugebiete kommen könnte. Entsprechend würden sich, so Manzo Diallo, in der Region Agadez diverse Truppen und/oder Polizeikontingente aus anderen Ländern tummeln – insbesondere aus den USA, aus Belgien, aus Frankreich, aus Spanien, aus Italien und aus Deutschland.

Wie schon angedeutet: Eine all zu starke Fokussierung auf Rohstoffe wäre aus meiner Sicht eher irreführend (abgesehen davon, dass die DR Kongo und Niger in Sachen Rohstoffen nicht wirklich vergleichbar sind). Präziser ist es wohl, das Moment der Kontrolle in den Mittelpunkt zu rücken: Mit der Sahara sind seitens des Westens zahlreiche Interessen verbunden, weshalb es dort aus westlicher Sicht die politische und ökonomische Kontrolle aufrechtzuerhalten gilt, wozu auch ein künstlich aufblasener (Un-)Sicherheitsdiskurs gehört. In diesem Zusammenhang möchte ich einen unserer Mitstreiter aus Bilma zitieren – einen Ort der 1000 Kilometer nordöstlich von Agadez liegt, in der Nähe einer der zentralen Migrations- und Handelsrouten nach Libyen. Dieser Mitstreiter wies mit Nachdruck darauf hin, dass Gruppen wie Boko Haram in Niger wenig Chancen hätten. Denn das Gebiet des heutigen Nordost-Nigerias (wo Boko Haram hauptsächlich aktiv ist) sei ein Spezifikum: Nur dort gibt es – diese Präzisierung stammt jetzt von mir – eine bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition, die erklärt, weshalb Radikalislamisten à la Boko Haram Fuß fassen konnten. Danach gab es Ende des 18. und Anfang des 19 Jahrhundert nicht zuletzt in dieser Region diverse radikalislamische bzw. djihadistische Bewegungen, die vielerorts etablierte Herrscher verdrängt haben, und zwar mit dem noch heute aktuellen Argument, dass es sich um politische Eliten handelte, die vom Pfad des rechten Glaubens abgekommen, d.h. die in Korruption, Vetternwirtschaft und Misswirtschaft versunken seien. Wichtig ist nun, um auf das Argument des Mitstreiters aus Bilma zurückzukommen, dass solche Traditionen in Niger nicht in gleicher Form bestünden. Stattdessen führte er mit viel Verve aus, dass der Islam die Tötung von Zivilisten in jedweder Hinsicht ausschließen würde – besonders Selbstmordattentate seien extrem verwerflich. Wenn überhaupt seien Angriffe auf staatliche Sicherheitskräfte statthaft bzw. legitim, doch das sei eine völlig andere Sache, so die nicht 100 Prozent konsistente, aber von einem tiefen islamischen Humanismus geprägte Argumentation.

WIE POLITISCHE VERWERFUNGEN DIE REGION AGADEZ IMMER STÄRKER ISOLIERENUND WAS ES MIT DEM (UN-)SICHERHEITSDISKURS AUF SICH HAT

Nochmal Szenenwechsel nach Agadez: Im Zuge unterschiedlicher Entwicklungen, zu denen auch die Ausbreitung islamistischer Bewegungen in Nord- und Westafrika gehören, hat Algerien schon vor vielen Jahren seine Grenzen nach Niger geschlossen. Ergebnis ist, dass ganze ökonomische Netzwerke zerschnitten wurden. Denn Agadez hat seine Waren lange vor allem aus Algerien und Libyen bezogen, nicht aber aus Westafrika. Genau dies ist heute anders: Jetzt wird die Stadt maßgeblich aus Westafrika und Europa versorgt, sodass die Güter tausende Kilometer mit Lastwagen über schlechte Straßen nach Agadez gebracht werden müssen und entsprechend teurer sind. Die Absurdität lässt sich auch an den Fahrtwegen unseres Mitstreiters Hassan aus Oujda ablesen, der ebenfalls am Alarmphone-Treffen in Agadez teilgenommen hat. Oujda liegt direkt an der marokkanisch-algerischen Grenze: Wäre alles normal (denn auch die marokkanisch-algerische Grenze ist seit einigen Jahren wegen Konflikten zwischen den beiden Ländern geschlossen), könnte Hassan in Oujda einen Bus nehmen und in ca. 12 bis 18 Stunden über überwiegend asphaltierte Straßen nach Agadez fahren. So aber musste er zunächst eine 500 Kilometer lange Busreise nach Casablanca im Westen Marokkos antreten, von dort mit dem Flugzeug via Tunis nach Niamey fliegen und dann von Niamey 1000 Kilometer mit dem Bus nach Agadez zurücklegen. Kurzum: Die diversen Konfliktlagen, die die gesamte Sahara zu einem umkämpften Raum gemacht haben, haben schon längst jenes Netz vielfältiger transsaharischer Verbindungen zerstört oder ausgedünnt, das sich ursprünglich seit dem 8. Jahrhundert unserer Zeitreichnung Schritt für Schritt über diese Weltregion gespannt hat (ich möchte an diesem Punkt auf ein Unterrichtsmodul der Erwachsenenbildung verweisen, dass ich im Januar 2018 unter dem Titel „Zwischen Gewalt, Sachzwang und alltäglicher Praxis: Zur Geschichte von Migration und Flucht in bzw. aus Afrika“ veröffentlicht habe; denn es rekonstruiert die Geschichte der Migration bzw. Mobilität auf dem afrikanischen Kontinent, unter besonderer Berücksichtigung Westafrikas – inklusive der Transsahara-Verbindungen: https://www.afrika-gibt-es-nicht.de/module/modul-03/).

Sorry, ich muss an dieser Stelle nochmal einen Schritt zurückgehen (es handelt sich ja um ein Tagebuch): Ich bin mir nicht sicher, ob die These unserer nigrischen Freund*innen wirklich 100 Prozent richtig ist, wonach die Sicherheitsproblematik in Niger vergleichsweise klein sei (gemessen an den Nachbarländern). Denn unsere Freund*innen weisen auch darauf hin, dass immer wieder Operationen von Banditen und Drogen- und Waffenhändler*innen stattfinden würden, meinen diesbezüglich allerdings auch, dass diese keine Gewalt anwenden würden, solange man ihnen nicht in die Quere käme – und selbst dann würden diese Akteure zufällige Zeug*innen eher kurzfristig festsetzen, als ihnen wirklich etwas anzutun. Gleichzeitig gäbe es in den kriminellen Netzwerken junge „Praktikant*innen“ (so eine der in meinen Augen etwas euphemistischen Bezeichnungen), die Überfälle begehen würden, um sich selbst zu beweisen. Hinzu kommt, dass sich (wie schon berichtet) gerade in den letzten Wochen Terroranschläge zunehmend ausbreiten, auch im Zentrum bzw. Norden des Landes. Ihr seht also: Es ist wirklich schwer, sich ein angemessenes Bild zu machen. Umso wichtiger scheint es, dass man lediglich vorsichtige Einschätzungen formuliert, und vor allem differenziert zwischen realer islamistischer Gewalt, Banditen, Drogenhändlern, potentiellen Rebellen (Tuareg, Toubou etc.) und imaginierten Terrorgefahren, die das Produkt teils europäischer Interessenpolitik, teils europäischer Angsthysterie ist.

Zu letzterem noch eine Ergänzung: Die optimistischen Einschätzungen unserer nigrischen Mitstreiter*innen zur Sicherheitslage in Niger scheinen auch deshalb verwirrend zu sein, als es ja in Mali, Nigeria und Burkina Faso bereits seit vielen Jahren zu schwerer Gewalt mit tausenden Opfern kommt, bei denen es ebenfalls nicht ganz einfach ist, zwischen Islamisten, Kriminellen und eskalierten Konflikten zwischen unterschiedlichen Gruppen (unter anderem zwischen Viehhirten und Ackerbauern) zu unterscheiden. Gleichzeitig ist es wenig zielführend, die Problematiken aus anderen Ländern 1:1 auf Niger zu projizieren. Denn vieles, was in besagten Nachbarländern passiert, ist in dieser Form in Niger bislang nicht zu beobachten.

WIE EUROPA AGADEZ ZUM MIGRATIONSHOTSPOT GEMACHT HAT

Erneut nach Agadez: Die Stadt sei heute ungleich ärmer als noch vor 10 Jahren, meint der bereits zitierte Journalist Manzo Diallo. Heute gäbe es Diebstähle, Einbrüche und Betttelei, die es in dieser Form bis vor kurzem noch nicht gegeben habe. Hinzu komme, dass durch die seit knapp zwei Jahren massenhaften Rückschiebungen von Migrant*innen aus Algerien und Libyen Agadez derzeit von solchen Migrant*innen überlaufen sei, die vor der Wahl stünden, sich von der International Organisation of Migration (IOM) nach Hause bringen zu lassen oder in Agadez zu warten, bevor sie einen weiteren Migrationsversuch Richtung Norden unternehmen (wichtig ist also: in diesem Abschnitt soll es jetzt um unterschiedliche Gruppen von Migrant*innen gehen – und nicht nur um die Transitmigrant*innen Richtung Norden, die sich mittlerweile außerhalb von Agadez auf ihre Weiterreise vorbereiten).

Konkreter: Die rückgeschobenen Migrant*innen werden vor allem von Algerien am Point Zero abgesetzt, einem sogenannten „Punkt Null“ an der algerisch-nigrischen Grenze nördlich von Arlit (bei dieser Gruppe handelt es sich vor allem um Migrant*innen, die bei Razzien in Algerien oder Libyen festgenommen wurden). Von dort müssen die Migrant*innen 15 Kilometer nach Assamaka laufen (die erste Stadt auf nigrischer Seite), was in der Wüste eine gewaltige und somit hochgradig gefährliche Distanz ist, wobei hinzugefügt sei, dass inzwischen auch die IOM und Médecins sans Frontières (Ärtze ohne Grenzen) die zu hunderten am Point Zero ausgesetzten Migrant*innen mit Bussen abholen und nach Agadez bringen – allerdings nicht alle und manchmal auch verspätet (zu denjenigen, die nicht abgeholt werden, gehören z.B. Migrant*innen, die psychisch krank erkrankt sind und sich auffällig verhalten). Interessant ist nun zweierlei: Viele der rückgeschobenen Migrant*innen betrachten das IOM-Center in Agadez als eine Möglichkeit, sich auszuruhen, medizinisch versorgen zu lassen und wieder zu Kräften zu kommen, um sodann einen abermaligen Migrationsversuch zu unternehmen (sie unterscheiden sich von den vor den Toren Agadez versteckten Migrant*innen lediglich dadurch, dass sie sich legal in Agadez aufhalten). Hierzu gehört zweitens auch, dass nicht wenige dieser Migrant*innen als Billigarbeitskräfte angestellt werden und somit für die ebenfalls extrem armen Bewohner*innen von Agadez zur Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden sind (was wiederum Proteste der lokalen Bevölkerung nach sich gezogen hat).

Diese zurückgeschobenen Migrant*innen sind nochmal von einer dritten Gruppe zu unterscheiden: Asylbewerber*innen (vor allem aus Sudan, Eritrea und Somalia), die in Niger einen Asylantrag beim UN-Flüchtlingskommissar stellen, in der Hoffnung, von einem der reichen Industrieländer im Rahmen des sog. UN-Resettlement-Verfahrens direkt aufgenommen zu werden. Diese Asylbewerber*innen sind entweder von der IOM aus Libyen ausgeflogen worden (nachdem sie in Libyen oder auf Booten im Mittelmeer festgenommen wurden) oder sie waren auf ihrem Weg Richtung Norden (via Niger), bevor sie von den Behörden dazu gedrängt wurden, in Niamey oder in einem 15 Kilometer von Agadez entfernten UNHCR-Flüchtlingslager einen UNHCR-Asylantrag zu stellen.

Hinzu kommen schließlich nigrische Binnenmigrant*innen, die z.B. aus Zinder oder Maradi im Südosten des Landes stammen und traditionell subalterne Arbeiten verrichten und häufig unter noch prekäreren Bedingungen leben als die ansässige Bevölkerung von Agadez. Kurzum: Ihr seht: Nicht nur die Sicherheits-, sondern auch die Migrationsfrage differenziert sich bei näherem Hingucken deutlich aus: Außerhalb von Agadez leben die Transitmigrant*innen, die sich verstecken müssen und die Asylbewerber*innen, die in einem Flüchtlingslager eine Asylantrag gestellt haben. Demgegenüber halten sich innerhalb der Stadt die aus Algerien und Libyen abgeschobenen Migrant*innen auf (vor allem aus West- und Zentralafrika), die von der IOM versorgt werden und ungleich weniger Geld in der Stadt lassen als früher die normalen Transitmigrant*innen (ergänzt sei noch, dass im IOM-Center in Agadez auch jene Migrant*innen landen, die innerhalb des Nigers von Sicherheitskräften aufgegriffen oder in der Wüste gerettet wurden).

Nun, ich hoffe, euch mit diesem Tableau unterschiedlicher Gruppen von Migrant*innen und Geflüchteten nicht verwirrt oder gelangweilt zu haben – und wenn doch, dann reicht es ggf. auch, sich die Sache in seiner ganzen (zynischen) Grundsätzlichkeit vor Augen zu führen: Das reiche Europa streitet regelmäßig darüber, wie einige dutzend, hundert oder tausend Migrant*innen oder Geflüchtete europaweit aufgenommen werden können. Das hindert die EU aber nicht daran, in Agadez – d.h. in einer Stadt, die in einem der ökonomisch ärmsten Länder der Welt liegt – einen Hotspot für Migrant*innen und Geflüchtete aufzubauen (IOM-Rückschiebungen und UNHCR-Asylanträge) und gleichzeitig jene Migrant*innen aus der Stadt zu drängen, die der Bevölkerung bis vor zwei Jahren ein gewisses Auskommen beschert haben. Kurzum: Agadez ist einer jener Ort, wo Europa seine Werte verrät und sich dabei auch als hochgradig heuchlerisch präsentiert – ein Aspekt, der auch in verschiedenen lesenswerten Reportagen nachgelesen werden kann, unter anderem den folgenden beiden:

a) STERN: Migranten im Wüstenstaat Niger. Ihr Ziel: Europa. Dem will die EU Einhalt gebieten, schon vor Ort. Kann das funktionieren: https://www.stern.de/politik/ausland/wuestenstaat-niger—die-eu-moechte-migranten-schon-vor-ort-aufhalten-8208006.html

b) taz: Endstation Agadez: Wie Niger die Fluchtrouten dicht macht: http://www.taz.de/!5468121/

ZUR ÖKONOMISCHEN UND SOZIALEN SITUATION IN AGADEZ

Lasst mich abschließend noch einige weitere Eindrücke zu Agadez teilen – quasi zur Vertiefung des bereits Gesagten. Ausgangspunkt hierfür war eine Stadtrundfahrt, die wir mit Moussa am Montag gemacht haben, also am Tag nach dem Alarmphone-Sahara-Treffen: Bei dieser Tour sind wir zunächst entlang jener Ausfahrtstraßen Richtung Libyen (Dirkou) und Algerien (Arlit) unterwegs gewesen, über die seit Ende der 1990er Jahre wahrscheinlich mehrere Millionen Migrant*innen Richtung Norden aufgebrochen sind – sei es nach Nordafrika oder Europa. Genau betrachtet war dieser Ausflug über die Stadtgrenzen hinaus unspektakulär, denn beide Straßen sind simple Wüstenpisten – nicht mehr, nicht weniger. Gleichzeitig handelt es sich exakt um jene in den letzten Jahrhunderten entstandenen Transahara-Routen, über die Agadez seit langem mit unterschiedlichsten Orten in Nord- und Ostafrika verbunden ist, was letztlich darauf verweist, wie tief Europa mit seiner Grenz- und Interessenpolitik in historisch gewachsene Strukturen eingreift.

In der Stadt selbst (deren Zentrum zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört) fiel zunächst einmal die Bauweise ins Auge: Die meisten Häuser sind von Lehmauern umfasst bzw. sind Teil dieser Mauern, allerdings kaum mit Fenstern zur Straße, sodass die Straßen wie lange Korridore wirken. Gleichzeitig waren in den Stadtteilen sehr viele Menschen auf den Straßen unterwegs – dem oberflächlichen Eindruck nach Frauen und Männer gleichermaßen (anders als im Zentrum, wo mehr Männer zu sehen sind). Dabei war einmal mehr interessant, dass es kaum Dinge gibt, die materiellen Wohlstand signalisiern, d.h. die ökonomische Marginalisiertheit der Region scheint mit Händen greifbar – und das, obwohl Agadez Hauptstadt der gleichnamigen Region Agadez ist, die, wie gesagt, seit Jahrzehnten die Elektrifizierung Frankreichs gewährleistet (allerdings zu spotbilligen Uranpreisen). Zu den Auswirkungen des Uranabbaus in der Region Agadez vergleiche auch folgenden Artikel:

Unser Erbe ist anhaltende UmweltzerstörungDie ökologische Katastrophe des Uranabbaus im Niger: https://afrique-europe-interact.net/226-0-Uranabbau-Niger—-kolog-folgen.html

Interessant war des weiteren, dass die ökonomische Marginalisiertheit ganz offensichtlich mehrere Abstufungen kennt: In vielen der eben erwähnten Umfassungsmauern stehen lediglich Hütten aus Planen – einfach, weil die Menschen nicht über die finanziellen Mittel verfügen, richtige Häuser zu errichten (teils handelt es sich um Mieter*innen, die in den von Mauern umfassten Grundstücken ihre Verschläge bauen, teils um die Besitzer dieser Grundstücke, die aber kein Geld für den Bau von Häusern auf ihren Grundstücken haben). Zudem sind wir während unserer Tour auch am IOM-Zentrum vorbeigekommen, wo die Rückgeschobenen bzw. in der Wüste aufgegriffenen Migrant*innen unterkommen. Das Zentrum ist ganz offensichtlich überfüllt, entsprechend hielten sich in den Straßen um das Zentrum Hunderte junger Migrant*innen auf, auch vor zahlreichen kleinen Ständen und Geschäften, die sich rund um das Zentrum angesiedelt haben. Auch dies hat anschaulich gezeigt, dass die Hotspot-Logik in Agadez zu greifen begonnen hat – also jener Mechanismus, der vorzieht, dass sich Migrant*innen und Geflüchtete an speziellen Orten außerhalb oder an den Rändern der EU zu „stauen“ beginnen (ob auf der griechischen Insel Lesbos, in libyschen Geheimlagern oder eben Agadez).

RÜCKFAHRT NACH AGADEZUND WAS DIES MIT GLOBALER GERECHTIGKEIT ZU TUN HAT

Ab Montag-Nacht haben wir uns in verschiedenen Gruppen wieder auf den Rückweg nach Niamey gemacht, teils mit dem Bus, teils mit dem Flugzeug. Ich selbst habe zu einer der Busgruppen gehört – und ehrlich gesagt, es war wie auf der Hinfahrt, nur schlimmer, jedenfalls gefühlterweise. Denn während der Reise hat mich unwillkürlich Wut nicht nur auf die globalen Verhältnisse gepackt, sondern auch auf den nigrischen Staat, der ganz offensichtlich weder willens noch in der Lage ist, eine halbwegs funktionierende Verkehrsinfrastruktur zu gewährleisten. Das wurde nicht nur während des gut 11-stündigen Abschnitts zwischen Agadez und Tahoua deutlich, wo die Fahrtgäste quasi non-stop durchgeschüttelt werden – samt solcher beklemmenden Szenen wie die einer rechts vor mir sitzenden Frau, die sich während der Fahrt ständig in ihre Plastiktüte übergeben musste, ohne dass irgendeine Chance bestanden hätte, dass der Bus anhalten würde (die Frau hat sich auch völlig still verhalten).

Hinzu kamen Eindrücke auf der Busstrecke selbst – etwa in einem größeren Dorf, wo gerade der Markttag zu Ende gegangen ist. Denn dort gab es relativ kleine Jeeps, auf denen sich meterhoch nicht nur Einkäufe, sondern auch ca. 20 bis 30 Menschen stapelten, die gleich am Dorfausgang ins offene Gelände abbogen, um die Menschen zurück in ihre Dörfer zu bringen. Gewiss, solche Bilder überladender Autos, Busse oder Züge kennt mensch aus aller Welt (am häufigsten wohl aus in Indien), aber auch hier muss ich feststellen, dass ich noch nie derart überladene Jeeps gesehen habe wie hier in der Region Agadez. Ähnlich verstörend war der Eindruck, den viele Dörfer auf der Strecke hinterlassen haben – einfach, weil es sich um Ansammlungen einzelner Hütten gehandelt hat, wo die Menschen ganz offensichtlich unter hochgradig prekären Bedingungen ein Leben unter zugleich einfachsten wie schwierigsten Bedinungen meistern müssen. Aus einer europäischen Perspektive scheint es oft schon schwierig, wenn der Strom oder das Internet nicht funktionieren (wie heute Nachmittag in Niamey). Doch all dies ist nichts gegenüber den Umständen in besagten Dörfern, wo das Wasser oder das Brennholz teils kilometerweit zu Fuß oder mit Eseln rangeschafft werden muss, ganz zu schweigen davon, dass grundlegende soziale Infrastruktur (Gesundheitsversorgung, Schulen, Strom etc.) nicht vorhanden ist – noch nicht einmal eine funktionierende Hauptstraße, die die Menschen wenigstens halbwegs einfach in kleinere oder größere (Markt-)Städte bringen könnte.

Gewiss, mir ist klar, dass die meisten von euch all dies kennen, manche von euch haben sogar in solchen Dörfern gelebt oder zumindest einige Zeit verbracht. Und doch: Obwohl auch ich in Mali regelmäßig in solchen Dörfern übernachte, geht es mir immer wieder so, dass ich eins aufs Neue in Tuchfühlung mit entsprechenden Realitäten gehen muss (auch in Gestalt miesester Straßenverhältnisse), um zumindest ansatzweise ein Gefühl für jene Lebensverhältnisse zu bekommen, die für die dort lebenden Menschen normal sein mögen (einfach, weil es schon immer so war), die aber dennoch einen politischen Skandal darstellen. Einen Skandal, für den es wichtig ist, immer wieder neue Worte oder Beschreibungen zu finden (was in diesen Tagebuchnotizen aber kaum möglich ist), um die entsprechenden Verhältnisse nicht einfach als Schicksal der „armen“ Länder des Südens zu begreifen, sondern als Ergebnis politisch-ökonomischer (und somit beeinflussbarer) Prozesse.

Ich danke euch für eure Aufmerksamt und grüße ganz herzlich,

Olaf

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15.-17. Februar (Alarmphone-Treffen in Agadez)

Schön guten Tag,

wie schon mehrfach geschrieben: der eigentliche Anlass dafür, dass wir überhaupt nach Agadez gekommen sind, ist ein Treffen des Alarmphone Sahara (abegkürzt: APS) gewesen. Insofern möchte ich dazu noch kurz einige Takte schreiben, auch wenn das Projekt an dieser Stelle nicht in Gänze vorgestellt werden kann (verwiesen sei stattdessen auf unsere Webseite: https://afrique-europe-interact.net/1616-0-Das-Projekt.html ).

Das Alarmphone Sahara wurde im Januar 2017 auf Initiative malischer Aktivist*innen von Afrique-Europe-Interact gegründet. Das Projekt versteht sich als Schwesterprojekt des Watch The Med Alarmphone, einer seit Oktober 2014 rund um die Uhr besetzten Notrufnummer für Migrant*innen bzw. Geflüchtete in Seenot (an der Aktivist*innen von Afrique-Europe-Interact ebenfalls beteiligt sind: https://alarmphone.org/de/). Konkret geht es dem APS um drei Dinge: Erstens Dokumentation davon, wie auf Druck der EU Migrant*innen und Geflüchtete seit September 2016 auch in der Wüste buchstäblich gejagt werden – und das mit der Konsequenz, dass immer mehr Schlepper auf unbekannte Nebenrouten ausweichen, was wiederum die Zahl der Toten in der Wüste enorm nach oben getrieben hat. Zweitens Vermittlung von praktischen Informationen an Migrant*innen, um ihre Reise durch die Wüste sicherer zu machen. Drittens Rettung von Migrant*innen bzw. Geflüchteten, die in der Wüste in Not geraten sind – sei es, weil ihr Auto liegengeblieben ist oder einen Unfall gemacht hat, sei es, weil sie von Schleppern ausgesetzt wurden (meistens, weil Polizei aufgetaucht ist und die Schlepper sich aus dem Staub gemacht haben).

Gewiss, alle drei Ziele klingen plausibel, sind aber schwierig umzusetzen: In der Wüste gibt es keine Wüstenwachen (analog zu Küstenwachen), zudem sind jenseits der Hauptrouten kaum Autos unterwegs, die helfen könnten (andres als auf dem Meer, wo es ganz verschiedene Schiffe gibt, die zumindest theoretisch retten können). Des Weiteren sind insbesondere jene Teile der Sahara, durch die Migrant*innen fahren, umkämpfte, zum Teil auch gesperrte Gebiete (u.a. der Norden Malis, der Süden Algeriens, der Norden des Tschad und große Teile des Nigers). Hinzu kommt, dass die Wüste ungleich gefährlicher als das Meer ist, halbwegs sicher können sich dort nur Menschen bewegen, die in der Wüste leben (die sich also Sandkorn für Sandkorn orientieren können, wie es unser Freund Moussa passend ausgedrückt hat). Schließlich gibt es in dieser Weltregion keine zivilgesellschaftlichen bzw. bewegungspolitischen Netzwerke, auf die das Alarmphone Sahara aufbauen konnte. Vielmehr sind wir im Rahmen des APS gezwungen, solche Strukturen überhaupt erst zu schaffen, wobei derzeit Aktivist*innen insbesondere in Niger, Mali, Togo, Marokko, Deutschland und Österreich beteiligt sind (mit Gruppen und Einzelpersonen aus Libyen, Algerien und Burkina Faso bestehen bislang nur vorläufige Kontakte).

Zurück zur Geschichte unseres Netzwerks: Begonnen hat es im Februar 2017 mit einem Gründungstreffen in Niamey, seitdem gab es drei weitere Treffen (1 x in Ouagadougou und 2 x in Agadez). Sämtliche dieser Treffen waren instruktiv, und doch hat sich der Networking-Prozess als vergleichsweise kompliziert erwiesen, unter anderem, weil sich viele der beteiligten Organisationen und Netzwerke bislang kaum kannten. Hinzu kommt, dass Organisierungsprozesse in Westafrika ohnehin extrem kompliziert sind (ganz zu schweigen von der Wüste) – nicht nur wegen der schwierigen Rahmenbedingungen, sondern auch deshalb, weil die meisten der beteiligten Aktivist*innen auch persönlich mit prekären Lebensbedingungen zu kämpfen haben.

Vor diesem Hintergrund ging es beim diesmaligen Treffen schwerpunktmäßig darum, die bislang aufgebauten Strukturen zu konsolidieren und überall dort nachzujustieren, wo Dinge noch unklar bzw. offen waren. Beteiligt waren an dem Treffen insgesamt 16 Personen bzw. Delegierte: 2 x Mali, 1 x Togo, 1 x Marokko, 5 x Deutschland und Österreich sowie 9 x Niger – darunter vier der oben schon erwähnten Streckenbeobachter*innen, die an verschiedenen Orten des nigrischen Teils der Sahara („Lancers d‘Alert) leben. Entsprechend haben wir am ersten Tag an der internen Struktur des Alarmphone Sahara gearbeitet (Aufgabenverteilung, Kommunikations- und Entscheidungsprozesse etc.), während an den beiden anderen Tagen unsere konkreten Aktivitäten im Mittelpunkt standen – nicht nur in Niger, sondern auch in den anderen Ländern.

Was die ins Auge gefassten Aktivitäten betrifft, sei vor allem dreierlei hervorgehoben: Wie schon vor einigen Tagen geschrieben, finden seit geraumer Zeit regelmäßig Massenabschiebungen insbesondere an die mitten in der Wüste gelegene algerisch-nigrische Grenze statt (15 Kilometer von der nigrischen Stadt Assamaka entfernt). Das APS will daher zukünftig stärker an diesem Ort aktiv sein, auch um die Behörden unter Druck zu setzen, die hiermit verbundenen Misshandlungen abzustellen – ganz davon abgesehen, dass solche Abschiebungen aus Sicht des APS eine Menschenrechtsverletzung darstellen und sowieso schnellstmöglich aufhören müssen. Zweitens ging es um die Frage, ob und wie wir in der Region Dirkou (das ist ca. 1000 Kilometer nord-östlich von Agadez) Rettungseinsätze organisieren können. Drittens haben wir über unterschiedliche Möglichkeiten geredet, Migrant*innen zu sensibilisieren, d.h. besser auf die Reise durch die Wüste vorzubereiten. Denn Fakt ist: Migrant*innen, die sich für die Migration entschieden haben, können und sollen nicht von diesem Ziel abgebracht werden – nicht nur, weil Bewegungsfreiheit ein (insbesondere von afrikanischer Seite betontes) Menschenrecht ist, sondern auch deshalb, weil die von Akteuren wie der EU oder der International Organisation of Migration (IOM) unternommenen Anstrengungen, die Migrant*innen zur Rückkehr zu bewegen, erfahrungsgemäß im Wind verhallen. Insofern konzentriert sich das Alarmphone Sahara darauf, die Migrant*innen mit praktischen Informationen auszustatten – sei es über unser Büro in Agadez (was auch als Anlaufpunkt dient), sei es über einen von malischen Aktivist*innen erstellten Flyer aus Text und Bildern, der demnächst sowohl in Agadez, als auch auf den großen Busbahnhöfen in Bamako, Gao oder Ouagadougou an Migrant*innen verteilt werden soll.

Abschließend noch zwei Ergänzungen: Das Treffen war auch davon geprägt, dass wir auf der Ebene der organisatorischen Verantwortlichkeiten zwei grundlegende Wechsel verdauen bzw. organisierten mussten: Zum einen hat Manzo Diallo aus Kapazitätsgründen seine Koordinatorentätigkeit aufgehört, was sich bereits im September angedeutet hatte (Manzo Diallo hat im September und November einige sehr gut besuchte Veranstaltungen in Deutschland und Österreich zum APS absolviert). Umso erfreulicher war es, dass Manzo seinen engen Freund Azizou Cheho als Nachfolger vorgeschlagen und dieser die Aufgabe auch übernommen hat. Zum anderen hat sich mit Manzo auch die nigrische Organisation Alternative Espace Citoyen (AEC) aus dem Projekt zurückgezogen (Manzo gehört zum nationalen Beraterkreis dieser in Niger ungemein wichtigen NGO). Auch der Rückzug von AEC stand bereits seit längerem fest, wurde jedoch überwiegend kritisch gesehen – einfach deshalb, weil dieser Rückzug nicht frei von gewissen Konkurrenz- und Leadership-Überlegungen seitens des AEC war (so die Lesart der meisten Teilnehmer*innen des Treffens). Gleichwohl haben wir uns darauf verständigt, dass die Gemeinsamkeiten überwiegen und dass auch zukünftig mit dem AEC zusammengearbeitet werden soll.

Ungleich problematischer ist die finanzielle Lage des Alarmphone. Denn das Projekt steht diesbezüglich bislang auf tönernen Füßen. Neben Afrique-Europe-Interct und einem einmaligen Zuschuss durch die evangelische Kirche in Deutschland (für den derzeit noch die letzte Bestätigung aussteht) ist das Projekt bislang nur von medico international gefördert worden, wobei die medico-Förderung ebenfalls ausläuft. Insofern haben wir in Agadez vereinbart, unsere Öffentlichkeitsarbeit in den nächsten Monaten auch in spendenpolitischer Hinsicht deutlich zu verstärken. Umso passender war es, dass während des Treffens zahlreiche Video-Interviews mit den Beteiligten aus den verschiedenen afrikanischen Ländern erstellt wurden.

Schöne Grüße,

Olaf

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21./22. Februar

Hallo in die Runde,

so, unsere Zeit im Niger ist zu Ende gegangen, wir sitzen jetzt im Bus nach Mali – via Burkina Faso. Wenn alles gut geht, sind wir morgen Nachmittag (23.02.) in Bamako, allerdings mit ca. 4 Stunden Pause in Ouagadougou (Hauptstadt von Burkina Faso), wo wir einen Aktivisten von Afrique-Europe-Interact am Busbahnhof treffen werden.

Apropos Busbahnhof: In Niger (genauso wie in Mali, Burkina Faso etc.) ist das Bussystem so strukturiert, dass jede Busfirma einen eigenen Busbahnhof hat – mitunter deutlich größer als Busbahnhöfe in Europa. In Niamey fahren – wie neulich schon angemerkt – an jeder dieser Busstationen täglich um 4 Uhr morgen 8 bis 10 Busse in ganz verschiedene Hiummelsrichtungen los (heute morgen in Niamey habe ich sowohl innernigrische Städte gesehen als auch zahlreiche westafrikanische Hauptstädte wie Akkra, Lomé oder Ouagadougou). Die frühe Startzeit führt dazu, dass hunderte Menschen auf Matten und Bänken in diesen Busbahnhöfen übernachten (nachdem sie bereits im Laufe des Vorabends angekommen sind). Um drei Uhr ertönt dann in den Busbahnhöfen eine laute Sirene, um die Menschen zu wecken, auf dass diese sich schnell zu den Bussen begeben. Bei den Bussen wird in der Reihenfolge, in der die Tickets gekauft wurden, die Namen der Reisenden aufgerufen (wie bei Flixbus, nur nicht mit elektronischer Einlesung via Barcode). Gleichzeitig wird das Gepäck von Angestellten der Busfirmen eingeladen, wobei die Bahnhöfe eingezäunt sind, damit nichts wegkommt. Die ganze Prozedur läuft wie ein Uhrwerk (insbesondere in Niger), sodass tatsächlich pünktlich um 4 Uhr alle Busse im hohen Tempo die Busbahnhöfe verlassen. Warum ausgerechnet bei Überlandbussen ein derart hoher Pünktlichkeitsdruck herrscht, weiß ich nicht, aber es ist ja kein Fehler (wohlgemerkt: ich spreche von den großen Busfirmen, die überregionale und internationale Verbindungen bedien, nicht von kleinen Busfirmen, die oftmals erst losfahren, wenn genug Fahrgäste zusamengekommen sind). Ein Grund könnte sein, dass die Reisen im weiteren Verlauf ohnehin mit vielen Verzögerungen zu kämpfen haben, sodass wenigstens am Anfang keine Zeit verloren werden soll.

Konkreter: Die erste Verzögerung fängt bereits an der Stadgrenze an. Dort werden an Polizeiposten die Ausweise erstmalig kontrolliert – ein Phänomenm, das es rund um die großen (Haupt-)städte in Westafrika überall zu geben scheint, bisweilen mit Zollmaßnahmen verknüpft. Danach folgen weitere Kontrollen – sei es auf den Strecken oder an den Grenzen. Einerseits ist das durchaus nachvollziehbar. Beispielsweise haben in der Region, durch die wir gerade durchfahren (Nordosten von Burkina Faso), im Laufe der letzten 6 bis 12 Monate diverse islamistische Angriffe sowie mehrere Entführungen stattgefunden, der Grenzposten, wo wir vor einer Stunde waren, wurde sogar angegriffen, einschließlich mehrerer Toter. Anderereits ist auch klar, dass Islamisten und Kriminelle ebenfalls wissen, was sie tun: Sie umfahren solche Posten bei Bedarf, was im Gegenzug bedeutet, dass bei den Kontrollen eher kleine Fische ins Netz gehen, als da wären: Migrant*innen, Leute mit ungültigen oder abgelaufenen Ausweispapieren, Händler*innen, die im kleinen Maßstab Schmuggel betreiben etc. – also Leute, die immer wieder kleine Gebühren oder Bestechungsgelder bezahlen müssen, damit sie weiterfahren können (und trotzdem bleibt die Sache etwas rätselhaft: in den letzten 7 Stunden wurden wir in Burkina Faso bereits an 6 Polizeiposten kontrolliert, ohne das erkennbar gewesen wäre, was diese Prozedur wirklich soll, d.h. worin der Sinn liegen soll, immer wieder aus dem Bus auszusteigen, sich aufzureihen, den Ausweis einem Gendarmen vorzuzeigen und dann wieder einzusteigen).

Ein Wort noch zu den unterschiedlichen Stilen der einzelnen Länder: Obwohl (oder gerade weil?) Niger – wie ebenfalls schon beschrieben – ökonomisch deutllich ärmer ist als zum Beispiel Mali (was auch unsere malischen Mitstreiter*innen bestätigten), wirken die Alltagsabläufe in Niger ungleich ruhiger und disziplinierter als in Mali oder Burkina Faso. Zu merken ist das nicht nur an der gleichsam militärischen Einstiegsprozedur an den Busbahnhöfen, sondern auch an den Kontrollposten, wo selbst das Wort junger Soldaten (mit Gewehr im Anschlag) schwerer wiegt als das älterer Fahrgäste, was ja vielerorts in Westafrika recht ungewöhnlich ist. Die diszplinierte Ruhe (die teils auch eine würdevoll-selbstgenügsame Anmutung hat) ist auch in Niamey allenthalben zu beobachten: Die Autos und Taxis fahren überwiegend langsam und umsichtig, es gibt kaum Gehupe, genausowenig wie Kleinbus-Fahrer oder Händler*innen, die laut rufend Kundschaft suchen, kurzum: echte Großstadthektik kommt nicht wirklich auf, wie sie etwa (in extremer Form) in Bamako anzutreffen ist. In diesem Zusammenhang habe ich gestern auch bei einem Spaziergang in einem ganz normalen Stadtteil in Niamey einmal mehr die eigentümliche Erfahrung multipler Welten gemacht: Während ich unauffällig-auffällig durch die Straßen gegangen bin (auffällig einfach deshalb, weil in solchen Stadteilen so gut wie nie weiße Europäer*innen zu Fuß unterwegs sind), war der Umstand mit Händen greifbar, in wie unterschiedlichen Welten ich und die jeweils anderen Passant*innen leben. Und natürlich habe ich mich dabei auch gefragt: „Muss das sein, musst du, Olaf, jetzt wirklich hier sein, kannst du dein politisches Engangement nicht in Europa umsetzen, ist es wirklich nötig, als eine Art Außerirdischer die situative Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen – auch indem z.B. ein kleiner Junge über mehrere hundert Meter direkt neben dir herläuft?“ Nun, ich denke, unsere Anwesenheit (jedenfalls im Rahmen eines transnationalen Netzwerks) macht Sinn, wir können dadurch Dinge (mit-)realisieren (wie z.B. das Alarmphone), die ansonsten nicht möglich wären, die aber für viele Menschen eine durchaus reale Verbesserung darstellen. Zudem sammeln wir Informationen, die für die kritische Öffentlichkeitsarbeit zu europäischer Migrations-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik unverzichtbar sind. Und auch entstehen auf diese Weise politische und persönliche Verbindungen zwischen afrikanischen und europäischen Aktivist*innen, die unseres Erachtens Voraussetzung dafür sind, die asymmetrischen, durch koloniale und neokoloniale Machtbeziehungen entstandenen Beziehungsmuster zwischen Afrika und Europa langfristig überwinden zu können.

Und doch machen so kurze Straßenbegegnungen auch deutlich, wie wichtig es gerade aus einer europäischen bzw. weißen Perspektive ist, immer wieder darüber nachzudenken, weshalb wir uns in jenen von Europa (in Kollaboration mit afrikanischen Co-Eliten) zerstörten Gesellschaften aufhalten bzw. bewegen: Mit welchen Augen gucken wir auf Abläufe, die sich oftmals nicht erschließen? Welche Begriffe und Adjektive wählen wir? Ist es angemessen, z.B. von „Armut“ zu schreiben, was ist überhaupt „Armut“, vor allem für diejenigen Menschen, für die „Armut“ ihr ganz normaler Alltag ist? Wo halten wir uns auf, d.h. gehen wir in Restaurants, die für Europäer*innen billig sind, für viele Afrikaner*innen jedoch unerschwinglich, oder machen wir das ausdrücklich nicht? Wie kleiden wir uns? Ist das Tragen afrikanischer Hemden, Hosen oder Kleider ein Akt kultureller, mithin neokolonialer Aneignung (nach dem Motto: „Europäer_innen nehmen sich, was ihnen gefällt“) oder ist dies Bereitschaft zur Assimilation, die von vielen Menschen in Afrika ausgesprochen wertgeschätzt wird? Wie reagieren wir auf Dinge, die wir nicht verstehen oder die offensichtlich unnsinnig oder ungerecht sind: Haben wir das Recht oder gar die Pflicht, uns aufzuregen oder sollten wir schlicht die Klappe halten –auch dann, wenn es um grundlegende, ja existentielle Dinge geht wie Wahlbetrug, Korruption oder Beschneidung (und unter welchen Voraussetzungen darf bzw. soll man für letzteres den Begriff der Genitalverstümmelung nutzen)? Was tun wir, wenn wir als Weiße offensichtlich übers Ohr gehauen werden, v.a. bei überhöhten Preisen – ist es chauvinistisch, sich darüber aufzuregen oder positiv-rassistisch, nichts zu sagen? Wie gehen wir in Debatten damit um, wenn wir merken, dass wir zwar bei bloßen Faktenfragen bisweilen die afrikanischen Gesellschaften besser kennen als viele ihrer Bewohner*innen (einfach, weil wir das Privileg haben, uns mit Hilfe von Büchern, Texten etc. einschlägig zu informieren)? Bringen wir in solchen Situationen unser Wissen ein (auch um es zu teilen) oder verharren wir in demonstrativer Bescheidenheit und beschränken uns auf das Stellen von Fragen? Sind wir umgekehrt bereit, trotz gewissen Faktenwissens anzuerkennen, dass wir am Ende verdammt wenig verstehen, unter anderem deshalb, weil es viele Dimensionen von Gesellschaftlichkeit gibt (gerade in Westafrika, wo das gesprochene Wort von überragender Bedeutung ist), die aus Büchern oder Texten nicht zu entnehmen sind – ablesbar etwa daran, wenn afrikanischen Freund*innen sagen: „das versteht ihr nicht“ (weil es z.B. um Kasten- oder Berufsgruppen, um Fragen spiritueller Mächte oder spezifische (Scherzverwandtschafts-)Verhältnisse geht)? Ist es angemessen, wie es mir gestern passsiert ist, bei einem längeren Ausfall der Wasserversorgung zum Eckladen zu gehen und mit drei vollen 1,5-Liter-Flaschen nach Hause zu laufen, obwohl alle anderen Leute in der Straße ebenfalls Durst haben, aber weit davon entfernt sind, sich eine 1,5-Liter-Flasche kaufen zu können? Passt es, dass wir zwar in ganz normalen Vierteln wohnen, in unseren Wohnungen aber einen völlig anderen Zimmerverteilungsschlüssel zugrundelegen (nämlich in der Regel eine Person pro Zimmer), als er in 95 Prozent der Familien üblich ist (nämlich 2 bis 8 Personen pro Zimmer)? Sprühen wir uns bei Einbruch der Dunkelheit selbstverständlich mit Malariamitteln ein oder machen wir das allenfalls dezent, weil ja die meisten Leute sich solches Sprühzeug nicht leisten können (obwohl es nicht wenige gerne täten – weil ja Malaria tatsächlich eine Geißel u.a. im Sahel ist)? Reden wir automatisch französisch oder englisch, oder fangen wir an, zumindest auf basaler Ebene afrikanische Sprachen zu lernen, die von der großen Mehrheit gesprochen werden, auch wenn das schnell zur Überforderung führen kann, weil mensch in Mali Bambara beherschen muss, im Niger Haussa und in Burkina Faso Mòoré – als den jeweils am häufigsten gesprochenen Sprachen in diesen Ländern (effektiv werden allein in Westafrika über 500 Sprachen gesprochen)?

Ihr dürftet schon bemerkt haben: Die Liste der Fragen ließe sich beliebig fortsetzen, es handelt sich nur um einige stellvertretende Beispiele, die uns Europäer*innen in der transnationalen Arbeit begegnen, so wie natürlich auch umgekehrt aus afrikanischer Sicht zahlreiche Beispiele angeführt werden könnten, was die Zusammenarbeit mit weißen Europäer*innen betrifft.

Kurze Randnotiz: Gerade fahren wir mal wieder in Schlagenlinien mitten über eine Sandpiste, einfach, weil die Strecke von Niamey nach Ouagadougou (in ihrem Status vergleichbar einer Bundesstraße) streckenweise völlig abgetragen ist. Oder anders: Das Straßenproblem existiert in Burkina Faso genauso wie in Niger – einer von vielen Gründen, weshalb es islamistischen Gruppen auch in Burkina Faso so leicht haben, berechtigte Kritik an umfassendem Staatsversagen mit islamistischer Ideologie aufzuladen.

Nach kurzem Aufenthalt sind wir mittlerweile in Bobo Dialasso im Westen von Burkina Faso gelandet. Dort müssen wir auf unseren Anschlussbuss Richtung Bamako warten, der um 5.30 Uhr fährt. Auch hier übernachten sicher 100 Leute, so wie eingangs schon beschrieben, wobei sich an den riesigen Gepäckhaufen gut erkennen lässt, dass sich unter den Reisenden zahlreiche Kleinhändler*innen befinden – nicht zuletzt Frauen (die Kleinhändler*innen kaufen zum Beispiel Stoffe im Land X ein, um sie im Land Y mit Gewinn zu verkaufen, wobei die Gewinnmargen derart gering sind, dass beim Zoll unweigerlich Falschangaben gemacht werden müssen).

Mit besten Grüßen,

Olaf

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24. Februar

Schön guten Tag,

eigentlich hatte ich ja meinem Bericht zu unserer Agadezreise bereits abgeschlossen. Gleichzeitig ist unsere Rückreise aus Niger erst mit unserer Ankunft in Bamako zu einem wirklichen Ende gekommen, weshalb ich heute noch einige Gedanken nachreichen möchte, unter anderem mit Blick auf gewisse Unterschiede zwischen den beiden Sahelländern Niger und Mali.

Doch zunächst zur Busreise: Vor allem in Mali ging die Fahrt ungleich schneller voran als in Burkina Faso – nicht nur, weil die Straßenverhältnisse besser waren, sondern auch, weil es kaum (zusätzliche) Polizeiposten gab. Im Gegenzug hatte das zur Konsequenz, dass die rasch vorbeiziehenden Dörfer immer stärker zur Kulisse mutierten, jedenfalls in meinen Augen. Konkreter: Wenn man mit einem städtischen und / oder europäisch geprägten Skript bzw. Koordinatensystem das ländliche Leben in Mali beobachtet (wie es sich aus der erhöhten Warte in einem Reisebus quasi automatisch ergibt), beschleichen einen immer wieder eigenartig anmutende Fremdheitsgefühle. Man sieht Bauern und Bäuerinnen, die langsam über ihre Felder laufen (nicht selten mit einer Hacke über der Schulter), die hockend im Hof Essen zubereiten oder unter einem strohbedeckten Unterstand dahindösen – alles ganz normale Handlungen, die aber gleichzeitig unendlich weit weg von dem zu sein scheinen, wie ein „normaler“ Lebensvollzug in Europa aussieht. Mehr noch: Das bäuerliche Leben erweckt den Eindruck, still zu stehen, und das, obwohl, genau betrachtet, das Gegenteil zutrifft: Zum einen, weil ja auch bäuerliche Gesellschaften im Sahelraum schon seit langem hochgradig mobile Anteile haben (nomadische Viehwirtschaft, Wanderfeldwirtschaft, Pendelmigration entlang der Jahreszeiten etc.), zum anderen, weil gerade im Süden Malis deutlich wird, dass sich auch in den ökonomisch armen Sahel-Gesellschaften die Dinge schrittweise verändern: So ist die Zahl kleiner Traktoren bemerkenswert hoch, was Ausdruck wie Ursache etwas höherer Einkommen bäuerlicher Haushalte in der Region Sikasso ist und was insofern auch mit dem Umstand korrespondiert, dass in vielen Dörfern (jedenfalls entlang der Hauptstrecken) die meisten Häuser nicht mehr strohbedeckt sind, sondern ein Wellblechdach haben, ein Umstand, der vor allem in der Regenzeit relevant ist, in der Strohdächer üblicherweise einem krassen Stresstest unterworfen sind.

Passend hierzu scheinen Internet, Mobiltelefon und besseren Verkehrsverhältnisse die bäuerlichen Welten (nicht nur in Mali) endgültig in Aufruhr versetzt zu haben, zumindest ist klar, dass junge Leute heute in ungleich höherer Zahl aus den Dörfern abwandern, jedenfalls außerhalb der Regenzeit. Zum einen, weil die Lebensperspektiven unverändert schwierig sind (u.a. was Gesundheitsversorgung, Ernährung, Kleidungsmöglichkeiten etc. betrifft), zum anderen, weil viele Jugendliche die relative Enge bäuerlicher Welten nicht mehr aushalten. So meinte ein von mir im Oktober 2018 interviewter Dorflehrer in Soukoutadala (einem Dorf in der Region Kita im Südwesten Malis), dass er früher an einer Überlandstraße gewohnt habe und daher relativ schnell die neusten Nachrichten erhalten und zudem stets Internetempfang gehabt habe. Genau diese Verbindung mit der Welt sei indes in Soukoutadala gekappt, weshalb er sich buchstäblich eingesperrt fühlte – eine Gestimmtheit, welche ich bestens nachempfinden konnte, als wir abends in seiner strohbedeckten, von einer Taschenlampe schwach erhellten Hütte saßen und das Interview führten. Entsprechend betonte gestern unser Freund Alassane Dicko (den viele von euch von Veranstaltungen in Deutschland und Österreich kennen dürften), dass nicht wenige Jugendliche selbst in Großstädten wie Bamako die elterliche Wohnung als traditionsgeprägtes Gefängnis empfinden würden. Und das mit der Konsequenz, dass die Fernmigration auch aus einem solchen Freiheitsimpuls heraus immer attraktiver würde, vor allem für all diejenigen (und das sind bekanntlich viele), die trotz absolvierter Ausbildung keine Arbeit finden würden (wohlgemerkt: die Migration ist „attraktiver“ geworden, nicht unbedingt „häufiger“, denn de facto verhält es sich weiterhin so, dass in Westafrika gerade mal 2 Prozent der Bevölkerung außerhalb (sic) ihres Geburtstlandes leben).

Stichwort Bamako: Die Ankunft kam einem kleinen Kulturschock gleich. Denn wie schon angedeutet weisen weder Niamey noch Ouagadougou (also die Hauptstäde der Nachbarländer Niger und Burkina Faso) nur entfernt jenen pulsierenden Großstadcharakter auf, den man häufig mit Millionenstädten im globalen Süden verbindet. Konkreter: Was vom ersten Moment an ins Auge fällt, sind die völlig überfüllten Straßen, in denen sich Autos, Lastwagen (diese nur abends und auf bestimmten Strecken), Busse, Sammeltaxis, Mopeds, dreirädrige Lastentaxis, Fahrradfahrer*innen, Karrenschieber, Eselsgefährte und Fußgänger*innen auf engstem Raum tummeln, nicht selten flankiert von unzähligen Verkaufsständen und Geschäften – letzteres vor allem entlang der großen Verkehrsachsen. Bemerkenswert dabei: Diejenigen, die an den Straßenrändern sitzen, palavern, spielen oder unterwegs sind, wirken in aller Regel völlig unbeeindruckt vom Straßenlärm, vom Staub, von den Abgasen und vom keineswegs ungefährlichen Straßenverkehr, manche scheinen seelenruhig im Gespräch vertieft oder schlummern vor sich hin, so als ob sie auf einer Bank an einer kleinen Dorfstraße sitzen würden. Nicht minder auffällig ist die große Zahl von Sammeltaxis, meistens verbeulte Mercedes-Transporter aus den 1990er oder frühen 2000er Jahren, ohne Fensterscheiben, in denen sich auf schmalen Holzsitzbänken bis zu 25 Fahrgäste drängen (offiziell zugelassen sind 20 Personen…). Denn die Szenerie wirkt, als ob halb Bamako ständig auf Achse wäre, was aber durch den Umstand widerlegt wird, dass die Wohnstraßen ebenfalls voll von Menschen sind, dort, wo vor den Häusern große und kleine Gruppen von Männern klönen oder mit ihren Smartphones beschäftigt sind – neben spielenden Kindern, hausarbeitenden Frauen und allerlei Passant*innen. Und doch: Die hohe Mobilität ist kein bloßen Gespinst. Mali gehört zu einer der mobilsten Gesellschaften in Westafrika, insofern ist der von den vielen Sammeltaxis ausgehende Eindruck permanenter Bewegung großer Menschenmassen nicht nur trügerisch.

Zur Verkehrsfrage noch zwei Anmerkungen: Der eben schon erwähnte Alassane Dicko berichtete auch, dass das Straßennetz in Mali vor allem in der Amtszeit von Amadou Amani Traoré (2002 bis 2012) stark ausgebaut worden sei, also unter jenem Präsidenten, der 2012 unter großem Beifall breiter Bevölkerungskreise aus dem Amt geputscht worden war (deshalb „unter großem Beifall“, weil ATT als Inbegriff der durch und durch korrupten malischen Fassadendemokratie galt – ungeachtet gewisser Erfolge wie unter anderem in der Vekehrsinfrastruktur). Konkret wusste Alassane zu berichten, dass das Straßennetz in Mali ungleich dichter und besser ausgebaut sei als in Guinea oder der Elfenbeinküste, auch wenn sich in Mali dieser für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes zentrale Faktor noch nicht so richtig bemerkbar gemacht habe.

Ebenfalls interessant ist das Design vieler Sammeltaxis und regionaler Busse: Die meisten sind angemalt, viele haben Sinnsprüche, am häufigsten den schlichten Satz „Gott ist groß“. Unter den Aufklebern auf der Frontscheibe sind neben religiösen und spirituellen Führern wie Ousmane Haidara insbesondere Thomas Sankara und Che Chevera beliebte Motive. Mein aktueller Hit in Sachen Slogans war indessen der auf der Heckfläche eines Busses angebrachte Spruch: „Die Schönheit eines Jungens ist seine Arbeit“ – ein sekundärtugendgetränkter Imperativ, der sich mit der Realität extrem beißt, da ja nicht zuletzt junge Männer hundertausendfach zur Untätigkeit verdammt sind (dies auch deshalb, weil die Haus- und Sorgearbeit fast nur von Frauen erledigt wird).

Wobei Letzteres nicht ganz fair formuliert ist, wie ich ausdrücklich hinzufügen möchte. Denn Bamako zeichnet sich auch dadurch aus, dass im gesamten Stadtgebiet zehntausende Kleinhändler*innen unterwegs sind, die all das verkaufen, was irgendwie getragen oder auf dem Kopf balanciert werden kann: Handys und Handyzubhör, Uhren, Putzbedarf, Schuhe, Hosen, Zigaretten, Kekse, Obst, Getränke, Spielsachen, Handtücher etc. Hinzu kommen Dienstleistungen, insbesondere das Putzen von Schuhen, Schneiderei-Tätigkeiten und natürlich alle Formen von Transportdienstleistungen. Dieser Kleinhandel, in dem in erster Linie junge Männer und in zweiter Linie junge Frauen sowie Kinder aktiv sind, ist vor allem deshalb verstörend, weil die Anstrengung der Arbeit in keinem Verhältnis zum kargen Einkommen steht: Die Leute sind in brütender Hitze 8, 10 oder 12 Stunden auf den Beinen, haben aber, wenn es gut (sic) läuft, am Ende des Tages gerade mal 1.500 bis 3.000 CFA verdient, also zwischen 2.20 und 4.40 Euro.

Ist man in Bamako angekommen, sticht des weiteren ins Auge (vor allem, wenn man es mit Niger vergleicht), dass Frauen in den beiden Ländern recht unterschiedlich gekleidet sind: In Niger tragen die allermeisten Frauen (auch schon kleine Mädchen) einen sogenannten Chimar, jenes Kopftuch, das über den Kopf geworfen wird und auch die Arme bedeckt, ein bisschen wie ein Regencape (https://www.dwds.de/wb/Chimar). Ganz anders in Mali, wo die meisten Frauen irgendeine Variante des „typisch“ afrikanischen Kopftuchs tragen, also jene Kopfbedeckung, die sich tatsächlich nur auf dem Kopf befindet und das Gesicht in Gänze frei lässt. Gleichzeitig gibt es auch in Mali alle anderen Formen von Kopftüchern (inklusive der in den letzten Jahren häufiger gewordenen Chimars) – genauso wie all jene Frauen, die gar kein Kopftuch tragen (was jedoch geschätzt allenfalls 10 Prozent der Frauen sein dürften, insbesondere jüngere Frauen und Mädchen).

Der Unterschied in Sachen Kopftuch lässt freilich keine Rückschlüsse auf die jeweilige Stärke des Islam bzw. genauer: die Stärke bestimmter islamischer Strömungen in den beiden Ländern zu. Wenn überhaupt geht es um Tendenzen. So gibt es derzeit in Mali eine Initiative muslimischer Verbände für die Einführung der Scharia – angeführt nicht zuletzt von dem Vorsitzenden des Hohen islamischen Rats Mahmoud Dicko, einem stockkonservativen Wahhabiten, der jedoch im Jahr 2012 die Besetzung des Nordens Mali durch radikale Islamisten (inklusive Einführung der Scharia) massiv kritisiert hat. Als Bezugspunkt für die aktuelle Debatte muss die LGBTI-Community herhalten, wobei in Mali eher von Homosexuellen die Rede ist. Dabei sind es vor allem drei Ereignisse gewesen, die für Aufsehen gesorgt haben: Zunächst sind die Organisator*innen eines interntionalen LGBTI-Kongresses von Jugendlichen eines Quartiers attackiert worden. Sodann hat die Regierung in Segou eine Tagung organisiert, bei der es um die Frage der Einführung homosexueller Partnerschaften ging. Schließlich wurden zwei Imame ermordet, einer von ihnen von einem Mann, den der Imam der Homosexualität geziehen hat. Kurzum: Der Diskurs lautet, dass Homosexuelle Hand in Hand mit Teilen der Regierung die Moral des Landes unterminieren würden und dass daher nicht nur die Scharia, sondern auch die Todesstrafe eingeführt werden müsste (unter anderem für Mord) – abgesehen davon, dass der Premierminister zurückzutreten habe, da er ja besagte Gesetzesinitiative zu homosexuellen Partnerschaften zu verantworten habe.

Dieser Versuch konservativer, zum Teil sunnitisch orientierter islamischer Verbände, (noch) mehr Einfluss in Mali zu gewinnen (und das in einem Land, wo lange der Suffi-Islam tonangebend war), ist mit Sicherheit keine gute Entwicklung. Gleichzeitig scheint all dies mit dem Umstand zu korrespondieren, dass die soziale Lage in Mali für große Teile der Bevölkerung derzeit schlechter zu werden droht. Ob sich das auch in statistischen Kennziffern niederschlägt, weiß ich nicht (abgesehen davon, dass es in (West-)Afrika vergleichsweise wenig aktuelle statistische Daten gibt). Aber Fakt ist, dass uns unsere Freund*innen sowohl aus Burkina Faso als auch aus Mali erzählen, dass derzeit viele Menschen weniger Geld in der Tasche hätten bzw. umgekehrt, dass eine allgemeine Teuerungsrate zu beobachten sei, ohne dass die Einkommen steigen würden. in diesem Rahmen gibt es auch das Phänomen, dass derzeit zu wenig Kleingeld im Umlauf ist – ablesbar unter anderem an so eigenartigen Dynamiken, dass mir der Kiosk-Besitzer neben unserem Haus bereits seit Tagen keine kleinen Münzen als Wechselgeld geben kann und wahlweise ich bei ihm oder er bei mir Schulden hat.

Schließlich: In Mali angekommen, ist das Alarmphone Sahara erst einmal in den Hintergrund getreten, stattdessen waren wir schnell von den Fragen, Problemen und Herausforderungen eingefangen, die die Arbeit von Afrique-Europe-Interact in Mali betreffen. Mehr diesbezüglich schreibe ich in den nächsten Wochen – wie und auf welche Weise muss ich noch gucken.

Schöne Grüße,

Olaf